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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Sehen und gesehen werden (1048 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 10:27 Uhr (Zitieren)
Während im augusteischen Rom das Theater als einer der Orte galt, an dem man Frauen kennenlernen konnte, da sie, wie Ovid schreibt, spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae, hätte im klassischen Athen eine Frau in der Öffentlichkeit für Aufsehen im negativen Sinne gesorgt. Wollte eine Frau das Haus verlassen, musste sie sich als ihr eigener Mann verkleiden. Eine Anekdote aus dem Hause Sokrates:

Τῇ Ξανθίππῃ δὲ ὁ Σωκράτης, ἐπεὶ οὐκ ἠβούλετο τὸ ἐκείνου ἱμάτιον ἐνδύσασθαι καὶ οὕτως ἐπὶ τὴν θέαν τῆς πομπῆς βαδίζειν, ἔφη· «ὁρᾷς, ὡς οὐ θεωρήσουσα θεωρησομένη δὲ μᾶλλον βαδίζεις;» [Ael. var. hist. 7, 10]

"Zu seiner Xanthippe sagte Sokrates, als diese sein Gewand nicht anlegen und einfach so hinausgehen wollte, um den Festzug anzuschauen: 'Siehst du eigentlich, dass du nicht, um zu sehen, sondern vielmehr, um gesehen zu werden, hinausgehst?'"
Re: Sehen und gesehen werden
Hylebates schrieb am 09.04.2016 um 10:29 Uhr (Zitieren)
Zitat von Φιλομαθής am 9.4.16, 10:27οὐ θεωρήσουσα θεωρησομένη δὲ μᾶλλον

Phantastisch!
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 10:55 Uhr (Zitieren)
Mit weniger Wörtern geht's nicht.

Mark Aurel notiert (11, 28), dass Sokrates einst nur mit einem Schaffell umgürtet vor seine Schüler hatte treten müssen, weil Xanthippe sich wieder einmal sein Himation ausgeliehen hatte (offenbar besaß er nur eines). Er vermerkt auch, dass Sokrates daraufhin etwas Geistreiches gesagt habe. Was es war, teilt er nicht mit. Leider!
Re: Sehen und gesehen werden
Βοηθὸς Ἕλληνικός schrieb am 09.04.2016 um 11:04 Uhr (Zitieren)
ὡς οὐ θεωρήσουσα θεωρησομένη δὲ μᾶλλον βαδίζεις;

Insgesamt schöne Stelle! Mich fasziniert immer wieder, trotz langjähriger Beschäftigung mit Altgriechisch, wie diese Sprache Partizipien benutzt. Griechisch, die Sprache der Partizipien..;-)
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 11:25 Uhr (Zitieren)
Ich frage mich allerdings, wie die Täuschung funktioniert haben soll. Ein griechisches Himation ist ja keine spanische Capa. Man sieht sieht doch, ob der Träger Männlein oder Weiblein ist, oder?
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 12:01 Uhr (Zitieren)
Zwei Ansätze zu einem Versuch, das Funktionieren der Täuschung zu verstehen:

1. Wir saßen kürzlich in einem Straßencafé (in Basel) und sahen einen Transvestiten vorbeischlendern. Obgleich er nach allen Regeln der Kunst zurechtgemacht war, gab es kaum einen Zweifel daran, daß es sich um einen Mann handelte. Aber wir saßen halt auch da und schauten die Leute an. Bei einem Festzug ist man auf anderes konzentriert.

2. Im Iran existeiren für Frauen in der Öffentlichkeit strenge Bekleidungsvorschriften. Viele Iranerinnen, vor allem in Teheran, halten sich nur sehr lässig an diese Vorschriften. Da müssen sie dann aufpassen, daß sie nicht der Religionspolizei unter die Augen kommen, während die meisten Passanten das einfach ignorieren. Gab es denn in Athen ein Äquivalent zu dieser Religionspolizei, oder gab es nur Bürger, von denen die meisten sich nicht groß dafür interessierten?

