Die Liebe zu Athen, dem einst vielgerühmten, | hat dies verfasst, Schattenbilder besingend | und der Sehnsucht Glut ein wenig lindernd: | denn es war nicht mehr möglich, irgendwo, ach!, zu schauen | ebenjene vielbesungene Polis,
die, nachdem ein unermesslicher und langwährender Zeitraum | sie unter Steinen, in der Tiefe verborgen hat, verschwunden ist. | Ich dulde geradezu die Qualen der Verliebten, | die, da sie den wirklichen Anblick der Ersehnten | leibhaftig zu schauen nicht fähig sind,
indem sie deren Bildnis betrachten, wie zum Schein | die Flamme der Liebe mildern. | Wie unglücklich bin ich! ein neuer Ixion!, | da ich Athen liebe wie jener die Hera | und der doch nur das Trugbild der Beglückten umarmte.
Ach! dass ich solches dulden, reden und schreiben muss! | Obgleich ich in Athen lebe, erblicke ich nirgends Athen, traurigen Staub indes und hohle Seligkeit. | Wo aber ist deine Würde, du furchtbar leidgeprüfte Polis? | Wie gänzlich verschwunden alles und Mythen gleichend:
Rechtsprechung, Richter, Rednertribünen, Urteile, Gesetze, | und die Staatsreden, die Überzeugungskraft der Redner, | Ratsversammlungen, Feste und die Kriegskünste | der Kämpfer zu Lande und ebenso der Kämpfer zur See, | die vielgestaltige Muse und die Macht der Worte.
Zerstoben ist der gesamte Ruhm Athens, | nicht einmal die leiseste Spur von ihm wird man erkennen. | Verzeihlich also, wenn ich denn, da ich nicht fähig bin, zu erblicken | die vielbesungene Polis von Athen, | ihr Bild in Worten errichtet habe.
[Text nach Migne, Patrologia Graeca 140, Sp. 383 f.]
Re: Hin ist hin
Φιλομαθής schrieb am 27.05.2016 um 15:21 Uhr (Zitieren)
Mag auch das Bewusstsein, in einer Nachkultur zu leben, genuiner Bestandteil byzantinischer Mentalität gewesen sein, so geben doch Michaels Verse ein ungewöhnlich deutliches Zeugnis vom Überdruss an der eigenen Gegenwart und von romantischer Sehnsucht nach der Vergangenheit.
Mit Zitierung des von Pindar auf Athen gemünzten Epithetons ἀοίδιμος schlägt Michael einen Bogen zurück in das Athen der Klassik. Es fällt auf, dass er dessen Funktionsträger aus dem juristisch-administrativen Bereich in aller Ausführlichkeit aufzählt, während die Leistungen, an die wir zuerst denken, wenn vom antiken Athen die Rede ist, – also Architektur, Plastik, Theater, Philosophenschulen – nur summarisch unter der παντοδαπὴς Μοῦσα gefasst werden. Anscheinend wurde das Defizit der eigenen Zeit stärker auf der politischen als auf der kulturellen Ebene empfunden. Bemerkenswert auch, dass Michael seiner Zeit eine verglichen mit der heidnischen Antike κενὴ μακαρία bescheinigt. Immerhin war er doch seit 1182 Erzbischof (Metropolit) von Athen.
1204 entschwand Athen endgültig seinen Blicken: nach der Eroberung durch die Kreuzfahrer musste er nach Keos emigrieren.
Re: Hin ist hin
Γραικίσκος schrieb am 27.05.2016 um 15:31 Uhr (Zitieren)
Die Redner tauchen in seinem Lob ja gleich mehrfach auf. Anscheinend bewundert er auch die demokratische Tradition (Βουλαὶ).
Ich nehme an, daß seine Akzentuierungen persönlichem, nicht zeittypischem Geschmack geschuldet sind.
Re: Hin ist hin
Φιλομαθής schrieb am 27.05.2016 um 15:56 Uhr (Zitieren)
Das ist anzunehmen. Hans-Georg Beck erwähnt in Das byzantinische Jahrtausend (²1994, S. 51) ein Schreiben des Michael Choniates, in dem dieser den Euboiern empfiehlt, ihre Angelegenheiten eigenständig per Volksversammlung zu regeln. Ich denke auch, dass das Wort Polis in dem Gedicht im Kern in seiner politischer Dimension zu verstehen ist, also als dem monarchistischen Zentralstaat gegenüberstehendes Prinzip.