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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Es ist 25 Jahre her (762 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 21.07.2013 um 15:38 Uhr (Zitieren)
Schon seit 1987 rumorte es in der DDR unter den Jugendlichen. Damals fanden in kurzer Folge in Berlin vor dem Reichstag mehrere Rockkonzerte statt. Hinter der Mauer auf der Ostseite standen Tausende DDR-Jugendliche, um wenigstens zuhören zu können. Ihre Zahl nahm mit jedem Konzert zu, ihre Rufe wurden lauter: „Die Mauer muß weg!“ Volkspolizei und Staatssicherheit verhafteten, was ihnen unter die Finger kam.
Daraufhin hat man in der Staats- und Parteiführung umge-dacht, was dazu führte, daß in der DDR selbst Konzerte westlicher Rockmusiker organisiert wurden, u.a. mit James Brown, Bryan Adams und Joe Cocker.
Den Höhepunkt bildete am 19. Juli 1988 (also vor 25 Jahren) ein Auftritt von Bruce Springsteen in Berlin-Weißensee. Das hatte die DDR noch nicht gesehen: 300000 Jugendliche an einem Ort! 160000 Eintrittskarten waren von der FDJ unters Volk gebracht wurden; aber schließlich mußte man die Tore öffnen und einfach alle reinlassen. Viele hatten selbstgemachte US-Flaggen mitgebracht. Und als Springsteen sein „Badlands“ sang (ein Lied über ein beschissenes Land, in dem man lebt), sangen Hunderttausende mit!
Bruce Springsteen, der jetzt wieder in Berlin aufgetreten ist, erinnert sich noch heute an dieses eine Konzert in der DDR, damals, 1988. „Manchmal“, so sagte er, „spielst du eine Show, die für immer in dir bleiben wird, die mit dir lebt für den Rest deines Lebens. Ost-Berlin 1988 war ganz sicher eine davon.“
Die FDJ hatte es damals als Solidaritätskonzert für Nicaragua organisiert; aber Springsteen hat das verweigert, sodaß die Banner auf der Bühne wieder abgenommen werden mußten.

Welche andere Musik kann dem Freiheitswillen eines Volkes, speziell von Jugendlichen, einen derart starken und wirksamen Ausdruck verleihen?
Schon bei diesem Konzert gab es die Tendenz unter den Zuschauern, nach dem letzten Ton zum Brandenburger Tor zu marschieren: „Die Mauer muß weg!“

Es ist sicherlich übertrieben, doch ich habe das Gefühl, daß um ein Haar nicht die Leipziger 1989 die DDR gekippt hätten, sondern Bruce Springsteen schon 1988 mit seinem Lied „Badlands“.
Talk about a dream,
try to make it real
You wake up in the night,
with a fear so real,
Spend your life waiting,
for a moment that just don’t come,
Well, don’t waste your time waiting.

Badlands, you gotta live it everyday,
Let the broken hearts stand
As the price you’ve gotta pay,
We’ll keep pushin’ till it’s understood,
and these badlands start treating us good.

Wir machen weiter Druck, bis ihr's kapiert
Und dieses Scheißland uns besser traktiert.

Zur Erinnerung.
(Die inhaltlichen Details verdanke ich einem Artikel in der heutigen FAS.)

Um einen Bezug zu diesem Forum herzustellen: Gab es auch in der Antike schon Musik, welche die Massen politisch bewegt hat? Etwas, mit dem man eine Volksversammlung zum Kochen bringen konnte?
Re: Es ist 25 Jahre her
ανδρέας schrieb am 22.07.2013 um 11:02 Uhr (Zitieren)
Die Musik war in der Antike wohl stark in Kulthandlungen und rituelle Handlungen eingebunden. Man denke an Dionysos und die entsprechenden Lustbarkeiten (da waren die Massen sicher auch in Bewegung). Ohne die heutigen Verbreitungsmöglichkeiten (Radio, Fernsehen, Platten, DVD) hatte man mit Musik aber vermutlich kaum die Möglichkeit, auf die Politik Einfluss zu nehmen.
Re: Es ist 25 Jahre her
Γραικίσκος schrieb am 22.07.2013 um 13:13 Uhr (Zitieren)
Das hätte ja dann eigentlich auch für die Rede gelten müssen, deren unmittelbarer Wirkungsbereich nicht größer ist als derjenige der Musik. Zwar kann man Reden auf- und abschreiben und dadurch verbreiten, doch ich meine, daß in der Antike Reden auch unmittelbar gewirkt haben.
Ich habe den Eindruck, daß man einen bestimmten Effekt der Musik einfach noch nicht entdeckt hatte, bin mir da jedoch sehr unsicher. Militärische Musik, Musik um Soldaten in Bewegung zu setzen, gab es ja schon; Musik um zivile Massen in Ekstase zu versetzen, auch. Aber nicht die Kombination von Musik, Bürgermasse und politischer Motivation.
Oder?
Re: Es ist 25 Jahre her
arbiter schrieb am 22.07.2013 um 16:28 Uhr (Zitieren)
ein interessantes Thema, könnte für eine Magisterarbeit reichen.
Politische Lieder gibt es schon lange, man denke an die Spottverse über Cäsar, und sicher musste man nicht auf die Lieder der Frz. Revolution warten, um in dieser Richtung Neues zu hören.
Was die Wirkung angeht: Ich meine, in den Massen muss schon das Gefühl latent vorhanden sein, es müsse sich etwas bewegen, und deshalb müssten sie selbst sich in Bewegung setzen; Musik also als eine Art Durchlauferhitzer.
Zu bedenken wäre auch, dass heute natürlich die Verbreitungsmöglichkeiten ganz anders sind als in früheren Zeiten, dass aber gerade dadurch - durch die ständige Verfügbarkeit - das Wirkungspotential eher abnimmt.
Re: Es ist 25 Jahre her
διψαλέος schrieb am 23.07.2013 um 08:01 Uhr (Zitieren)
Die Senilen in den Zentralkomiteen der diversen KPs der ehemaligen "sozialistischen" Staaten
haben nichts verstanden.

