Bukolos schrieb am 24.06.2025 um 16:18 Uhr (Zitieren)
Nun ist fellare allerdings keine Praxis weiblicher Homosexualität. Und von den beiden im LSJ angeführten Belegen ist das Subjekt in der Lukianstelle männlich. Beim spätantiken Lexikographen Hesychios (λ 692) dagegen findet sich die Erklärung: λεσβιάζειν· πρὸς ἄνδρα στόμα μολύνειν· Λεσβιάδας γὰρ τὰς λαικαστρίας ἔλεγον ("lesbiazein: sich bei einem Mann den Mund beschmutzen; die Laikastriai [also Frauen, die das λαικάζειν praktizierten] bezeichnete man nämlich als Lesbierinnen"). Hier wären also Frauen die Subjekte und Männer die Objekte des λεσβιάζειν. Dafür, dass λεσβιάζειν für weibliche Homosexualität verwendet wurde, finde ich keine Belege.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 24.06.2025 um 16:25 Uhr (Zitieren)
Ich verweise auf meine vorbildlich dezente Erläuterung:
F bezieht sich auf φ.
Möge Bukolos sein „Imprimatur“ geben.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 24.06.2025 um 16:42 Uhr (Zitieren)
Aristophanes, Frösche 1308:
(Dionysos über eine alte Frau:) "αὔτη ποθ' ἡ Μοῦσ' οὐκ ἐλεσβιάζειν, οὔ."
Das sagt nun nichts darüber, an wem sie das nicht macht.
Was ich nicht verstehe: Wenn sich das nicht auf eine lesbische Praxis bezieht, worin besteht dann der Bezug zu Lesbos?
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 24.06.2025 um 16:49 Uhr (Zitieren)
Der Passow erläutert λεσβιάζω: nach Art der Lesbierinnen leben, d. i. unnatürliche Unzucht treiben, durch die die Weiber von Lesbos berüchtigt waren.
Für welche unnatürliche Unzucht waren sie denn berüchtigt?
Ich sehe allerdings das Problem ein, daß die (wenigen) Belegstellen einen Bezug zur weiblichen Homosexualität nicht hergeben. Selbst im vorliegenden Gedicht von einer Praxis zwischen Mann und Frau die Rede.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 24.06.2025 um 16:50 Uhr (Zitieren)
Gedicht von -- Gedicht ist von
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 24.06.2025 um 16:56 Uhr (Zitieren)
Als Hinweis dies:
Im Englischen umfasst „sodomite“ ein weites semantisches Spektrum.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 24.06.2025 um 17:13 Uhr (Zitieren)
So wie die Sodomie sich auf Sodom bezieht und deshalb ursrpünglich etwas damit zu tun hat - was immer man dann im späteren Sprachgebrauch daraus gemacht hat-, so suche ich auch irgendeinen Bezug zu Lesbos.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 24.06.2025 um 18:26 Uhr (Zitieren)
Hilft der Eintrag im engl. Wikipedia womöglich?
Before the mid-19th century,[10] the word lesbian referred to any derivative or aspect of Lesbos, including a type of wine.[b]
Use of the word lesbianism to describe erotic relationships between women had been documented in 1870.[12] In 1875, critic George Saintsbury referred to Baudelaire's poem "Delphine and Hippolyte" (a poem about love between two women and without reference to Lesbos) as "Lesbian".[13] In 1890, the term lesbian was used in a medical dictionary as an adjective to describe tribadism (as "lesbian love"). The terms lesbian, invert and homosexual were interchangeable with sapphist and sapphism around the turn of the 20th century.[12] The use of lesbian in medical literature became prominent; by 1925, the word was recorded as a noun to mean the female equivalent of a sodomite.
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 24.06.2025 um 19:27 Uhr (Zitieren)
Der Bezug zu Lesbos besteht in der melischen Dichtung von der Insel Lesbos. Peter Rau übersetzt den Vers (unter Verzicht auf die sexuelle Konnotation): "Die Muse hat mit Lesbos’ Dichtern nichts zu tun."