So oder so - ob Verkleidung funktioniert, hängt von Bedingungen in der Umgebung ab.
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 12:01 Uhr (Zitieren)
existeiren --> existieren
Re: Sehen und gesehen werden
filix schrieb am 09.04.2016 um 13:48 Uhr (Zitieren)
Ist die Interpretation, dass durch die Bekleidung die Geschlechtsidentität verschleiert werden soll, überhaupt zwingend? Versteht man unter πομπή einen religiösen Festzug, eine Prozession, wäre dies eine der wenigen Gelegenheiten, wo Frauen im öffentlichen Raum nicht bloß zugelassen wurden, sondern auch aktiv werden konnten.
Cf. https://en.wikipedia.org/wiki/Women_in_Classical_Athens - Abschnitt Religion
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 14:12 Uhr (Zitieren)
Warum sonst hätte Xanthippe sich das Gewand ihres Gatten borgen sollen?
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 19:23 Uhr (Zitieren)
Wenn man Jacob Burckhardt folgt, aus Mangel an einem eigenen Umhang. Anscheinend habe ich die Anekdote gründlich missverstanden.
Dagegen in der perikleischen Zeit vereinfachte sich die Tracht, ein Wunder, welches wohl großenteils der allgemeine Neid zustande gebracht haben wird, indem man der hohen finanziellen Zumutungen wegen etwas behutsamer wurde, daneben gewiß aber auch das Bewußtsein, daß der schöne Mensch in der einfachen Tracht schöner sei, und daß man sich darin bequemer bewege. Daß eine große tatsächliche Gleichheit herrschte, und daß das Aussehen bei Arm und Reich, Mann und Frau davon abhing, ob man gut gewachsen war und sich gut bewegte, lassen verschiedene direkte Aussagen erraten. Wir erfahren z. B., daß man ein Oberkleid, wenn man kein eigenes hatte, beim Walker um einen halben Obol auf den Tag entlehnen konnte, und daß, wenn man sparen wollte, Mann und Frau das gleiche tragen durften119.

119 Athen. V, 62. - Xanthippe freilich weigerte sich nach Älian V. H. VII, 10, zur Schau einer Prozession das Himation des Sokrates anzuziehen, worauf Sokrates sagte: »Du gehst eben nicht aus, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden.« Noch Phokions Frau aber trug (ebenda 9) Phokions Himation und bedurfte keines weitern Putzes (der doch sonst damals schon bei minder tugendberühmten Leuten Sitte war und im Detail aufgezählt wird).

Griechische Kulturgeschichte, Vierter Band, IV. Abschn. (= Ges. Werke, Bln. [Rütten u. Loening] o. J., Bd. 8, S. 197 f.)
Re: Sehen und gesehen werden
filix schrieb am 09.04.2016 um 19:36 Uhr (Zitieren)
Eine andere Interpretation: Das ἱμάτιον war ja ein von Männern und Frauen gleichermaßen getragenes Kleidungsstück, als solches also kaum so stark geschlechtsspezifisch codiert wie z.B. in unserer Bekleidungskultur ein Rock. Wohl aber unterschied sich der Gebrauch, die Art, sich damit zu gewanden - es könnte folglich darum gehen, dass Xanthippe nicht darauf verzichtet, sich als Mann zu verkleiden, wohl aber auf ein Stück Stoff, das auf eine bestimmte Weise getragen aus der Frau in der Öffentlichkeit eine schickliche Frau macht. Vgl. dazu eine Stelle aus Plutarchs Coniugalia Praecepta 142c, die von einem Verhüllungsgebot im weiteren Sinn spricht:

"Ἡ Θεανὼ παρέφηνε τὴν χεῖρα περιβαλλομένη τὸ ἱμάτιον. εἰπόντος δέ τινος2 “καλὸς ὁ πῆχυς,” “ἀλλ᾿ οὐ δημόσιος,” ἔφη. δεῖ δὲ μὴ μόνον Dτὸν πῆχυν ἀλλὰ μηδὲ τὸν λόγον δημόσιον εἶναι τῆς σώφρονος, καὶ τὴν φωνὴν ὡς ἀπογύμνωσιν αἰδεῖσθαι καὶ φυλάττεσθαι πρὸς τοὺς ἐκτός· ἐνορᾶται γὰρ αὐτῇ καὶ πάθος καὶ ἦθος καὶ διάθεσις λαλούσης."

"Theano,in putting her cloak about her exposed her arm. Somebody exclaimed, “A lovely arm.” “But not for the public,” said she. Not only the arm of the virtuous woman, but her speech as well, ought to be not for the public, and she ought to be modest and guarded about saying anything n the hearing of outsiders, since it is an exposure of herself; for in her talk can be seen her feelings, character, and disposition. - Übersetzer: Frank Cole Babbitt. Loeb Classical Library 222. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1928."

Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 21:04 Uhr (Zitieren)
Demnach wollte Xanthippe sich über dieses Verhüllungsgebot wohl deshalb hinwegsetzen, weil Sokrates' Mantel allzu unkleidsam war.
 
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