Γραικίσκος schrieb am 04.11.2018 um 14:06 Uhr (Zitieren)
Für Lexika - und um ein solches handelt es sich ja bei Wikipedia - gilt, daß man dort nur findet, was man sucht ... sofern man nicht zu der seltenen Menschengruppe gehört, die anstelle von Romanen und Sachbüchern Lexika von Aa bis Zz liest.
Auf diese Weise passiert es mir öfters, daß mich jemand mit der Frage überrascht: "Weißt du eigentlich ...?", und ich dann antworten muß: "Nein."
So war es auch mit Istanbul. Vielleicht, so dachte ich, geht es selbst hier jemandem ähnlich wie mir.
Re: εἰς τὴν πόλιν
Φιλομαθής schrieb am 05.11.2018 um 23:29 Uhr (Zitieren)
Nein, diese Herleitung des Namens Istanbul war mir ebenfalls nicht geläufig. Ich hatte gemeint (allerdings ohne mich näher damit zu befassen), er ginge auf eine entstellte Form von Konstantinupolis zurück. Vor Kurzem hatte ich übrigens in Bezug auf den Namen der Stadt Nablus im Westjordanland ein ähnliches Aha-Erlebnis.
Fragwürdig erscheint mir allerdings die direkte Ableitung der ersten Silbe Is- aus der griechischen Präposition εἰς. Eher würde ich in dem Anlautvokal eine Vokalprothese zur Vermeidung eines (für die türkische Zunge ungewohnten) Doppelkonsonanten im Wortanlaut vermuten wollen (ähnlich wie bei Σμύρνη > Izmir). So findet man ja auch bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts die Form Stambul (frz. Stamboul) nicht seltener als die Form Istanbul in westeuropäischen Texten.
Unbetonter Vokal (außer ἀ-) im Anlaut von Wörtern ist in der byzantinischen Volkssprache schon in der Zeit zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert ausgefallen. Aus der Präposition εἰς + Artikel entstanden στόν, στήν, στό. Das πόλις-Wort war in dieser Zeit bereits der fem. α-/η-Dekl. angegliedert worden. Der Ausdruck für "in die/in der Stadt" hätte zu jener Zeit die Form στὴν πόλην und etwa ab dem 12. Jh. die heutige Form στὴν πόλη (Akk. wie Nom.) besessen, also bereits einige Zeit vor der Eroberung Konstantinopels durch die Türken.
Der Pferdefuß der Hypothese verbirgt sich meines Erachtens in der Aussprache des η. Denn der Itazismus hatte sich ja spätestens mit der Koiné durchgesetzt. Wie nun aber aus dem /i/ in /stim poli/ ein /a/ wird, bleibt damit noch ungeklärt.
Vielleicht noch eine Anmerkung zu στόν, στήν,also zur Agglutination, die ich vom Englischen her kenne. Der Artikel /an/ lässt sich leicht agglutinieren. Es gibt ja auch Deglutinierungen: unsere Natter wird zu adder,; napron (frz. Schürze) wird zu apron.
Gibt es auch im Griechischen Beispiele für Deglutination?
Re: εἰς τὴν πόλιν
Φιλομαθής schrieb am 09.11.2018 um 22:27 Uhr (Zitieren)
Als Agglutination würde ich das Phänomen, das zu mgr. στόν, στήν, στό geführt hat, nicht ansehen wollen. Bei einer Agglutination, wenn wir darunter das Ergebnis einer falsch gezogenen Wortgrenze verstehen, werden einem Wort ja ein oder mehrere Phoneme angefügt, die ursprünglich zu einem anderen Wort gehörten.
Im Falle von στόν, στήν, στό sind hingegen zwei Lexeme zu einer Einheit zusammengezogen worden, ähnlich wie bei der Kontraktion von in dem > im oder in das > ins im Deutschen oder von in il > nel, in la > nella, in i > nei im Italienischen.
Bei der Prokope eines unbetonten Vokals (außer ἀ-) seit dem Mittelgriechischen, wie bei att. ἡμέρα > ngr. μέρα, att. ὀλίγος > ngr. λίγος, att. οὐδέν > ngr. δεν, könnte man Deglutination vermuten, wenn man annimmt, dass entweder Synaloiphe im Sandhi zu falscher Abgrenzung der betreffenden Lexeme führte oder der ursprüngliche Anlautvokal als Artikel fehlinterpretiert wurde.
Besten Dank für beides. Die Reduzierung von Formenvielfalt in der Sprachentwicklung ist erstaunlich und bedenkenswert. Auch scheint mir Homers Fülle, ja Lust an schmückenden Beiwörtern später nachgelassen zu haben. (Nebenbei: in der „Göttlichen Komödie“ ist die Menge an Beiwörtern ungleich geringer.)
