Latein Wörterbuch - Forum
Ovids Grabinschrift — 1932 Aufrufe
Misaki am 23.5.16 um 2:50 Uhr (Zitieren)
Warum wird das „quisquis amasti“ auf Ovids Grabinschrift mit „wenn du je geliebt hast“ übersetzt?
Amasti kommt von amavisti und bedeutet „du hast geliebt“.
Quisquis aber bedeutet „jeder,der; wer auch immer“ und macht in dem Zusammenhang ja gar keinen Sinn, vor allem da quisquis Nominativ ist und man somit nicht: „Du hast wen auch immer geliebt“ übersetzten kann.
Der Kontext von dem Satzteil ist dieser:
At tibi qui transis, ne sit grave quisquis amasti, Dicere:....
Das „ne sit grave dicere“ gehört ja zusammen und bedeutet „dir soll es nicht schwer fallen“.
Bitte um Hilfe :(
Re: Ovids Grabinschrift
Heinz am 23.5.16 um 6:46 Uhr (Zitieren)
Das quisquis bestimmt das tibi näher: aber dir, der vorbeigeht, (und zwar) jeder (von euch) der geliebt hat ...
Re: Ovids Grabinschrift
obscurus am 23.5.16 um 7:19 Uhr (Zitieren)
quisquis scheint mir das Prädikatsnomen einer elliptischen Form von esse zu sein:

at tibi
qui transis,
[qui] amasti
quisquis [es]
ne sit grave
dicere ...


"Doch dir,
der du vorübergehst,
(der du) geliebt hast,
wer auch immer [du bist],
möge es nicht schwerfallen
zu sagen ... "
Re: Ovids Grabinschrift
Klaus am 23.5.16 um 7:24 Uhr (Zitieren)
@obscurus: Du hast mein morgendliches Grübeln erhellt!
Re: Ovids Grabinschrift
gastmitkleinemg am 23.5.16 um 7:32 Uhr (Zitieren)
In obscuro/obscuritate magna illuminandi vis. :)
Re: Ovids Grabinschrift
Heinz am 23.5.16 um 7:39 Uhr (Zitieren)
Zitat von obscurus am 23.5.16, 7:19quisquis scheint mir das Prädikatsnomen einer elliptischen Form von esse zu sein:

at tibi
qui transis,
[qui] amasti
quisquis [es]
ne sit grave
dicere ...

"Doch dir,
der du vorübergehst,
(der du) geliebt hast,
wer auch immer [du bist],
möge es nicht schwerfallen
zu sagen ... "

Du machst die Sache m. E. unnötig kompliziert, wenn du quisquis nicht als Subjekt von amasti betrachtest.
Re: Ovids Grabinschrift
obscurus am 23.5.16 um 8:57 Uhr (Zitieren)
wenn du quisquis nicht als Subjekt von amasti betrachtest


quisquis kann nicht Subjekt zu amasti sein, da amasti 2. Pers. Sg. Perf. ist
Re: Ovids Grabinschrift
Heinz am 23.5.16 um 9:02 Uhr (Zitieren)
Verstehe, das also ist dein Problem. Nein, da denkst du zu sehr von der deutschen Syntax her. Im Lateinischen geht das.
Re: Ovids Grabinschrift
Heinz am 23.5.16 um 10:20 Uhr (Zitieren)
Nachträglich seien noch einige Belege angefügt. Die ersten beiden stammen aus Grabepigrammen:
Martial 10, 71, 1f.: Quisquis laeta tuis et sera parentibus optas / Fata, brevem titulum marmoris huius ama.

Martial 11, 13, 1f.: Quisquis Flaminiam teris, viator, / Noli nobile praeterire marmor.

Ovid, Remedia amoris 579: Quisquis amas, loca sola nocent, loca sola caveto!

Ovid, Remedia amoris 289f.: Ergo quisquis opem nostra tibi poscis ab arte, / Deme veneficiis carminibusque fidem.

Properz 4, 5, 77f.: Quisquis amas, scabris hoc bustum caedite saxis, / mixtaque cum saxis addite verba mala!

Martial 8, 48, 3: Quisquis habes, umeris sua munera redde, precamur.

Vergil, Aeneis 9, 21f.: Sequor omina tanta, / quisquis in arma vocas.

