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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Küchengriechisch (936 Aufrufe)
Μαλλιαρός schrieb am 25.06.2017 um 20:47 Uhr (Zitieren)
Eine heiter-experimentelle "Wiederbelebung" des Altgriechischen fand ich auf der Blogseite eines spanischen Philhellenen, der uns mit einem Kochrezept erfreut. Ungefragtes Kopieren von Inhalten fremder Webseiten behagt mir normalerweise nicht, aber hier mache ich des Unterhaltungs- und Lehrwerts wegen eine Ausnahme:

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Τὸ Τζατζίκιον
ἐν τῇ ἀρχαίᾳ ἑλληνικῇ γλώσσῃ

Τοῖς τέταρσιν ἀνθρώποις
δύο ποτήρια τοῦ πηκτογάλακτος
τρία σκόρδα
ἕν ἀγγούριον
ἔλαιον
ὄξος
ἅλς

Ψιλοῦμεν μὲν τὰ σκόρδα καὶ τὸ ἀγγούριον, τρίβομεν δὲ πρῶτον τὰ σκόρδα καὶ δεύτερον τὸ ἀγγούριον, ὃ τὸ ὕδωρ ἀφαιροῦμεν. Μετὰ ταῦτα βάλλομεν τὰ σκόρδα καὶ τὸ ἀγγούριον τριμμένα ἐν τῷ πηκτογάλακτι. Βάλλομεν καὶ ὀλίγον τοῦ ἐλαίου τε καὶ ὄξεος καὶ ἁλός. Τὰ τελευταῖα, εὖ ταράσσομεν πάντα. Αὐτὸ ψυχεινόν ἐδόμεθα.

Καλὴ ὑμᾶς ὄρεξις! (zweifelhaft - siehe Erläuterung unten)

Quelle: https://ithaka.blogia.com/2006/061401-una-receta-de-cocina-932-959-932-950-945-964-950-943-954-9.php, ein paar Akzentfehler wurden von mir korrigiert, wer weitere Fehler findet oder stilkritische Bemerkungen anbringen kann, möge sie nennen. Zur Übersetzung von "Guten Appetit!" siehe unten.

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Der Witz in diesem Versuch, ein beliebtes Standardrezept der heutigen griechischen Küche (türkischen Ursprungs) auf Altgriechisch zu formulieren, liegt natürlich darin, dass τζατζίκι keine antike Speise und kein griechisches Wort ist, es kommt vom türkischen "cacık", die "Rückübertragung" ins Altgriechische erfolgt durch Anhängen der (im Neugriechischen verschwundenen) Endung -ον, was allerdings irgendwie komisch klingt. Für Joghurt (neugriechisch γιαούρτι, auch dieses Wort ist türkischen Ursprungs) schreibt der Verfasser πηκτογάλα - es könnte sein, dass das im 19. und 20. Jahrhundert in der Lehnwörter strikt meidenden neugriechischen "Reinsprache" (Katharevousa) verwendet worden ist, ich kann es aber nicht überprüfen, da ich kein Wörterbuch für Katharevousa (schwer aufzutreiben) habe. Gurken gibt es in Europa seit etwa 200 v. Chr., ἀγγούριον ist ein Koiné-Wort orientalischen Ursprungs für diverse Gurkengewächse, das sowohl die Salatgurke als auch die (in Ägypten bekannte, jedoch erst in osmanischer Zeit nach Europa eingeführte) Wassermelone bezeichnen konnte. Im Neugriechischen ist αγγούρι die auch im Tzatziki verwendete Salatgurke (die Wassermelone heißt καρπούζι - ein persisch-türkisches Wort, weil die Wassermelone von den Türken kam).

