Γραικύλος schrieb am 10.07.2024 um 00:00 Uhr (Zitieren)
Ein gewisser Sixto Rodriguez aus Detroit hat im Jahre 1970 ein Album unter dem Titel „Cold Fact“ aufgenommen. Von einigen Fachleuten wurde er hoch geschätzt, weshalb eine Plattenfirma ihn unter Vertrag genommen und dieses Album herausgebracht hat. Der Verkauf in den USA blieb allerdings mehr als mau, und als 1971 ein zweites Album, „Coming from Reality“, sich noch schlechter behauptete, wurde sein Vertrag gekündigt, wonach Rodriguez sich wieder in sein von Armut und harter körperlicher Arbeit – als Abrißhelfer im verkommenden Detroit – geprägtes Leben zurückzog. Eine sehr kurze und sehr eindeutig gescheiterte Künstler-Karriere, wie es schien.
Auf irgendwelchen Wegen hatten jedoch einzelne Exemplare von „Cold Fact“ es nach Südafrika geschafft. Dort lösten sie unter den Jugendlichen des weißen Mittelstandes, mit dem Apartheidsregime hadernd, eine wahre Begeisterungswelle aus. Das war eine Musik für sie, unangepaßt inmitten eines auch durch weltweiten Kulturboykott isolierten Landes! Sixto Rodriguez wurde „bigger than Elvis“, beliebter als die Beatles oder die Rolling Stones.
Über den Künstler selbst war freilich in Südafrika gar nichts bekannt. Man munkelte, er habe sich bei einem letzten Konzert auf offener Bühne selbst verbrannt oder in den Kopf geschossen. Legenden, mehr nicht.
Zwanzig Jahre später machte sich ein südafrikanischer Journalist, zunächst aus einer Laune heraus, an die Aufgabe heran, etwas über die Person und das Leben von Sixto Rodriguez herauszufinden. Es lag nahe, sich zunächst an seine Plattenfirma in den USA zu wenden – die war ja auf dem Album angegeben. Ein Anruf dort ergab die Bitte, am nächsten Tag erneut anzurufen, und als der Journalist dies tat, war die Nummer gelöscht. Das nun traf ihn in seiner Berufsehre, das ließ ihn Blut lecken. Da war etwas faul!
In mühsamer Kleinarbeit eruierte er aus den Liedtexten geographische Angaben, die irgendetwas über die Herkunft von Rodriguez erkennen ließen. Da fand sich ein Hinweis auf eine Frau, die der Sänger in einem Ort getroffen haben wollte, den der Journalist als Vorort von Detroit identifizieren konnte.
Er ermittelte dann unter „Rodriguez“ eine Telephonnummer in Detroit, die er anrief. Eine junge Frau meldete sich. „Kennen Sie einen Sixto Rodriguez?“ – „Ob ich den kenne? Das ist mein Papa!“ – „Sie sind seine Tochter! Und was ist mit ihm? Ist er tot?“ – „Tot? Nein, der lebt, hier in Detroit.“
So kam eine Verbindung zwischen Südafrika und Sixto Rodriguez zustande. Es stellte sich heraus, daß dieser nicht die geringste Ahnung davon hatte, in Südafrika extrem berühmt zu sein. Zwar waren die Tantiemen an die Plattenfirma in den USA überwiesen worden, diese hatte sie jedoch nicht weitergeleitet, weil der Vertrag ja aufgelöst worden war. Wo das Geld geblieben ist, ist bis heute Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung.
Sixto Rodriguez war also berühmt und erfolgreich, ohne etwas davon zu wissen oder davon zu haben.
Er hat dann noch einige umjubelte Tourneen in Südafrika (mit 20000 bis 30000 ekstatischen Besuchern in der Halle) absolviert, an seinem Leben in seiner Detroiter Bruchbude, die er seit 40 Jahren bewohnte, jedoch nichts geändert und das nunmehr verdiente Geld an Familienangehörige und Freunde verschenkt. 2023 ist er gestorben.
Über diesen Fall ist ein Dokumentarfilm unter dem Titel „Searching for Sugarman“ gedreht worden, der 2013 den Oscar als bester Dokumentarfilm gewonnen hat. Der Titel nimmt darauf Bezug, daß einer von Rodriguez‘ beliebtesten Songs in Südafrika „Sugarman“ hieß. Er ist einem Drogendealer gewidmet, über den ein im Film interviewter Freund sagt: „Ja, der spielte bei uns im Viertel eine große Rolle und hieß Volkswagen Frank.“
Man kann den Song vergleichen mit dem etwas älteren, ungleich berühmteren Drogenhändler-Song „Mr. Tambourine Man“ von Bob Dylan bzw. den Byrds. „Sugarman“ hat, so mein Eindruck, nicht die gleiche magische Kraft, die einen ins Nichts zieht, aber es ist kein schlechtes Lied, ganz und gar nicht.
Doch das ist zweitrangig neben dem Umstand, daß das möglich ist: seinen mehr oder weniger frustrierenden Alltagsgeschäften nachzugehen und dabei, ohne davon irgendetwas zu ahnen, in Papua-Neuguinea oder sonstwo „bigger than Elvis“ zu sein.
(Wolfgang Weimer)
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
filix schrieb am 10.07.2024 um 01:03 Uhr (Zitieren)
Der Artikel in der englischsprachigen Wikipedia behauptet allerdings, Sixto Rodriguez wäre durch eine Internetseite, die ein Fan eingerichtet habe in den späten 1990ern, um ihn zu finden, von seiner Popularität in Südafrika in Kenntnis gesetzt worden.