Aus Hesychios wird nur erkennbar, dass auf Lesbos die heterosexuelle (!) Praxis der Fellatio üblich war, die aber in Athen nichtsdestoweniger für anstößig gegolten haben mag. Ein Scholion zur Aristophanesstelle erläutert anhand eines Fragments aus dem Chiron des Pherekrates (fr. 159):
Das Fragment bezieht sich offenbar auf Ilias 9, 270, die Bittgesandtschaft an Achill. Die Sprecher sind vermutlich Odysseus (A) und ein anderer aus der Gesandtschaft oder Achill (B). Auch hier geht es um heterosexuelle Sexualhandlungen von Frauen, auch wenn die Bedeutung von λαικαστρία (und λαικάζειν) ähnlich unklar ist wie die von λεσβιάζειν.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 24.06.2025 um 20:05 Uhr (Zitieren)
Die Vorstellung, dass die Frauen von Lesbos die Fellatio erfunden haben, findet sich auch in einem Scholion zu Aristophanes' Wespen 1346. Zu der Zeit war die berühmteste Einwohnerin der Insel noch keine Lesbe, den Ruf erhält sie erst später, das Verb löst sich aber offenbar schon vorher von einer bestimmten sexuellen Praktik und bezeichnet allgemein übel beleumundetes Sexualverhalten (λεσβιάζειν in antiquity was associated with various forms of sexual debauchery - Sex and the Ancient City
Sex and Sexual Practices in Greco-Roman Antiquity, DeGruyter 2022, S. 127)
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 24.06.2025 um 20:24 Uhr (Zitieren)
Das ist informativ; mir bleibt allerdings (anders als bei der Sodomie) unklar, warum sich solche Vorstellungen gerade mit Lesbos verbunden haben.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 24.06.2025 um 21:10 Uhr (Zitieren)
Könnte sein, dass die ja auch uns teilweise noch vertraute territoriale Projektion von zunächst tabuisierten oder als besonders freizügig angesehenen Sexualpraktiken (Französisch et cetera) hier aufgrund der negativen Konnotation des gebenden Parts beim Oralverkehr in der Antike und der Tatsache, dass es nur Frauen betrifft, eine Spitze gegen das protoemanzipatorische Milieu der Insel, das man hinter einer Figur wie Sappho vermuten kann, enthält, also eine Art disziplinarische abwertende Sexualisierung von gewissen Rollenerwartungen nicht entsprechenden Frauen darstellt, die uns ebenfalls nicht unbekannt ist in der Gegenwart.
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 24.06.2025 um 21:17 Uhr (Zitieren)
Offenbar wurden ja den verschiedensten Inseln, Städten und Landschaften eigene Sexualpraktiken zugeschrieben (σιφνιάζειν, χιάζειν, κρητίζειν u. v. m.). Ähnlich den heute im Deutschen gebräuchlichen ethnischen Labels für bestimmte Sexualpraktiken (französisch, griechisch usw.) wird dabei wohl eher Othering als ethnologische Wahrheit eine Rolle spielen.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 24.06.2025 um 21:20 Uhr (Zitieren)
Vorsicht sei geboten:
Osculum infame, die Hexe küsst den … des Teufels.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 24.06.2025 um 21:47 Uhr (Zitieren)
Das geographische Othering scheint mir heute in vielen Kulturen globalen Anglizismen gewichen (Blowjob, Fisting, Scissoring …), ihnen kommt dabei in gewisser Weise eine entfernt an die einstige Rolle des Lateinischen erinnernde schamsuspendierende Rolle zu, die die Praktiken kommunikabel macht, allerdings ohne dessen akademische, elitäre, und mehr ins Medizinale spielende Exklusivität. Sie sind vielmehr massentauglich, cool, unverblümt-pornographisch, aber auch irgendwie unemotional.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 24.06.2025 um 21:58 Uhr (Zitieren)
Was zum Titel des Threads zurückführt und zur Frage, warum der sperrige lateinische Cunnilingus keinen annähernd global so erfolgreichen nominalen Anglizismus an die Seite gestellt bekommen hat wie der Blowjob, der auf Pornoseiten ebenso zu Hause ist wie im Feuilleton (falls die Kategorie noch irgendetwas zu bedeuten hat).
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 24.06.2025 um 22:15 Uhr (Zitieren)
Auf Island heißt die vielfach soeben angesprochene Praktik „Mundvulkan“. Die konventionelle Praktik heißt dort „Eldfjall“, also Feuerberg. Gewisse Anglizismen, die filix unerwähnt angesprochen hat, sind auch in Island inzwischen bekannt und im Schwange.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 00:06 Uhr (Zitieren)
Bukolos' Hinweis zeigt, daß es dafür im Griechischen mehrere Beispiele gibt.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 06:11 Uhr (Zitieren)
... der letzte überflüssige Anglizismus zu sein. Welche entzückende Praktik verbirgt sich dahinter?