Nun zum Problem mit dem "Guten Appetit": Das ist eine Formel, die der Sphäre (klein)bürgerlicher Umgangsformen angehört. Gab es in der Antike ähnliche Wendungen? Ich kenne keine. Der Verfasser ist, wie gesagt, Spanier, in seiner Muttersprache gibt es keine wörtliche Entsprechung dafür (man sagt "¡que aproveche!"). Vermutlich hat er sich kundig gemacht, was man auf Neugriechisch sagt: καλή όρεξη. Das ist, genau wie unser deutsches "Guten Appetit", ein Akkusativ, der als Kurzform für "Ich wünsche dir/euch/Ihnen einen guten Appetit!" steht. Dass es sich bei καλή όρεξη um einen Akkusativ handelt, ist allerdings nicht unmittelbar sichtbar: Die Deklinationen sind im Neugriechischen so weit zurückgebildet (und die dritte Deklination weitestgehend "normalisiert"), dass weder bei (η/την) καλή noch bei (η/την) όρεξη ohne Artikel ein Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ besteht. Möglicherweise hat der spanische Verfasser καλή όρεξη irrtümlich für einen Nominativ gehalten und ihn durch die altgriechische Entsprechung καλὴ ὄρεξις, ergänzt um ὑμᾶς, ersetzt. Dieses καλὴ ὑμᾶς ὄρεξις im Nominativ könnte vielleicht verstanden werden im Sinne von "Euch sei ein guter Appetit". In antiken Texten gibt es so etwas allerdings sicher nicht, und es ist auch zweifelhaft, ob etwa ein Athener in klassischer Zeit ὄρεξις mit unserer Bedeutung "Appetit" verbunden hätte (die ὄρεξις gibt es bei Aristoteles, das hat aber wenig mit Essen zu tun).

Richtig wäre der Akkusativ καλὴν ὄρεξιν, diese Formel war im modernen Griechenland in der Zeit gebräuchlich, als die Katharevousa die gehoben-formelle Sprache war (in ihr wurden die Nomina weitgehend wie im Altgriechischen gehandhabt). Ich vermute, dass es sich bei diesem καλὴν ὄρεξιν um eine Übernahme moderner westeuropäischer Umgangsformen handelte, wobei die ὄρεξις als Entsprechung für den appetitus verwendet wurde. Im Deutschen ist "Appetit" als Entlehnung aus dem Lateinischen seit dem 15. Jahrhundert bekannt, ich weiß nicht, ab wann ὄρεξις/όρεξη im Griechischen in diesem Sinne gebräuchlich ist.

Also: καλὴν ὄρεξιν ist in dem Sinne "authentisch", als es aus der Zeit belegt ist, als im modernen Griechenland ein antikisierender Sprachstandard als vornehm, gebildet und patriotisch galt.
Re: Küchengriechisch
Φιλομαθής schrieb am 26.06.2017 um 21:25 Uhr (Zitieren)
Zitat von Μαλλιαρός am 25.6.17, 20:47Nun zum Problem mit dem "Guten Appetit": Das ist eine Formel, die der Sphäre (klein)bürgerlicher Umgangsformen angehört. Gab es in der Antike ähnliche Wendungen?

Athenaios übermittelt zwar aus der arkadischen Stadt Phigaleia den Brauch, bei Gastmählern vor dem eigentlichen Essen einen Becher herumgehen zu lassen, woraufhin der Gastgeber das Mahl mit dem Ausruf "εὐδειπνίας", "Auf eine gute Mahlzeit!" eröffnet haben soll (deipn. 4, 149b), nur ist das ja weder gemeingriechische oder wenigstens athenische Sitte gewesen noch entspricht es der Wechselseitigkeit unserer Formel, hinsichtlich derer vielleicht interessant wäre zu erfahren, ob sich ein Zusammenhang mit den Aufklärungsbestrebungen des 18. Jhs. ablesen lässt, insofern sie sich, wie es scheint, als säkulare Ersatzform für das christlich geprägte Gesegnete Mahlzeit! etabliert hat (und vermutlich Lehnübersetzung aus dem Frz. ist).

