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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Eine Konsequenz des Determinismus (947 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 21.05.2018 um 14:33 Uhr (Zitieren)
1.
Einen beim Diebstahl ertappten Sklaven züchtigte er [sc. der Stoiker Zenon ], wie man erzählt, mit Geißelhieben, und als dieser rief: „Es war vom Schicksal so bestimmt [εἵμαρτο], ich mußte stehlen“, entgegnete er: „Auch gepeitscht werden.“

(Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, VII 23)

2.
Klytämnestra: „Das Schicksal [Μοῖρα] trug an alledem, mein Kind, die Schuld!“
Orestes: „So setzt‘ ins Werk denn auch das Schicksal diesen Mord!“

(Aischylos, Die Grabesspenderinnen V. 910 f.)

Diesem Argument ist kaum zu entkommen.

Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 29.05.2018 um 15:53 Uhr (Zitieren)
Gut zu verwenden für Richter, die es mit Angeklagten zu tun haben, welche sich darauf berufen, sie hätten halt nicht anders gekonnt.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 29.05.2018 um 22:29 Uhr (Zitieren)
Allerdings ist es ein riskantes Spiel, wenn der Richtende bzw. Strafende das Determinismus-Argument aufnimmt. Indem er anerkennt (und sei es auch nur scheinbar), dass der Delinquent für sein Handeln nicht verantwortlich ist, verliert die Bestrafung ihre Rechtfertigung. Die Strafe ist damit in ethischer Hinsicht dem Verbrechen gleichwertig. Nicht ohne Grund gilt Kant die Freiheit als "ratio essendi des moralischen Gesetzes".
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 30.05.2018 um 13:59 Uhr (Zitieren)
Das hat Kant gesagt, ja. Aber mit der Ethik und der Willensfreiheit (für welch letztere es in der Antike ohnehin kein tieferes Verständnis gab) ist seitdem viel geschehen. Denke nur an die utilitaristische Ethik einerseits und die sensationellen Experimente von Benjamin Libet andererseits.
Den letzten Schub schien die Willensfreiheit vorher durch den (angeblichen) Indeterminismus der Quantenphysik bekommen zu haben - doch da stellt heute niemand mehr eine Beziehung her.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 30.05.2018 um 23:03 Uhr (Zitieren)
Es ging mir eigentlich nicht darum, mich in der Frage um die Willensfreiheit einer Position anzuschließen. Stattdessen wollte ich darauf hinweisen, dass ein Mensch, der über einen Menschen richtet und über dessen Schuld befindet, sich selbst die Legitimation zu richten entzieht, wenn er die Annahme der Willensfreit grundsätzlich aufgibt.

Allen Fortschritten in der Physiologie und allen berechtigten Zweifeln an der Willensfreiheit zum Trotz beruht ja auch unser Strafrecht, rückständig wie es ist, noch immer auf dem Schuldprinzip und die Entscheidung eines Richters, der deinen Vorschlag aufgreifend sich davon löst und den Angeklagten mit einer Strafe belegt, obwohl er dessen Schuldlosigkeit anerkennt, dürfte kaum Rechtskraft erlangen.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 31.05.2018 um 00:14 Uhr (Zitieren)
Eigentlich sollte ja sowohl bei Zenon als auch bei Aischylos und natürlich auch bei mir das Argument nur deutlich machen, wie unklug der Standpunkt des 'Delinquenten' ist.
Er beweist, wie man sagt, zu viel.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 05.06.2018 um 17:26 Uhr (Zitieren)
Ich will versuchen, meinen Einwand etwas klarer darzustellen: Die durch Zenon vollzogene Auspeitschung und die Mordtat des Orest sollen als Strafe vollstreckt werden. Die Institution der Strafe setzt das Vorliegen einer Schuld beim Bestraften voraus. Der Begriff der Schuld wiederum impliziert die Annahme eines freien Willens.