Re: εἰς τὴν πόλιν
filix schrieb am 10.11.2018 um 12:47 Uhr (Zitieren)
In The Names of Constantinople, erschienen in Transactions and Proceedings of the American Philological Association Vol. 78 (1947), S. 347-367, behauptet Demetrius John Georgacas, aus der älteren Form Stimbóli habe sich "according to Turkish vowel harmony" Stambúl entwickelt. Beides ginge letztlich auf den elliptisch aufzufassenden periphrastischen Lokativ (εἰ)ς τὴν Πόλι(ν) zurück, worin Πόλι(ν) also nicht für die Stadt schlechthin stünde (dagegen argumentiert er ausführlich), sondern für die gut belegte verkürzte Periphrase Κωνςταντινου πόλις (so wie im Engl. the City für The City of London). Über JSTOR ist der Artikel nach Anmeldung kostenlos einzusehen: https://www.jstor.org/stable/283503
Re: εἰς τὴν πόλιν
Φιλομαθής schrieb am 10.11.2018 um 19:39 Uhr (Zitieren)
"Turkish vowel harmony" also. Damit will ich zufrieden sein. Danke!
Re: εἰς τὴν πόλιν
filix schrieb am 10.11.2018 um 21:09 Uhr (Zitieren)
Georgacas erläutert diesen Vorgang allerdings nicht. Marek Stachowski und Robert Woodhouse haben diese und andere Thesen (u.a. die Herleitung von -stan- aus Κω(ν)-ςταν-τινου) in einem in den Studia Etymologica Cracoviensia Vol. 20 (2015) veröffentlichen Aufsatz The etymology of İstanbul: making optimal use of the evidence einer ausführlichen kritischen Prüfung unterzogen - er steht als PDF kostenlos über http://www.ejournals.eu/SEC/2015/Issue-4/art/4471/ zum Download bereit.
Unter Conclusions and final remarks heißt es da u.a.:
Re: εἰς τὴν πόλιν
Φιλομαθής schrieb am 11.11.2018 um 20:56 Uhr (Zitieren)
Die Erklärung des /a/ als Erbe einer tsakonischen Dialektform halte ich insofern für problematisch, als hierbei dieses Phonem bzw. der Artikel /tān/ isoliert betrachtet wird. Nun wird aber im Tsakonischen ursprüngliches σ vor Verschlusslaut unter Aspiration des Verschlusslauts assimiliert, weshalb στήν im Tsakonischen seine Entsprechung in /tʰā(n)/ findet.
Re: εἰς τὴν πόλιν
filix schrieb am 11.11.2018 um 23:24 Uhr (Zitieren)
Ich finde ja diese Szenen von Missverstehen, die entwickelt werden, um die Übernahme einer Orts- bzw. Richtungsangabe als Name zu erklären, merkwürdig:
Das ähnelt letztlich der hübschen Erklärung, die man in der dt. Wikipedia lesen kann:
Die bei Edward G. Bourne zitierte hämische Kritik an solchen Szenen, die Ersch und Gruber schon im 19. Jhdt. erhoben haben,
setzt man m.E. aber nicht allein dadurch außer Kraft, dass man eine Liste bringt, die aus "orally transmitted phrases consisting of σε/σ-(+ article) + acc. of placename or appellative" (Stachowski/Woodhouse) wie in "Setines ~ Satine ~ Astines (Aθήνα(ς))" & Co als Ortsnamen besteht, worunter, soweit ich sehe, kein einziger ist, bei dem eine abstrakte Siedlungsbezeichnung den semantischen Kern bildet. Von dem einzigen, einigermaßen vergleichbaren Beispiel nichtgr. Ursprungs Im Doerfl (als Dorfname) mal abgesehen.
Der Prozess dieser Bildungen in der jeweiligen geschichtlichen Situation wird so noch nicht erhellt.
Müsste man überdies nicht auch untersuchen, welche Rolle sekundäre Motivierung womöglich schon viel früher spielt, und wer welches Interesse daran hat - wie das bei der Volksetymologie Islambol = vom Islam erfüllt ganz offensichtlich der Fall ist?
Re: εἰς τὴν πόλιν
Γραικίσκος schrieb am 12.11.2018 um 14:22 Uhr (Zitieren)
Hat schonmal jemand mit ähnlichem Erklärungsaufwand die Herkunft des Namens der schwäbischen Stadt Weil der Stadt erforscht?
Zu der auffälligen Dativform schreibt Wikipedia:
Ist das eine befriedigende Erklärung?
Re: εἰς τὴν πόλιν
filix schrieb am 12.11.2018 um 18:58 Uhr (Zitieren)
Sieht für mich so aus, als hätte man im 19. Jhdt. aus welchen Motiven auch immer die toponymische Deutung des historisch belegten Ortsnamens Weilerstetten*, wonach es aus "(ze) wil (d)er statt" (nicht Mundart, sondern Mhd.) hervorgegangen sei, als neuen alten Ortsnamen durchgesetzt. Folgt man diesem Schema ist Weilimdorf aber eigentlich fragwürdig, worauf schon 1862 in der Allgemeine Zeitung München - https://tinyurl.com/y7au2gtt - hingewiesen wurde. Es müsste nämlich entsprechend Weilemdorf heißen.
* Auf der im Wikipedia-Artikel abgebildeten Darstellung aus dem Forstlagerbuch von Andreas Kieser aus 1682 liest man Weijlerstetten.
Re: εἰς τὴν πόλιν
Φιλομαθής schrieb am 25.11.2018 um 21:58 Uhr (Zitieren)
Nachtrag: ein Beispiel für Agglutination im Altgriechischen: νήδυμος.