Die Sprache des Rezepts wirkt auf mich in vielen Punkten seltsam. Ist ψιλοῦμεν der passende Ausdruck? Oder τρίβομεν? Βάλλομεν? Wird die 1. Person Plural im Griechischen überhaupt als höfliche Aufforderung verstanden? Weshalb das ionische γλώσσῃ, statt der attischen Form? Warum nicht überhaupt eine besser belegte Wendung für "auf Griechisch"? Weshalb das synkopierte σκόρδα statt σκόροδα? Warum unkontrahiertes ὄξεος statt ὄξους? Αὐτὸ am Satzanfang?
Re: Küchengriechisch
Μαλλιαρός schrieb am 28.06.2017 um 23:11 Uhr (Zitieren)
Athenaios übermittelt zwar aus der arkadischen Stadt Phigaleia den Brauch, bei Gastmählern vor dem eigentlichen Essen einen Becher herumgehen zu lassen, woraufhin der Gastgeber das Mahl mit dem Ausruf "εὐδειπνίας", "Auf eine gute Mahlzeit!" eröffnet haben soll (deipn. 4, 149b) ...

Vielen Dank für die Information! Es ist ja doch irgendwie frappierend, wie man anhand solcher trivial erscheinender Angelegenheiten zum Nachdenken über die eigene Kulturgeschichte genötigt wird.

Die Sprache des Rezepts wirkt auf mich in vielen Punkten seltsam. Ist ψιλοῦμεν der passende Ausdruck? Oder τρίβομεν? Βάλλομεν? Wird die 1. Person Plural im Griechischen überhaupt als höfliche Aufforderung verstanden? Weshalb das ionische γλώσσῃ, statt der attischen Form? Warum nicht überhaupt eine besser belegte Wendung für "auf Griechisch"? Weshalb das synkopierte σκόρδα statt σκόροδα? Warum unkontrahiertes ὄξεος statt ὄξους? Αὐτὸ am Satzanfang?

Das sind gute Fragen, auf die ich nur mit einer Mutmaßung antworten kann: Ganz klar wirkt der Text sehr von einer modernen Sprache her gedacht - es ist wirklich "Küchengriechisch". Möglicherweise kann der Verfasser Neugriechisch, einiges ließe sich daraus erklären - allerdings nicht das ψιλοῦμεν (für "schälen" ist im Neugriechischen ξεφλουδίζω üblich, von mittelgriechisch φλούδιον - Koiné φλοῦς - altgr. φλοιός für Schale, Rinde). Knoblauch ist neugriechisch σκόρδο(ν). Das ionische γλῶσσα entspricht auch dem Standard der hellenistischen Koiné, die zwar auf dem Attischen beruht, aber -σσ- statt -ττ- hat - aus ihr ging in byzantinischer Zeit das Mittel- und Neugriechische hervor, "Sprache" heißt daher auch im Neugriechischen γλώσσα. Warum der Verfasser das unkontrahierte ὄξεος nimmt, weiß ich auch nicht (das neugriechische Wort für Essig ist ξίδι, das kommt von der Koiné-Form ὀξίδιον). Αὐτὸ am Satzanfang erscheint mir wiederum als Neugräzismus.

Was ich abseits vom Unterhaltungswert an dieser Spielerei interessant finde: Wenn wir versuchen, alte Sprachen zu reanimieren, neigen wir im Allgemeinen doch sehr stark zu einer Rückprojektion unserer modernen Sprachspiele. Die erste Person Plural einladend-auffordernd zu verwenden, ist sicher ein modernes Sprachspiel, das wohl kaum im Altgriechischen auffindbar sein dürfte.

Ich spreche das an, weil es hier neulich einen Thread gab, wo ein Lehrbuch erwähnt wurde, das sich zum Ziel gesetzt hat, Altgriechisch (auf Grundlage der Koiné) wie eine lebende Sprache zu vermitteln: Vielleicht bekommt man es mit viel Fleiß hin, Koiné auf dem Niveau des Markusevangeliums einigermaßen zu sprechen, aber es bleibt doch das Problem, dass man, um eine alte Sprache aktiv zu beherrschen, ungeheuer viel Zeit und Μühe aufwenden muss, um das Idiom authentisch zu meistern - was wohl nur Menschen vorbehalten bleiben dürfte, die sich hauptberuflich damit beschäftigen.