Da die Peitschenhiebe des Zenon und der Mord des Orest ethisch gerechtfertigt werden, nämlich insofern es sich um Strafen handelt, können Zenon und Orest das Argument des Sklaven bzw. der Klytaimestra (die dadurch ja die Möglichkeit zu unethischem und mithin auch zu ethischem Handeln bestreiten) nicht übernehmen, ohne das höhere Ethos ihres eigenen Handelns aufzugeben.

Wenn Zenon die Misshandlung des Sklaven (wie dieser seinen Diebstahl) durch das Wirken des Schicksals begründet, ist es so gut, als würde er sie überhaupt nicht begründen. Jeder anlasslose Gewaltexzess wäre in derselben Weise begründbar.

Der Sklave des Zenon hat (auch wenn er die Züchtigung nicht abwenden kann) durch das Determinismus-Argument gewonnen: er hat sich von seiner Schuld befreit und sein moralisches Defizit getilgt. Zenon hingegen hat durch seine Antwort zwar seine Schlagfertigkeit (in doppeltem Sinne) unter Beweis gestellt, aber tatsächlich hat er verloren: nämlich sein (nach damals geltender Auffassung) moralisches Recht zur Züchtigung des Sklaven.

Im Falle des Orest freilich verrät sich im Eingehen auf das Argument der Klytaimestra das Bewusstsein des moralischen Dilemmas (zwischen Erfüllung des göttlichen Gebots und dem Frevel des Muttermords), in das er als tragischer Held verstrickt ist. In der Übernahme der Argumentation ist die mit Klytaimestra parallele Entwicklung des Orest schon vorgezeichnet.

Für einen Richter nun, dessen Amt ja ohne eine (wie auch immer geartete) Moral nicht denkbar ist, ergäbe sich aus dem Einnehmen einer deterministischen Sicht, dass er sein eigenes Amt infrage stellte.

Im Hinblick hierauf meine ich, dass es für einen Beschuldigten gar nicht so unklug ist, sich auf den Determinismus zu verlegen.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 06.06.2018 um 17:55 Uhr (Zitieren)
Es trifft sicher zu, daß der Determinismus die moralische Argumentation, vor allem eine kantische, unterläuft. Ein Richter, der sich auf ihn beruft, gäbe die moralische Dimension seines Amtes auf.
Es sei denn, man beriefe sich auf ein utilitaristisches Verständnis von Moral, das m.E. keine Annahme von Willensfreiheit benötigt ... oder in dem sie eine weitaus schwächere Funktion hat.

Andererseits: Das griechische Denken hat die Frage der Willensfreiheit nur sehr schwach beleuchtet. Kantische Gedanken sind ihm fremd. Utilitaristische wohl etwas weniger.

Meines Wissens war Augustinus der erste antike Mensch, der dem Thema der Willensfreiheit eine eigene Überlegung gewidmet hat. Oder irrre ich mich da?
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 09.06.2018 um 11:27 Uhr (Zitieren)
Nun ja, wenn wir davon ausgehen dürfen, dass Ethik einen Begriff von richtigem und falschem Handeln entwickelt - und, soweit ich es überblicke, trifft das auch auf die utilitaristischen Konzepte zu -, dann ist hierfür grundlegend die Annahme, dass der Mensch frei über sein Handeln entscheiden kann. Dasselbe gilt auch für ethische Entwürfe der Antike, etwa die Ethik eines Aristoteles, der sich mit der Freiwilligkeit von Entscheidungen (Prohaireseis) im 3. Buch (Kap. 1-7) der Nikomachischen Ethik befasst und im 2. Buch feststellt, dass Tugenden ohne Entscheidungen nicht denkbar sind (αἱ δ' ἀρεταὶ προαιρέσεις τινὲς ἢ οὐκ ἄνευ προαιρέσεως. - 1106 a3).