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 10:18 Uhr (Zitieren)
Die Praxis, an etablierte sozialwissenschaftliche Begrifflichkeiten anzuschließen (siehe u.a. den dt. Wikipedia-Artikel), damit die Leserschaft bei der Verwendung von so eleganten Alternativen wie Andersmachung (ibidem) nicht cringen muss.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 10:35 Uhr (Zitieren)
Aber Verfremdung täte es auch, oder?
Othering, au Backe!
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 10:55 Uhr (Zitieren)
???
Gibt es dafür kein Wort?
Die liebwerten Sozialwissenschaftler plappern etwas vom othernen Vorplapperer nach, noch nicht mal für eine Übersetzung ist die Landessprache denen gut genug.
Jener "Wissenschaftszweig" macht sich auf diese weise bei mir als Ureinwohner maximal unbeliebt.
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 25.06.2025 um 11:05 Uhr (Zitieren)
Den Verfremdungsbegriff wirst du wohl aus dem theatralen Kontext, in dem er seit Brecht verhaftet ist, und von seiner ganz abweichenden Bedeutung nicht mehr lösen können.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 11:06 Uhr (Zitieren)
Nicht ganz unwahrscheinlich, dass es aus der gleichen Ecke kommt, wie das strenge Gebot, das Wort farbige durch POC zu ersetzen. Den hiesigen Ureinwohnern wird Anglizismus auch noch als Abkürzung aufgezwungen. Wer sich nicht fügt, wird gnadenlos geothert.
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 25.06.2025 um 11:09 Uhr (Zitieren)
Mir fehlt die Zeit dafür ...
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 11:11 Uhr (Zitieren)
Offensichtlich tut es das nicht, wird dort auch nicht vorgeschlagen, schon weil der Begriff mit dem ja nicht deckungsgleichen literarischen Stilmittel der Verfremdung konkurrieren müsste. Ein etablierter konzeptueller Anglizismus leistet mehr, als eine scheinbar wörtliche Übersetzung glauben machen will, er bespielt ein eigenes semantisches Feld, ruft wissenschaftliche und ideengeschichtliche Kontexte auf und stellt, das ist der Stand der Dinge, ob er einem gefällt oder nicht, internationale Anschlussfähigkeit in der wissenschaftlichen Kommunikation her. Polemik von selbsternannten Ureinwohnern wird das nicht ändern, allenfalls die Wissenschaftsgemeinde und ihre akademische Praxis selbst, für eine konsequente Terminologietransferbewegung zurück zu Nationalsprachen, die ja im deutschsprachigen Raum mit zusätzlichem historischen Ballast zu kämpfen hat, gibt es derzeit offensichtlich keinen breiten Rückhalt.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 11:12 Uhr (Zitieren)
Anders gesagt: deal with it. :)
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 25.06.2025 um 11:48 Uhr (Zitieren)
Mein nahezu liebster Anglizismus ist „Illeismus“, „illeism“.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 13:09 Uhr (Zitieren)
Die internationale wissenschaftliche Kommunikation findet auf denglisch statt, nicht auf englisch?
Falls othering irgendetwas wäre, was außerhalb des Elfenbeinturms der Sozialwissenschaftler von Bedeutung sein sollte, also mehr als ein terminus technikus, wäre die Übersetzung nicht zuviel verlangt.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 13:19 Uhr (Zitieren)
Schon recht, den Status als Ureinwohner dürfen ausschließlich nichtweisse selbstbestimmt beanspruchen. Den anderen könnte es evtl. ausnahmsweise gestattet werden, ein Atragsformular zwecks Erteilung eines Antragsformulars untertänigst zu erbitten.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 13:29 Uhr (Zitieren)
Was filix beschreibt, erleichtert die Kommunikation unter internationalen Wissenschaftlern und erschwert die Kommunikation mit Nicht-Wissenschaftlern.
Man sollte zumindest die altbekannten Probleme einer Fachsprache nicht unbeachtet lassen. Zumindest nicht dort, wo sie auch andere Menschen verständlich ansprechen möchte.
[Es gibt eine hübsche Satire von Karl Popper über den Sprachgebrauch von Adorno und Habermas.]
Wenn ich "Othering" erst erklären muß, kann ich auch erklären, wie ich "Verfremdung" meine. Auf einem internationalen Gräzisten-Kongreß (gibt es das noch?) mag die Sache anders aussehen.
Ich habe primär den Wunsch, die Beschäftigung mit der Antike populärer zu machen.