Die griechische Sprache hat nach der Antike aus politischen Gründen eine "anomale" Entwicklung durchlaufen: Während sich im Mittelalter in Westeuropa aus den verschiedenen regionalen Varianten des Vulgärlatein die modernen romanischen Sprachen als Kultur- und schließlich Nationalsprachen konstituiert haben, wurde die griechische Volkssprache, die sich ähnlich entwickelt hat wie das Vulgärlatein, von den byzantinischen Eliten immer unterdrückt, ihre Emanzipation kam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gang. Im Zuge der griechischen Unabhängigkeitsbewegung setzte um 1800 unter den Intellektuellen die Diskussion ein, welche Sprache ein künftiger griechischer Staat haben sollte. Die bis dahin nur sehr wenig verschriftlichte Volkssprache erschien nach den Jahrhunderten der osmanischen Fremdherrschaft mit ihren zahlreichen türkischen und italienischen Lehnwörtern allzu verwildert und krude. Einige Gelehrte träumten von der Rückkehr zum Altgriechischen, die aber praktisch undurchführbar war (man stelle sich vor, an jedem Postschalter hätte man Attisch sprechen müssen ...). Als Kompromiss einigte man sich auf die Katharevousa, die ursprünglich als Reinigung und Veredelung der Volkssprache gedacht war, aber in konservativen Kreisen zu einer Art "Altgriechisch light" wurde, ein an mittelgriechische und spätbyzantinische Modelle anknüpfendes Hybridgebilde mit moderner Syntax, möglichst rein griechischem Wortschatz und Beibehaltung der Deklinationen und eines Teils der Konjugationen aus dem Altgriechischen. Sie war nie einheitlich festgelegt, sondern sie bildete einen Rahmen, in dem die Gebildeten je nach Geschmack mehr oder weniger "altertümelnd" sprechen konnten. Für moderne Gegenstände und Sprachspiele hat man griechische Ausdrücke gesucht, und so hat man wohl "Guten Appetit" (bon appétit, buon appetito ...) ins "Altgriechische" übersetzt: καλὴν ὄρεξιν. Wie schon gesagt, vermute ich - ohne es auf die Schnelle verifizieren zu können -, dass auf diese Weise auch die Bezeichnung πηκτογάλα für Joghurt zustande kam, um das türkische Wort zu umgehen.

Generationen von Griechen bekamen dann also in der Schule beigebracht, dass die Sprache, die sie zu Hause sprechen, nicht das wahre Griechisch ist, sondern ein vulgäres und ausländisch verseuchtes Verfallsprodukt, und dass man, um ein guter Grieche zu sein, die dritte Deklination beherrschen muss und keine Türkenwörter zu verwenden hat. Das Volk hat diesen Bildungsbürgerträumen die kalte Schulter gezeigt, und die allermeisten Schriftsteller gingen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Volkssprache über. Geblieben ist aber doch, dass die griechische Sprache heute noch unterschiedliche historische Sprachschichten kennt, die als "Register" eingesetzt werden können und häufig als Mittel sozialer (und politischer) Distinktion dienen. Wenn man einem Würdenträger der griechisch-orthodoxen Kirche (die nach wie vor die Katharevousa für offizielle Dokumente verwendet) καλὴν ὄρεξιν wünscht, freut er sich wahrscheinlich, in einer Arbeitertaverne würde das hingegen sehr snobistisch klingen. Wenn man ankündigt, etwas "über das Thema ..." zu sagen, kann man umgangssprachlich sagen: για το θέμα - oder, um gebildet zu klingen, περί του θέματος (die Neutra auf -α gehören zu den wenigen Substantiven, die noch die dritte Deklination haben, das kann man dann schön bildungsbürgerlich-distinktiv mit dem altertümelnden Genitiv herausstreichen). In konservativ-nationalistischen Kreisen findet man häufig einen Sprachgebrauch, wo Neugriechisch mit allerhand altgriechischen Versatzstücken angereichert wird (was allerdings zumeist ziemlich gedrechselt wirkt). Der Umgang mit dem sprachlichen Erbe aus der Blütezeit des Hellenentums ist heute noch Gegenstand kontroverser Diskussionen, die Frage, ob Alt- und Neugriechisch zwei verschiedene Sprachen sind oder ein diachrones Dialekt- und Soziolektkontinuum bilden, wird immer noch unterschiedlich beantwortet. Zwischen Alt- und Neugriechisch bestehen strukturelle Unterschiede wie zwischen Latein und Italienisch, die alten Sprachen haben andere Konstruktionsprinzipien als unsere modernen. Aber in Griechenland haben konservative Eliten über Jahrhunderte durch allerlei Hybridgebilde eine künstliche Kontinuität zur Antike zu wahren versucht.

