Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 10:27 Uhr (Zitieren)
Während im augusteischen Rom das Theater als einer der Orte galt, an dem man Frauen kennenlernen konnte, da sie, wie Ovid schreibt, spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae, hätte im klassischen Athen eine Frau in der Öffentlichkeit für Aufsehen im negativen Sinne gesorgt. Wollte eine Frau das Haus verlassen, musste sie sich als ihr eigener Mann verkleiden. Eine Anekdote aus dem Hause Sokrates:
"Zu seiner Xanthippe sagte Sokrates, als diese sein Gewand nicht anlegen und einfach so hinausgehen wollte, um den Festzug anzuschauen: 'Siehst du eigentlich, dass du nicht, um zu sehen, sondern vielmehr, um gesehen zu werden, hinausgehst?'"
Re: Sehen und gesehen werden
Hylebates schrieb am 09.04.2016 um 10:29 Uhr (Zitieren)
Phantastisch!
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 10:55 Uhr (Zitieren)
Mit weniger Wörtern geht's nicht.
Mark Aurel notiert (11, 28), dass Sokrates einst nur mit einem Schaffell umgürtet vor seine Schüler hatte treten müssen, weil Xanthippe sich wieder einmal sein Himation ausgeliehen hatte (offenbar besaß er nur eines). Er vermerkt auch, dass Sokrates daraufhin etwas Geistreiches gesagt habe. Was es war, teilt er nicht mit. Leider!
Re: Sehen und gesehen werden
Βοηθὸς Ἕλληνικός schrieb am 09.04.2016 um 11:04 Uhr (Zitieren)
Insgesamt schöne Stelle! Mich fasziniert immer wieder, trotz langjähriger Beschäftigung mit Altgriechisch, wie diese Sprache Partizipien benutzt. Griechisch, die Sprache der Partizipien..;-)
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 11:25 Uhr (Zitieren)
Ich frage mich allerdings, wie die Täuschung funktioniert haben soll. Ein griechisches Himation ist ja keine spanische Capa. Man sieht sieht doch, ob der Träger Männlein oder Weiblein ist, oder?
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 12:01 Uhr (Zitieren)
Zwei Ansätze zu einem Versuch, das Funktionieren der Täuschung zu verstehen:
1. Wir saßen kürzlich in einem Straßencafé (in Basel) und sahen einen Transvestiten vorbeischlendern. Obgleich er nach allen Regeln der Kunst zurechtgemacht war, gab es kaum einen Zweifel daran, daß es sich um einen Mann handelte. Aber wir saßen halt auch da und schauten die Leute an. Bei einem Festzug ist man auf anderes konzentriert.
2. Im Iran existeiren für Frauen in der Öffentlichkeit strenge Bekleidungsvorschriften. Viele Iranerinnen, vor allem in Teheran, halten sich nur sehr lässig an diese Vorschriften. Da müssen sie dann aufpassen, daß sie nicht der Religionspolizei unter die Augen kommen, während die meisten Passanten das einfach ignorieren. Gab es denn in Athen ein Äquivalent zu dieser Religionspolizei, oder gab es nur Bürger, von denen die meisten sich nicht groß dafür interessierten?
So oder so - ob Verkleidung funktioniert, hängt von Bedingungen in der Umgebung ab.
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 12:01 Uhr (Zitieren)
existeiren --> existieren
Re: Sehen und gesehen werden
filix schrieb am 09.04.2016 um 13:48 Uhr (Zitieren)
Ist die Interpretation, dass durch die Bekleidung die Geschlechtsidentität verschleiert werden soll, überhaupt zwingend? Versteht man unter πομπή einen religiösen Festzug, eine Prozession, wäre dies eine der wenigen Gelegenheiten, wo Frauen im öffentlichen Raum nicht bloß zugelassen wurden, sondern auch aktiv werden konnten.
Cf. https://en.wikipedia.org/wiki/Women_in_Classical_Athens - Abschnitt Religion
Re: Sehen und gesehen werden
Γραικίσκος schrieb am 09.04.2016 um 14:12 Uhr (Zitieren)
Warum sonst hätte Xanthippe sich das Gewand ihres Gatten borgen sollen?
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 19:23 Uhr (Zitieren)
Wenn man Jacob Burckhardt folgt, aus Mangel an einem eigenen Umhang. Anscheinend habe ich die Anekdote gründlich missverstanden.
Re: Sehen und gesehen werden
filix schrieb am 09.04.2016 um 19:36 Uhr (Zitieren)
Eine andere Interpretation: Das ἱμάτιον war ja ein von Männern und Frauen gleichermaßen getragenes Kleidungsstück, als solches also kaum so stark geschlechtsspezifisch codiert wie z.B. in unserer Bekleidungskultur ein Rock. Wohl aber unterschied sich der Gebrauch, die Art, sich damit zu gewanden - es könnte folglich darum gehen, dass Xanthippe nicht darauf verzichtet, sich als Mann zu verkleiden, wohl aber auf ein Stück Stoff, das auf eine bestimmte Weise getragen aus der Frau in der Öffentlichkeit eine schickliche Frau macht. Vgl. dazu eine Stelle aus Plutarchs Coniugalia Praecepta 142c, die von einem Verhüllungsgebot im weiteren Sinn spricht:
Re: Sehen und gesehen werden
Φιλομαθής schrieb am 09.04.2016 um 21:04 Uhr (Zitieren)
Demnach wollte Xanthippe sich über dieses Verhüllungsgebot wohl deshalb hinwegsetzen, weil Sokrates' Mantel allzu unkleidsam war.