Re: Cunnilingus
Werner schrieb am 25.06.2025 um 13:30 Uhr (Zitieren)
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 13:42 Uhr (Zitieren)
Tja, Mensch braucht sich nichts einzubilden auf diese Erfindung. Affen machen es auch.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 14:02 Uhr (Zitieren)
Ich wüsste nicht, wo in der Diskussion hier der Gewinn solcher Erklärung des aus genannten Gründen kaum tauglichen Begriffs der Verfremdung für die Popularität läge. Die von Bukolos, der Othering eingeführt hat, und mir gebrachten Beispiele und die, statt mit unsachlicher Polemik gegen Elfenbeintürme aus der autochthonen Trutzburg vergeudete, in eine kurze Lektüre des WP-Artikels oder des KI-Outputs investierte Zeit sollte doch im Kontext des Threads genügen, dessen massentauglicher Aspekt hoffentlich sein sexueller Content ist.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 14:14 Uhr (Zitieren)
filix, ich stimme dir zu, Verfremdung ist es nicht. Das Wort ist bekannt und hat eine Nedeutung, welche nicht zum Kontext passt.
Und sorry, ja ich war ein bisschen polemisch.
Hat aber nix mit Autochtonismus zu tun, als vielmehr mit der Wahrnehmung, dass dem Normalverbraucher permanent denglisches Gedöns verareicht wird, ob er will oder nicht. Irgendwann kommt der Punkt der Übersättigung und ein Vomit ist nicht mehr aufzuhalten.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 14:15 Uhr (Zitieren)
Sorry tippo, Bedeutung
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 14:18 Uhr (Zitieren)
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 14:26 Uhr (Zitieren)
Es kann ja nicht unerheblich sein, mit wem man kommuniziert. "Othering" jenseits von Fachpublikum zu verwenden, halte ich für problematisch.
Ich erinnere mich, vor vielem Jahren gelesen zu haben, Kannibalismus sei ein "Out-of-border-Phänomen", d.h. er werde immer nur den anderen zugesprochen: "Die da, die machen das! Wir nicht!"
Das scheint mir nun ein ähnlicher, aber offenbar inzwischen durch einen anderen Begriff abgelöster Fachterminus zu sein.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 16:05 Uhr (Zitieren)
nämlich in die Reihe:
III.
Breathing
Gathering
Brathering
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 16:09 Uhr (Zitieren)
... hahaha, so ist es, einer von den Bratheringen :)
Wir können es kaum beeinflussen. Ich wollte filix und buko nicht ärgern, die haben es ja auch nicht erfunden.
Also keine bloße Distanzierung oder Abgrenzung, sondern eine Distanzierung + Abwertung.
Muss man das unbedingt in einem Wort zusammenfassen? Kein Wunder, dass es dafür keine dt. Einzelwortentsprechung gibt. Es ist Teil der Postkolonialideoligie, einer genuin amerikanischen Ideologie.
Man könnte sagen, abwertende Distanzierung, das wäre sprachlich adhoc verständlich. ABER, ist so eine einfache Verständlichkeit von seiten der Postkolonials überhaupt erwünscht?
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 25.06.2025 um 16:11 Uhr (Zitieren)
Die südhessische Gemeinde Otzberg hat mehrere Ortsteile, darunter auch:
OT Hering.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 17:29 Uhr (Zitieren)
No hard feelings, wie mir ein Forist hier mal schrieb.
Kritik an Fachterminologie und Kritik an deren sprachlicher Form sind zwei verschiedene Ebenen. Mir scheint, dass sich die Ablehnung hier weniger auf den begrifflichen Gehalt von Othering richtet – denn sobald man ihn sinngemäß auf Deutsch wiedergibt (z. B. als „abwertende Distanzierung“), wird er offenbar problemlos akzeptiert. Diese Paraphrase halte ich nebenbei für unvollständig, unter anderem weil ihr der Fokus auf die Andersheit fehlt. Es gibt viele Formen abwertender Distanzierung – etwa über ökonomische, geschlechtliche oder altersbezogene Differenzen –, bei denen sich die Beteiligten im Übrigen durchaus noch als prinzipiell Gleiche betrachten. Außerdem ist sie schlichtweg umständlich wie jede Paraphrase, die ein einzelnes Nomen ersetzen soll.