Das sind die Assoziationen, die sich bei mir mit Blick auf den Versuch eines griechenlandbegeisterten Spaniers, ein neugriechisches Kochrezept auf Altgriechisch zu formulieren, eingestellt haben.
Re: Küchengriechisch
Φιλομαθής schrieb am 30.06.2017 um 19:45 Uhr (Zitieren)
Aufschlussreicher Beitrag. Dass die Katharevousa nicht nur reine Schriftsprache war, sondern tatsächlich auch gesprochen wurde, war mir nicht bewusst.
Re: Küchengriechisch
Μαλλιαρός schrieb am 08.07.2017 um 16:36 Uhr (Zitieren)
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem jungen Deutsch-Griechen im Jahr 1990: Als ich ihm sagte, dass ich Altgriechisch gelernt habe, meinte er: "Ach ja, in Griechenland gibt es immer noch so ein paar Snobs, die Katharevousa sprechen, das versteht kein Mensch." Peter Mackridge, der britische Nestor der Neugräzistik, berichtet irgendwo von einem Gespräch, das er um 1970 in Athen mit einem Schriftsteller führte, der natürlich, wie im 20. Jahrhundert allgemein üblich, seine Werke in Dimotiki schrieb, aber Katharevousa sprach. 1967ff. hat die Militärjunta unter General Papadopoulos noch einmal versucht, in der Öffentlichkeit allgemein die Katharevousa durchzusetzen, wobei Papadopoulos sich allerdings zum Gespött gemacht hat, weil er sie selbst nur unbeholfen sprach. 1976, zwei Jahre nach dem Sturz der Diktatur, hat die (konservative) Regierung Karamanlis die Katharevousa als Amtssprache abgeschafft. (Ich weiß leider nicht, wie Papadopoulos nach seinem Sturz als Angeklagter vor Gericht und im Gefängnis gesprochen hat.)

Die Meinungen über die Katharevousa sind geteilt: Die eingangs zitierte Ansicht eines deutsch-griechischen Studenten im Jahr 1990 ist sicher repräsentativ für die Mehrheit der Griechen, die diese sprachliche Umerziehung gehasst hat - für alle, die keine höhere Schulbildung hatten, bedeutete die Katharevousa als Amtssprache eine drückende Diskriminierung. Auch der erwähnte Peter Mackridge bewertet den Einfluss der Katharevousa vorwiegend negativ. Andere beurteilen die Rolle der Katharevousa für die Entwicklung der neugriechischen Sprache, insbesondere hinsichtlich des Wortschatzes, positiver. Die seit 1976 amtliche neugriechische Standardsprache (κοινή νεοελληνική) ist tatsächlich im Grunde eine Synthese aus gehobener Dimotiki und Elementen der Katharevousa, aus deren Wortschatz sie einiges übernommen hat. Auch manche umgangssprachlich wenig gebräuchliche Ausdrucksweisen, etwa Präpositionen wie περί, sind aus der Katharevousa in die gehobene Standardsprache eingegangen.

