Γραικύλος schrieb am 31.07.2024 um 00:15 Uhr (Zitieren)
(Erec Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt 1970, S. 85 f.)
Re: Reinkarnation bei den Griechen
filix schrieb am 31.07.2024 um 13:54 Uhr (Zitieren)
Das liest sich für mich wie eine deren Bedeutung in der Antike verzerrende Rückprojektion der neuzeitlichen Theodizee ("warum die Götter soviel menschliches Leid, und vorzüglich das unverdiente der Unschuldigen, zuließen" - Lissabon lässt grüßen) als treibende Kraft der Entwicklung. Die anstößige stellvertretenden Buße für die Untat anderer klingt mir verdächtig nach Widerstand gegen die Erbsünde, weniger gegen Sippenhaftung und Kollektivstrafe in irdischen Zusammenhängen gerichtet.
Auch die Kennzeichnung ihres Protagonisten wirkt sehr modern: das aus göttlichen oder natürlichen Weltordnungszusammenhängen gelöste Individuum, das als solches und in jedem seiner Exemplare Wert, Würde und Rechte besitzt - c'est nous.
Auf der anderen Seite stehen die Götter, aber ihre Darstellung geht irgendwie in diesem später Epikur zugeschriebenen mehr spekulativen Trilemma auf, das aus der Zuschreibung von Allmacht und Güte an einen Gott sich ergibt, das ist aber doch schwerlich eine in der "Spätarchaik" allgemeinreligiöse Vorstellung, was die Gutes und Böses vereinende Natur der Götter angeht.
Die Darstellung verdunkelt zudem die m.E. nicht so leicht zu ermittelnde Grenze zwischen weite Teile der Gesellschaft betreffenden religiösen Überzeugungen und dem später aus theoretischen Überlegungen gewonnenen Philosophenglauben mit zudem verschiedenen Motiven. Die Seelenwanderungslehre Platons dient doch nicht vorrangig der Lösung des geschilderten Problems. Was wären denn überhaupt die Belege für weit verbreiteten Reinkarnationsglauben in Dodds Verständnis seiner Funktion? Wie steht es mit dem Einfluss der Ägypter (und anderer Vorläufer)? Ist es zwingend eine moralische Krise, die so einen Wechsel der Glaubensüberzeugung motiviert, gibt es nicht auch andere Gründe? Epikur und die Stoa werden später ganz andere Antworten geben, ohne dass am Zustand der Welt sich in diesem Punkte wesentlich etwas geändert hat.
Re: Reinkarnation bei den Griechen
Γραικύλος schrieb am 31.07.2024 um 23:37 Uhr (Zitieren)
Als Beschreibung einer religiösen Entwicklung in Griechenland halte auch ich das für verfehlt bzw. für eine Rückprojektion.
Als logische bzw. psychologische Systematisierung von Positionen zur Gerechtigkeitsproblematik (Theodizee-Problem) hat es mich angeregt. So hatte ich den Reinkarnationsglauben noch nicht gesehen.
Re: Reinkarnation bei den Griechen
filix schrieb am 01.08.2024 um 11:47 Uhr (Zitieren)
Wie ist das nostra aetate? Mir scheint, dass neben mehr oder minder synkretistischen Spielarten fernöstlicher Reinkarnationsvorstellungen sich solche großer Beliebtheit erfreuen, für die die Wiedergeburt bar jeder moralischen Funktion ist, vielmehr als existentielles Abenteuer der durch die Zeiten wandernden Seele phantasiert wird, ein gigantisches Rollenspieltheater der Weltgeschichte. Das kann quasi psychotherapeutische Funktion erhalten, wird versucht sich in seiner Gegenwart aus denen zu verstehen, die man gewesen zu sein meint, da aber doch biographisch-charakteriologisch, nicht im Sinne der Sühne oder ausgleichenden Gerechtigkeit. Oder es wird einfach nur als bevorzugt um leading characters kreisendes Gedankenspiel konsumiert, dass man Kleopatra war oder Napoleons Pferd Marengo, hat darüber hinaus aber nichts zu bedeuten.