Womit wir bei einem wesentlichen Punkt wären - die Formulierung, dass das möglich ist, reizt zum Widerspruch, man möchte 25 Jahre Erfahrung mit dem Netz später das Tempus ändern, hat es doch die Chancen auf solchen dem Berühmten verheimlichten Ruhm vernichtet und an seine Stelle die gesetzt, die sich in ihm berühmt zu sein einbilden dürfen, ohne je zu erfahren, dass sie es sonst nirgendwo sind.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Γραικύλος schrieb am 10.07.2024 um 16:04 Uhr (Zitieren)
Die Informationen in Wikipedia weichen von denen im Film, auf den ich mich beziehe, mehrfach ab - am auffallendsten in der Hinsicht, daß Wikipedia behauptet, Rodriguez sei auch in Australien und Neuseeland berühmt gewesen, während der Film gerade auf die Situation weißer Jugendlicher in der Spätphase der Apartheid in Südafrika Bezug nimmt.
Worin beide Quellen übereinstimmen, ist der Umstand, daß Rodriguez berühmt war, ohne es zu wissen und ohne Geld dafür zu bekommen, weil dieses irgendwo versickert ist.
Ist das heute, in Zeiten des Internets, nicht mehr möglich?
Da bin ich mir nicht so sicher. Es hängt 1. davon ab, ob die Person das Internet nutzt (es gibt weltweit immer noch viele Menschen, die das nicht tun), und 2. davon, ob der Ruhm explizit mit dem Namen des Betreffenden verbunden ist; wenn z.B. ich in Chile als "El Griego" oder "El Loco" berühmt bin, dann bekomme ich das möglicherweise nicht mit.
Ich stelle mir gerade einen Mönch strenger Observanz vor, über den ein Pilger den Ruf besonderer Heiligkeit in seinem Heimatland verbreitet hat (inkl. einträglichem Devotionalienhandel), ohne daß der Mönch das weiß.
Klar, der umgekehrte Fall ist wahrscheinlicher.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
filix schrieb am 10.07.2024 um 16:27 Uhr (Zitieren)
Dass über 2 Milliarden Menschen offline sind (und die wenigsten davon aus freien Stücken), ist durchaus richtig, aber man müsste schon andernorts mit etwas Ruhm erlangen, das zwar in klassischen Reproduktionsmedien zirkuliert, aber ohne Echo im Kommunikationszusammenhang, den das Netz geschaffen hat, bleibt, wo ja alles, was sich digitalisieren lässt, strömt, kommentiert und bewertet wird. Der erreicht auch irgendwann den Nichtnutzer, wenn er nicht von lauter Nichtnutzern umgeben ist. Die Konstellation eines Ruhm herstellenden Distributions- und Kommunikationssystems, das davon aber völlig entkoppelt arbeitet, scheint mir immer unwahrscheinlicher. Nordkorea vielleicht.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Γραικύλος schrieb am 10.07.2024 um 18:09 Uhr (Zitieren)
Zwar bin ich kein Kartäuser, aber nicht sehr bewandert im Internet (ebensowenig die meisten meiner Freunde) und benutze Google höchst ungern & selten, nur MetaGer.
Mir könnte das durchaus passieren. Und was die Überweisung von Tantiemen angeht ... schweigen wir darüber.
Bei Dir habe ich immer den Eindruck, daß Du Dich im Netz bewegst wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Gib mir also bitte Bescheid, falls Du etwas erfährst.
Bei dieser Gelegenheit: Kanntest Du Sixto Rodriguez?
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
filix schrieb am 10.07.2024 um 21:50 Uhr (Zitieren)
Nein, Sixto (tatsächlich das sechste Kind seiner Eltern) Rodriguez war mir kein Begriff. Selbstredend würde ich dich nicht in Unkenntnis lassen, solltest du mir im Netz irgendwo als ebenso verehrter wie geheimnisum(t)witterter Autor eines polytheistischen Evangeliums unterkommen.
Apropos Weltentsagung und Ruhm, ich weiß nicht mehr in welcher Vita frühchristlicher Eremiten ich gelesen habe, dass nämlicher Wüstenvater bald solches Ansehen und Verehrung genoss, dass er, der ja nicht im vollkommen Unzugänglichen, mehr in noch fußläufiger Distanz zur Menschenwelt hauste, ständig Besuch erhielt, um Rat und Beistand gefragt wurde usf., sein einsames Leben sich also zu seinem Ärger nahezu ins Gegenteil verkehrte.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Marcella schrieb am 10.07.2024 um 22:20 Uhr (Zitieren)
Der Eremit könnte Simeon, der erste Säulenheilige sein..
Eben wegen des Andrangs zur Klause und der ständigen Konsultationen soll er auf die Säule gestigen sein, die auch noch erhöht werden musste.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
filix schrieb am 11.07.2024 um 13:25 Uhr (Zitieren)
Der Stylit wird es wohl gewesen sein, danke - weißt du zufällig, wo genau steht, dass er, um seiner Popularität zu entkommen, auf die Säule stieg?
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Marcella schrieb am 11.07.2024 um 16:10 Uhr (Zitieren)
Leider nein. Es war mein Reiseführer, der das berichtete. Plausile schien mir das schon.
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Marcella schrieb am 11.07.2024 um 16:10 Uhr (Zitieren)
Plasile > Plausibel
Re: Berühmt, ohne es zu wissen
Γραικύλος schrieb am 11.07.2024 um 16:37 Uhr (Zitieren)