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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Das Land der Griechen mit der 1900er-Seele suchen (834 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 22.02.2015 um 15:34 Uhr (Zitieren)
Oh, das Altertum ist der Neuzeit schon lange verdächtig. Wollen mal sehen, was herauskommt, wenn man das Land der Griechen mit der Dreckseele sucht. Das geht nicht mehr so weiter mit den Griechen. Zuerst haben wir sie hysterisch gemacht, da waren sie immer noch schöner als wir. Jetzt wollen wir Christen und Juden aus ihnen machen.

(Karl Kraus: PRO DOMO ET MUNDO)
Re: Das Land der Griechen mit der 1900er-Seele suchen
Φιλομαθής schrieb am 23.02.2015 um 11:25 Uhr (Zitieren)
Dieser als Aphorismus recycelte Textsplitter wird verständlicher, wenn man ihn eingebettet in die ihn tragende Erregung samt deren Anlass aufnimmt.


Ein Unhold

»Eine Ehrenrettung Sapphos. In der französischen Akademie der Wissenschaften hat Salomon Reinach die vielgelästerte antike Dichterin Sappho rehabilitiert. Besonders ihrer ‚Schule der Dichterinnen‘ wurde bisher viel Übles nachgesagt. Nach Reinach war diese Schule nichts als ein Mädchenpensionat für die höheren Töchter von Lesbos. Sappho selbst verkehrte nur in den besten Bürgerfamilien, und ihre ganze Verwandtschaft protzte geradezu mit Philistrosität. Einer der Brüder war Weinhändler, ein witziger Bonvivant, wie es heute noch viele unter den Weinhändlern gibt. Er verdiente viel Geld, das er gewissenhaft mit einem Fräulein Rhodopis wieder um die Ecke brachte. Sappho war aigriert und hielt dem Bruder eine Moralpredigt in dem berühmten, nach ihr getauften Versmaß.«

Ich bin nicht gesonnen, Mitmensch des Herrn Salomon Reinach zu sein. Wie komme ich denn dazu? Wenn das nicht anders wird, stelle ich die Alternative, wer länger leben soll, ich oder die Historiker, und wenn die Antwort zu meinen Gunsten ausfällt, organisiere ich eine Kulturschutztruppe, die mit Knüppeln losgeht. Die paar Lichtpunkte, die die Menschheit hat, wenn sie sich an ihr Altertum erinnert, werden uns jetzt auch noch ausgetreten! Nicht nur, daß wir in einem Kellerloch hausen müssen, nein, es soll auch ehedem nicht ohne Ungeziefer abgegangen sein. Sappho war Gottbehüte keine Lesbierin, sondern eine Pensionatsinhaberin, sie verkehrte in den besten Bürgerfamilien und zur Beruhigung der Zeitgenossen, denen die Verhältnisse von Lesbos schon längst nicht gepaßt haben, wird versichert, daß die ganze Verwandtschaft mit Philistrosität geradezu geprotzt habe. Die Auskunft ist glänzend. Einer der Brüder – der das Verhältnis gehabt hat, Gott ja, wenn schon – nimmt man ’nem jungen Menschen nich übel, wer arbeitet, soll sich auch amüsieren – war Weinreisender für ein erstes Haus, später hat er sich selbständig gemacht ... Man denke, Sapphos leiblicher Bruder! Man wird also von jetzt an in der anständigsten Gesellschaft ruhig von lesbischer Liebe reden können. Herr Salomon Reinach ist vorläufig nur Historiker, aber zu seiner Rehabilitierung wird sich vielleicht auch einmal herausstellen, daß er Weinreisender war. Jedenfalls ist er immer mit der Wahrheit auf dem Marsche, und auch er hat, wie man weiß, eine feine Verwandtschaft. Lauter Leute in guten Berufen, befassen sich, je nachdem, mit der Unschuld des Dreyfus oder mit der Unschuld der Sappho. Der Historiker ist besonders tüchtig. Er kann einem das ganze Altertum verekeln. Und es ist höchste Zeit; denn das Altertum ist der Neuzeit schon lange verdächtig. Wollen mal sehen, was herauskommt, wenn man das Land der Griechen mit der Dreckseele sucht. Das geht nicht mehr so weiter mit den Griechen. Zuerst haben wir sie hysterisch gemacht, da waren sie noch immer schöner als wir. Jetzt wollen wir Christen und Juden aus ihnen machen. Die Häßlichkeit der sogenannten Jetztzeit hat rückwirkende Kraft. Seien wir auf beruhigende Mitteilungen über Sokrates gefaßt! War ’n rechtschaffener Oberlehrer, Inhaber einer Knabenschule. Bauen wir nicht auf die unumstößliche Schönheit der Phryne! Es wird sich herausstellen, daß sie, als die Hülle fiel, die Richter durch ihre Säbelbeine eingeschüchtert hat, während ihre Ähnlichkeit mit der Nase des Herrn Salomon Reinach schon vorher nicht zu verkennen war. Nun, ein witziger Bonvivant, wie es heute noch viele unter den Weinhändlern gibt, ist Herr Reinach auch. Man muß die Ergebnisse seiner Wissenschaft nicht zu ernst nehmen. Schön. Aber daß sich die Rache der Parias an den Träumen der Menschheit vergreifen darf, daß Gedicht und Sage dem elenden Bedürfnis der Historik und Psychologie verfallen, Religion und alle heilige Gewesenheit der Spucknapf sind für den intellektuellen Auswurf – das ist es, was dieses Leben erst unerträglich macht, wenn es über alle Hindernisse der Zeit gesiegt hat! Diese Forschernasen beschmutzen die Kunst, diese ungewaschenen Vollbärte, die uns heute Kleist erklären und morgen die Sappho läutern, stechen die Scham der Menschheit. Fort mit ihnen! Weg mit dem, was heute Manneszier trägt. Lasset uns eine Akademie der Wissenschaft, die anstatt Holz zu hacken, der Ehrenrettung Sapphos gelauscht hat, rasieren oder kastrieren! Daß mir dieser Salomon Reinach in seinem jetzigen Zustand nicht mehr unter die Augen trete!

[Die Fackel Nr. 338 vom 6. Dezember 1911, S. 14/15]
Re: Das Land der Griechen mit der 1900er-Seele suchen
Γραικίσκος schrieb am 23.02.2015 um 21:20 Uhr (Zitieren)
Das macht auch die Anspielung auf Juden am Ende des (recycelten) Aphorismus klar; ich hatte in Richtung Freud gedacht.
 
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