Ich denke aber, dass eine historische Betrachtung des Problems hier gar nicht erforderlich ist, da wir ja zunächst nur ermitteln wollen, ob sich ein Widerspruch aus dem Verhalten des Zenon der Anekdote bzw. des aischylischen Orest ergibt, nicht aber, ob die Urheber der Texte, die Akteure und das zeitgenössische Publikum diesen Widerspruch hätten bemerken und mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Begriffsinventar hätten artikulieren können.

Deine Formulierung von der "moralischen Dimension" des Richteramts erscheint mir übrigens bedenklich, da hierbei ja mitgesagt ist, dass es weitere - außermoralische - Dimensionen gebe. Wo aber sollen wir diese suchen, wenn richten heißt, über richtiges und falsches Handeln zu urteilen?
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
filix schrieb am 09.06.2018 um 22:20 Uhr (Zitieren)
Zenon legt den Determinismus seines Sklaven universal aus und erweist durch die pointierte Antwort die Untauglichkeit dieser Annahme als Verteidigung, weil jeder sich darauf berufen kann, um gleich welche Handlungen zu begründen.

Aus der Anekdote geht jedoch nicht hervor, ob der Gezüchtigte überhaupt eine solche Position vertritt. Insbesondere heute hätte er bessere Chancen, würde er sich auf eine individuelle Einschränkung seiner Handlungsfreiheit und damit seiner Schuldfähigkeit berufen.

Außerdem kann man die Frage aufwerfen, welche Annahme von Freiheit schon der Versuch,
seinen Richter (und Henker) mit Argumenten von einer bestimmten Handlung abzubringen, voraussetzt, schließlich muss sich der ja a) offensichtlich entscheiden können, ob er sein Gegenüber züchtigt oder nicht, b) kontrastiv die Idee der Schuldfähigkeit aus Entscheidungsfreiheit wenigstens formal aufrecht erhalten werden, um die Argumentation durchführen zu können. Nach der berüchtigten paradoxen Rede vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments wird ja begründet Straflosigkeit gefordert für die eigene Handlung und nicht eine bloß willkürliche, wenngleich auch vorteilhafte Begnadigung.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 14.06.2018 um 13:45 Uhr (Zitieren)
Funktioniert ein Rechtswesen tatsächlich nur über die Annahme eines freien Willens und einer dadurch qualifizierten Schuld? Oder ist es nicht bloß unser Rechtswesen, das auf dieser - selbst für Kant unbeweisbaren - Annahme beruht?

In dem Kapitel über die Tragödie seiner Griechischen Kulturgeschichte schreibt Jacob Burckhardt:
In das Rechtbehalten des Schicksals ist aber noch durchaus nicht die Schuldhaftigkeit der betreffenden Hauptpersonen einbedungen, und es ist das abgeschmackte Ableiten des tragischen Ausganges aus irgendeiner Schuld durchaus zu verwerfen. Erstlich hält der Grieche die Handlungsweise aus Selbstsucht überhaupt nicht so leicht für eine schuldvolle, und es muß daher der Grad der Schuldhaftigkeit beim griechischen Dichter und Zuschauer anders beurteilt werden als heute, und sodann mögen die betreffenden Individuen sonst freilich schuldig genug sein, aber das Schicksal faßt sie gar nicht immer an dieser Schuld, und darauf würde es doch ankommen.

Das erläutert Burckhardt dann an den Beispielen des Agamemnon und des Ödipus. Er resümiert:
Dieses Hervorheben einer Minimalschuld als moralisches Motiv dürfen wir getrost ablehnen.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 19.06.2018 um 20:32 Uhr (Zitieren)
Ich hätte gemeint, Burckhardt argumentierte hier - ganz im Geiste des Ästhetizismus - dafür, dass man bitte aufhören möge, der Tragödie ein ethisches Wirkungsziel zu unterstellen und sich mit ihrer ästhetischen Wirkung begnügen solle.

