α β γ δ ε ζ η θ ι κ λ μ ν ξ ο π ρ ς σ τ υ φ χ ψ ω Α Β Γ Δ Ε Ζ Η Θ Ι Κ Λ Μ Ν Ξ Ο Π Ρ C Σ Τ Υ Φ Χ Ψ Ω Ἷ Schließen Bewegen ?
Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Reinkarnation bei den Griechen (263 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 31.07.2024 um 00:15 Uhr (Zitieren)
Moralisch gesehen bot die Reinkarnation eine befriedigendere Antwort auf die spätarchaische Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit als die Erbschuld oder die Bestrafung nach dem Tode in der jenseitigen Welt. Mit der wachsenden Emanzipation des Individuums aus der alten Familiengemeinschaft, mit seinen zunehmenden Rechten als gerichtlich geschützter „Person“ begann die Vorstellung von der stellvertretenden Buße für die Untat eines anderen anstößig zu werden. Wenn einmal das menschliche Recht anerkannt hat, daß man nur für seine eigenen Taten verantwortlich ist, dann muß das göttliche Recht früher oder später sich angleichen.

Die Bestrafung nach dem Tode erklärt hinlänglich, warum die Götter die diesseitigen Erfolge der Gottlosen zu tolerieren schienen, und die neue Lehre nutzte dies tatsächlich bis zum letzten aus, indem sie den Kunstgriff der „Unterweltreise“ dazu anwandte, die Schrecken der Hölle realistisch und anschaulich der Einbildungskraft vorzustellen. Aber diese Art der Bestrafung konnte nicht erklären, warum die Götter soviel menschliches Leid, und vorzüglich das unverdiente der Unschuldigen, zuließen.

Die Reinkarnation konnte das. Nach ihrer Sicht war keine menschliche Seele unschuldig: Sie alle büßten, in verschiedenem Maße, für Verbrechen von unterschiedlicher Schwere, die sie in früheren Leben begangen hatten. Und die ganze elende Fülle des Leids, sei es in dieser oder in einer ande-ren Welt, war nur ein Teil der langen Läuterung der Seele, einer Läuterung, die schließlich ihre Erfüllung fand in der Lösung aus dem Kreis der Geburten und in der Rückkehr zum göttlichen Ursprung. Nur auf diese Weise, und nur in den Dimensionen einer kosmischen Zeitrechnung, konnte Gerechtigkeit im vollen archaischen Sinne – die Gerechtigkeit also, daß „der Täter leiden soll“ – für jede Seele ganz realisiert werden.

(Erec Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt 1970, S. 85 f.)
Re: Reinkarnation bei den Griechen
filix schrieb am 31.07.2024 um 13:54 Uhr (Zitieren)
Das liest sich für mich wie eine deren Bedeutung in der Antike verzerrende Rückprojektion der neuzeitlichen Theodizee ("warum die Götter soviel menschliches Leid, und vorzüglich das unverdiente der Unschuldigen, zuließen" - Lissabon lässt grüßen) als treibende Kraft der Entwicklung. Die anstößige stellvertretenden Buße für die Untat anderer klingt mir verdächtig nach Widerstand gegen die Erbsünde, weniger gegen Sippenhaftung und Kollektivstrafe in irdischen Zusammenhängen gerichtet.

Auch die Kennzeichnung ihres Protagonisten wirkt sehr modern: das aus göttlichen oder natürlichen Weltordnungszusammenhängen gelöste Individuum, das als solches und in jedem seiner Exemplare Wert, Würde und Rechte besitzt - c'est nous.

Auf der anderen Seite stehen die Götter, aber ihre Darstellung geht irgendwie in diesem später Epikur zugeschriebenen mehr spekulativen Trilemma auf, das aus der Zuschreibung von Allmacht und Güte an einen Gott sich ergibt, das ist aber doch schwerlich eine in der "Spätarchaik" allgemeinreligiöse Vorstellung, was die Gutes und Böses vereinende Natur der Götter angeht.

Die Darstellung verdunkelt zudem die m.E. nicht so leicht zu ermittelnde Grenze zwischen weite Teile der Gesellschaft betreffenden religiösen Überzeugungen und dem später aus theoretischen Überlegungen gewonnenen Philosophenglauben mit zudem verschiedenen Motiven. Die Seelenwanderungslehre Platons dient doch nicht vorrangig der Lösung des geschilderten Problems. Was wären denn überhaupt die Belege für weit verbreiteten Reinkarnationsglauben in Dodds Verständnis seiner Funktion? Wie steht es mit dem Einfluss der Ägypter (und anderer Vorläufer)? Ist es zwingend eine moralische Krise, die so einen Wechsel der Glaubensüberzeugung motiviert, gibt es nicht auch andere Gründe? Epikur und die Stoa werden später ganz andere Antworten geben, ohne dass am Zustand der Welt sich in diesem Punkte wesentlich etwas geändert hat.

Re: Reinkarnation bei den Griechen
Γραικύλος schrieb am 31.07.2024 um 23:37 Uhr (Zitieren)
Als Beschreibung einer religiösen Entwicklung in Griechenland halte auch ich das für verfehlt bzw. für eine Rückprojektion.
Als logische bzw. psychologische Systematisierung von Positionen zur Gerechtigkeitsproblematik (Theodizee-Problem) hat es mich angeregt. So hatte ich den Reinkarnationsglauben noch nicht gesehen.
Re: Reinkarnation bei den Griechen
filix schrieb am 01.08.2024 um 11:47 Uhr (Zitieren)
Wie ist das nostra aetate? Mir scheint, dass neben mehr oder minder synkretistischen Spielarten fernöstlicher Reinkarnationsvorstellungen sich solche großer Beliebtheit erfreuen, für die die Wiedergeburt bar jeder moralischen Funktion ist, vielmehr als existentielles Abenteuer der durch die Zeiten wandernden Seele phantasiert wird, ein gigantisches Rollenspieltheater der Weltgeschichte. Das kann quasi psychotherapeutische Funktion erhalten, wird versucht sich in seiner Gegenwart aus denen zu verstehen, die man gewesen zu sein meint, da aber doch biographisch-charakteriologisch, nicht im Sinne der Sühne oder ausgleichenden Gerechtigkeit. Oder es wird einfach nur als bevorzugt um leading characters kreisendes Gedankenspiel konsumiert, dass man Kleopatra war oder Napoleons Pferd Marengo, hat darüber hinaus aber nichts zu bedeuten.
 
Antwort
Titel:
Name:
E-Mail:
Eintrag:
Spamschutz - klicken Sie auf folgendes Bild: Küste

Aktivieren Sie JavaScript, falls Sie kein Bild auswählen können.