Jan Potocki, die Handschrift von Saragossa, 22. Tag:

Potocki war Schriftsteller, Mathematiker und Altertumsforscher. In seinem berühmten Roman läßt er den Ewigen Juden auftreten und von seiner Geschichte erzählen. Daraus gebe ich einen Abschnitt wieder, die seinen Großvater aus Alexandria betrifft.

Nachdem Kleopatra des Antonius Frau geworden war, erkannte sie, daß sie, um sein Herz zu halten, eher die Rolle der Phryne (1) als der Artemis spielen mußte, oder einfacher ausgedrückt: diese Frau besaß eine eigentümliche Leichtigkeit, aus der Rolle einer zärtlichen, ja treuen Ehefrau in die einer Verführerin überzugehen. Sie wußte, daß Antonius sich leidenschaftlich den Liebeswonnen hingab, und sie versuchte deshalb, ihn mit unerschöpflichen Erfindungen der Verführungskunst an sich zu fesseln.

Bald begann der Hof das Königspaar nachzuahmen, die Stadt folgte dem Beispiel des Hofes, dann folgte das ganze Land der Stadt, so daß Ägypten in Kürze zur großen Bühne der Unzucht wurde. Diese Schamlosigkeit griff sogar auf einige jüdische Siedlungen über.

Mein Großvater wäre schon längst nach Jerusalem gezogen, wenn die Parther nicht eben diese Stadt erobert und den Herodes, des Antipas Enkel, den Marc Anton später zum König von Judäa bestimmte, verjagt hätten. Als mein Großvater gezwungen war, in Ägypten zu bleiben, wußte er nicht, wo er Zuflucht suchen sollte, denn der mit Gondeln bedeckte See Mareotis bot Tag und Nacht ein Schauspiel äußerster Verderbnis. Schließlich verlor er die Geduld, ließ die auf den See gehenden Fenster zumauern und schloß sich mit seiner Frau Melea und seinem Sohn Mardochai ein.
[...]

(Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa. Hrsg. v. Roger Caillois. 2 Bde. Frankfurt/Main 1980, S. 318 f.)

(1) eine bekannte Hetäre der Antike, für ihre Schlagfertigkeit berühmt