Ein Aspekt der Katharevousa, der für uns Nichtgriechen und unser Verhältnis zur griechischen Sprache eine Rolle spielt, ist ihre "interkulturelle" Bedeutung: Anfang des 19. Jahrhunderts entstand unter gebildeten Westeuropäern die philhellenische Bewegung, viele Träumereien von einer Wiedergeburt des Hellenentums wurden auf den Unabhängigkeitskampf der Griechen projiziert, es gab nach langer Zeit wieder einen intensiven Austausch zwischen westlichen und griechischen Intellektuellen. Nicht von ungefähr flammte zu dieser Zeit die alte Diskussion über die Aussprache wieder auf, es gab Neo-Reuchlinianer, die für die neugriechische Aussprache des Altgriechischen plädierten, um besser mit Griechen sprechen zu können, und es erschienen allerhand Grammatiken des Neugriechischen, wobei mit "Neugriechisch" natürlich in erster Linie Katharevousa gemeint war. (Die Bezeichnung "Katharevousa" tauchte erstmals 1796 auf, sie wurde aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts kaum verwendet, weil man einfach diesen alt-mittel-neugriechischen Mix als die aktuelle griechische Hochsprache ansah.) Zwar glich keine dieser Grammatiken der anderen, weil es in Griechenland keinen einheitlichen Sprachstandard gab, sondern diverse historische Formvarianten in Gebrauch waren, dennoch musste man als neuhumanistisch gebildeter Europäer mit guten Altgriechischkenntnissen im Grunde nur wenige Eigenheiten des Mittel- und Neugriechischen hinzulernen, um ein bildungssprachliches Neugriechisch verstehen und auch schreiben und sprechen zu können: Im Prinzip wurde in der Katharevousa aus dem enorm großen Formenreichtum des Altgriechischen eine abgespeckte, überschaubare und beherrschbare Untermenge verwendet (üblicher Standard: kein Optativ, Medium und Passiv verschmolzen, Bildung von Futur, Perfekt und Konjunktiv als zusammengesetzte Zeiten mit Konjunktionen und Hilfsverben, Deklination und Konjugation von Präsens, Imperfekt und Aorist wie im Altgriechischen), so dass Kenner des Altgriechischen sich mit wenig Mühe eine aktuelle griechische Konversations- und Korrespondenzsprache aneignen konnten. Noch Wilamowitz war in der Lage, einen Vortrag in Katharevousa zu verstehen. Zwar war die Katharevousa in Griechenland eine Art Bildungsbürgermarotte, die der weniger gebildeten Mehrheit erheblich zum Nachteil gereichte, andererseits hatte sie den Vorteil, dass sie eine relativ mühelose Kommunikation zwischen gebildeten Griechen und Nichtgriechen ermöglichte.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten parallel zwei Entwicklungen: In Griechenland gingen die meisten Schriftsteller zur Volkssprache über, in Westeuropa entstanden die ersten Lehrstühle für Byzantinistik und Neugräzistik (Krumbacher in München). In Griechenland erfolgte, gegen den heftigen Widerstand konservativer Kreise, endlich die Emanzipation der Volkssprache zur Kultursprache, in Westeuropa die institutionelle Trennung von klassischer, mittelalterlicher und moderner Philologie. In letzter Zeit scheint bei den Altphilologen immerhin ein Bewusstsein davon aufzukommen, wie problematisch diese Trennung ist: An den Universitäten bieten die Institute für klassische Philologie zunehmend Kurse in Neugriechisch an, auch für den Schulunterricht im Altgriechischen werden Konzepte zu einer Einbeziehung des Neugriechischen diskutiert (insbesondere in der Schweiz). Das wäre vielleicht einmal an anderer Stelle zu erörtern.
 
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