Die Musik, gegen sie gegeifert haben, ist doch eben aus der Quelle entsprungen,
deren Schöpfer sie vorgeblich vertreten haben:
Sklaven, Arbeiter, Unterdrückte, Ausgebeutete.
Blues, Jazz, Rock'n'roll, Mersey-Beat, Soul, Funk, etc..

(nun gut,
daß sich die kapitalistische Unterhaltungsindustrie sich
dieses Potential bediente und bedient, ist eine andere Geschichte)

Mick Jagger wird demnächst, in wenigen Tagen, 70 Jahre alt...

Und ich musste mir schon wieder eine neue Brille leisten...

Re: Es ist 25 Jahre her
Φιλομαθής schrieb am 23.07.2013 um 08:28 Uhr (Zitieren)
Im Übrigen ist es David Hasselhoff gewesen, der die Mauer umgeworfen hat. (Weiß doch jedes Kind!)
Re: Es ist 25 Jahre her
filix schrieb am 23.07.2013 um 13:47 Uhr (Zitieren)
Das hat das ZK sehr wohl verstanden - es präsentierte Springsteen auch als "Arbeitersänger", setzte darin aber - in heute tragikomisch anmutender Weise - auf die falsche Karte.
Es unterschätzte (mehr als es zu ignorieren), dass die Popmusik zunächst ein Ereignis sui generis darstellt und ein Lebensgefühl produziert, das sich nicht an die primären Textinhalte binden lässt und den eigenen Ursprüngen erschöpft, ebenso wenig wie es notwendigerweise in seiner kommerziellen Variante als Massenphänomen in der Rolle als Sedativ aufgeht.
Denn das war doch die zweite Hoffnung, entwickelt als Lehre aus den Vorgängen 1987 um David Bowie & Co jenseits der Mauer: entzöge man dem Begehrten den Eros der Vorenthaltenen, ließe es ausgewählt zu, so verflüchtigte sich sein Reiz und Ruhe kehrte ein.

Der paradoxe Vorgang spiegelt sich auch in der, an Kennedy anschließend, in gebrochenem Deutsch gehaltenen Kurzansprache an die Ostberliner http://www.youtube.com/watch?v=WBIcfPBVxxQ : Rock 'n' Roll will sich als eine Zone der politischen Indifferenz etablieren, gerade in diesem Verzicht auf die eindeutige Botschaft gründet aber ihre Überlegenheit gegenüber direkter Propaganda. Sie gehört daher meiner Ansicht nach auch nicht in eine Reihe mit Spottgedichten auf Cäsar, die Marseillaise oder das Horst-Wessel-Lied. Es handelt sich hier um einen anderen Politisierungstypus von Musik. Und genau dafür fehlt jede historische Parallele in der Antike.

Pointiert gesagt: Marxistische Dialektik dieser Prägung hatte ihre Grenze daran, den Prozess zu begreifen, der dreihunderttausend Menschen, die "Born in the U.S.A" (das in der DDR erhältlich war) im Chor mitsingen, als Kollektiv zu virtuellen Bürgern einer Republik der Gefühle der Enttäuschung macht, die sich keinen Deut darum scheren, dass es darin um einen desillusionierten Vietnamkriegsveteranen geht, ohne dass das Begehren im scheinbar allein Begehrten bei dessen Erfüllung - dem Konzert diesseits der Mauer - sich erschöpfte und verpuffte.
 
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