Dass der letzte Satz des Absatzes sich auf die Tragödie beziehen dürfte ("Dieses Hervorheben einer Minimalschuld als moralisches Motiv [scil. der erwähnten Dramen Antigone und König Oidipus] dürfen wir getrost ablehnen") - und nicht etwa das Fehlen eines Schuldbegriffs bei den Griechen unterstellt -, wird mit der Kritik an Aristoteles (bzw. seinen Auslegern) im folgenden Absatz noch einmal verdeutlicht ("Jedenfalls wäre die Definition irrig, wenn damit ein außerhalb der Poesie liegender, etwa moralischer Zweck gemeint wäre").
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2018 um 14:58 Uhr (Zitieren)
In dem Abschnitt "Die freie Persönlichkeit" seiner "Griechischen Kulturgeschichte" (Entschuldigung für die häufige Nennung, aber die lese ich gerade) noch zum Thema:
Auch wollen wir einer Hauptschranke dieser Philosophie [sc. der griechischen] gedenken, um deretwillen sie wohl etwas bescheidenere Ansprüche machen könnte: Sie hat das große Problem von Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen Handeln zwar hie und da gestreift, wie z.B. Aristoteles einmal von der angeblich durch Sokrates behaupteten Unfreiheit des Willens spricht, um dann sogleich dessen Freiheit zu beteuern, im ganzen aber es im Schwanken der populären Anschauung stecken und liegen lassen; der alte populäre Fatalismus mit seiner Moira mag daran schuld sein, daß sie sich nie abschließend hierüber äußerte.

Der Aristoteles- Hinweis bezieht sich auf eine singuläre Stelle in den "Magna Moralia".
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2018 um 15:12 Uhr (Zitieren)
Offensichtlich übergeht Burckhardt dabei die einschlägigen Stellen in der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik; die Stelle in der Großen Ethik habe ich noch nicht gefunden.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2018 um 15:24 Uhr (Zitieren)
Die Entscheidung handelt Aristoteles in "Magna Moralia" 1189a ff. ab; von Sokrates finde ich da freilich nichts.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2018 um 15:28 Uhr (Zitieren)
Sokrates wird 1198a erwähnt; dort betont Aristoteles die Wichtigkeit der Entscheidung.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2018 um 15:34 Uhr (Zitieren)
Parallelstelle: NE 1144b
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Φιλομαθής schrieb am 24.06.2018 um 20:30 Uhr (Zitieren)
Aus der Fußnote geht hervor, dass Burckhardt sich hier auf "c. 9" (des ersten Buchs der MM) bezieht. Gemeint ist der Abschnitt ab 1187a 5: Ἐπεὶ δ᾽ οὖν ὑπὲρ ἀρετῆς εἴρηται, μετὰ τοῦτ᾽ ἂν εἴη σκεπτέον πότερον δυνατὴ παραγενέσθαι ἢ οὔ, ἀλλ᾽ ὥσπερ Σωκράτης ἔφη, οὐκ ἐφ᾽ ἡμῖν γενέσθαι τὸ σπουδαίους εἶναι ἢ φαύλους κτλ.
Re: Eine Konsequenz des Determinismus
Γραικίσκος schrieb am 25.06.2018 um 13:53 Uhr (Zitieren)
Ah ja, diese Stelle hatte ich übersehen. Darin kann ich auch den bei Platon überlieferten Standpunkt des Sokrates erkennen.

Aristoteles' Argument (bei dieser Gelegenheit: Ist die Autorschaft des Theophrast für die MM inzwischen gesichert?) Argument für die Willentlichkeit von Entscheidungen konnte man zumindest bis zu den experimentellen Befunden von Benjamin Libet et al. akzeptieren; für eine Willensfreiheit beweist er m.E. zu wenig, denn Strafen und Lob kann man ja auch als gesetzte Motive ansehen, von denen man hofft, daß sie stark genug seien, um den Angesprochenen zu bestimmen. Daß der das nicht immer tut, kann an stärkeren Gegenmotiven liegen.
 
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