Statius, Silvae 2, 6, 1f.: Saeve nimis, lacrimis quisquis discrimina ponis / lugendique modos.
Re: Ovids Grabinschrift
obscurus am 23.5.16 um 10:24 Uhr (Zitieren)
Darauf hab' ich gewartet! Vielen Dank!
Somit erübrigt sich natürlich die Annahme einer Ellipse; wobei eine deutsche Übersetzung, die den Verallgemeinerungscharakter von quisquis und die Form amasti halbwegs wörtlich wiedergeben möchte, wohl nicht möglich ist.
Re: Ovids Grabinschrift
Heinz am 23.5.16 um 10:38 Uhr (Zitieren) I
Je nun, was ist schon wörtlich? „Jeder, der“ sind zwei, „wer auch immer“ drei Wörter für das eine quisquis. Ehrlich gesagt, erscheint mir die Wiedergabe durch Konditionalsatz, die den Fragesteller so verwirrt hat, quisquis amasti = „wenn du geliebt hast“ am elegantesten.
Re: Ovids Grabinschrift
obscurus am 23.5.16 um 10:57 Uhr (Zitieren)
Ehrlich gesagt, erscheint mir die Wiedergabe durch Konditionalsatz, die den Fragesteller so verwirrt hat, quisquis amasti = „wenn du geliebt hast“ am elegantesten.

In der Tat ... und somit schließt sich der Kreis für diesen Thread doch sehr zufriedenstellend!
Re: Ovids Grabinschrift
filix am 23.5.16 um 12:32 Uhr, überarbeitet am 24.5.16 um 13:49 Uhr (Zitieren)
Nein, da denkst du zu sehr von der deutschen Syntax her. Im Lateinischen geht das.


Komplexe Relativpronomen im Nominativ, die bei Bezug auf ein Personalpronomen der ersten oder zweiten Person eine Wiederaufnahme des Personalpronomens zeigen, wobei sich das Verb nach diesem richtet, gibt es im Dt. sehr wohl - „ ... jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder mit Dingen und Menschen tändelst.“ (S. Zweig)

Beim Relativpronomen „wer“ ist jedoch die Akzeptabilität auf Verbindungen mit „sein“ bzw. Modalverb + „sein“ beschränkt („Wer du auch sein magst, ...“). In historischen Übersetzungen aus dem Lat. findet man bisweilen Formulierungen wie „Wer immer du auch zu den Waffen mich rufest ...“

In der lat. Prosa scheint bei der Verwendung von „quisquis“ mit einem Verb in der zweiten Person gleichfalls „esse“ zu dominieren, sodass man die Frage aufwerfen kann, ob nicht auch diese Konstruktion gewissen Akzeptabilitätseinschränkungen unterlag.

Re: Ovids Grabinschrift
Willimox am 23.5.16 um 17:20 Uhr, überarbeitet am 23.5.16 um 17:22 Uhr (Zitieren) I
Anzudenken eine knappe Übersetzung, aber insofern nicht nah am Lateinischen, weil die finiten Verben und anderes nicht unmittelbar berücksichtigt sind:

Doch Dir, dem Vorübergehenden, dem Liebeserfahrenen, möge es nicht schwerfallen...

Vielleicht interessant, weil

a) in der appositiven Struktur (dir, dem Liebeserfahrenen...) das (anaphorische) Relativpronomen und der fortführende, nichtrestriktive, verallgemeinernde Relativsatz und seine Funktion umspielt werden,

b) eine verallgemeinernde, fast generische Lesart möglich scheint, die abgeschwächte Version einer Allaussage und das bei einem deutschen substantivierten Partizip,

c) die Doppelcharakterisierung des Adressaten als Vorübergehender und als Liebeskundiger den Kontakt insofern knüpft, als mit „Vorübergehender“ jede zufällige Begegnung erfasst wird, mit dem Liebeshinweis aber (scheinbar) eine Einschränkung vorgenommen wird, die sich insofern auflöst, als wohl fast jeder Mensch sich eine glückende Liebeserfahrung wünscht und sich somit gern über „amasti“ ansprechen lässt, selbst dann, wenn man eine unglückliche Liebe erfahren hat,

d) der Liebeslehrer Ovid somit gegenüber Eingeweihten oder Neugierigen darauf anspielen kann, in der Domäne der Glückskonzepte und Glücksratschläge in Sachen Liebe soviel Verdienste erworben zu haben, dass er sich zu Recht einen Segenswunsch des Vorübergehenden wünschen darf.
Re: Ovids Grabinschrift
filix am 24.5.16 um 14:23 Uhr, überarbeitet am 24.5.16 um 14:25 Uhr (Zitieren)
Der „quisquis“-Satz hat aber nun einmal restriktiven Charakter, den die lockere Apposition nicht einholt, auch ist von Erfahrenheit, also einem Reichtum an Erfahrungen, welche Bedeutung das substantivierte Adjektivkompositum in sich trägt, im Lat. nicht die Rede.
Wer Ovids Verbalstil treubleiben will, muss überdies auf Knappheit nicht verzichten - Holzberg beispielsweise wählt eine V1-Stellung, um die Bedingung auszudrücken: „liebtest du je“. Alternativen: „sofern du geliebt“ & c.
 
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