Der Widerstand richtet sich also in meinen Augen weniger gegen das Konzept als gegen die englische Wortform und ihre ideengeschichtliche Verortung im "postkolonialen Diskurs", der schnell als „amerikanische Ideologie“ etikettiert wird. Ironischerweise ein weiteres Beispiel für Othering: die Abwertung und Ausgrenzung eines als „fremd“ markierten Denkstils, nur weil er nicht aus dem eigenen kulturellen oder sprachlichen Kontext stammt. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den Stärken oder Schwächen des Konzepts an sich gerne im diskutierten Fall vermisse ich indes.
Was die Kritik am Gebrauch von Fachbegriffen überhaupt und welcher Sprache immer als vermeintlicher Hemmschuh für die Popularität der Beiträge anlangt, habe ich nach Jahren der Teilnahme hier erhebliche Zweifel daran, dass der dadurch angeblich abgeschreckte Leser, wenn nicht sogar Beiträger, mehr ist als eine Fiktion.
Auch glaube ich, dass zeitgemäße Popularisierung ganz andere Wege gehen müsste (siehe Meister Willbrand b.m., 150 000 Follower über den Tod hinaus), als solchen Sprachverzicht, vom krassen Missverhältnis der Erregung zu schweigen angesichts der gemessen am Gesamtumfang geringen Terminologiedichte im Anlassfall und auch sonst.
Persönlich betrachte ich gerade diese Mischung aus Dilettantismus im besten Wortsinne, stark literarischer Grundierung und gelegentlichen Ausflügen in die Wissenschaften zur Vertiefung einer Interesse auf sich ziehenden Frage, sei sie nun unmittelbar oder auch nur sehr entfernt mit der Antike verknüpft, als die eigentliche Qualität des Forums.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 17:55 Uhr (Zitieren)
Hegels Ausdruck "Abgrenzung vom Anderen"
Ist offensichtlich den heutigen Sprachbenutzern nicht vornehm genug. Wieso das denn? Weil es kein denglisch ist! Diese Abwertung der Ursprungssprache des Konzepts ist keinesfalls der Wissenschaft geschuldet.
Simone verwendete das Wort Othering? Das wage ich zu bezweifeln.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 18:06 Uhr (Zitieren)
... die auch in Wissenschaftskreisen gepflegte Marotte, Denglisch zu benutzen, wo dies den Inhalten noch nicht mal entgegen kommt, macht mich misstrauisch.
Wer mit dem eigentlichen Konzept (Hegel, Simone) sich tiefergehend beschäftigt, braucht das Denglisch gar nicht.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 25.06.2025 um 18:07 Uhr (Zitieren)
Kann und soll ein Anglizismus/Lehnwort eine Lücke im Deutschen füllen oder als Neologismus dienen, um Umständlichkeit zu vermeiden?
Ich denke: ja, sofern keine Alternative gegeben ist. Was bleibt, ist oft die grammatikalische Vertracktheit bei der Eindeutschung (Konjugiere „googeln“)
Andere Anglizismen sind keine (Handy). Etwas entlegen, doch treffend war mein Beispiel „illeismus“. Sehr schwer einzudeutschen. Manches war und ist akzeptabel modisch: Sneaker, Bowler usw.
Gleichwohl könnten wir ein Unterforum eröffnen, quasi eine „Fruchtbringende Gesellschaft“, um übertriebene, überflüssige Gräzismen aufzuspießen. Jedoch geschieht dies bereits, so etwa in rebus sexualibus. This very day!
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 18:34 Uhr (Zitieren)
Erstens sind nicht alle „Postkolonialisten“ Hegelianer, zweitens geht es in dem diskutablen Abschnitt und die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Konzepts, nicht darum, dass sich das alles schon exakt so bei Hegel fände inklusive brauchbarer Terminologie deutscher Zunge, drittens wir vermutlich dem ein oder anderen nach Lektüre einschlägiger Texte zu diesen Zusammenhängen die fremdsprachige Terminologie als zweitrangiges Problem im Verständnisprozess erscheinen, viertens stelle ich es mir witzig, aber keineswegs erhellender vor, wenn der Hegeljargon (an den genannten Problemen änderte er wenig) sich alternativ durchsetzte, fünftens steht in der Wikipedia, Simone de Beauvoir habe das Konzept verwendet, nicht das Wort, sechstens ….
Illeism/Illeismus - mehr Latein und Griechisch geht ja kaum, da wirkt der Engländer praktisch nur als unbedeutende Vermittlungsinstanz im weitaus weniger anrüchigen Leihverkehr.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 18:36 Uhr (Zitieren)
*um die …
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 25.06.2025 um 18:49 Uhr (Zitieren)
Beispielhaft, bereits mal erwähnt:
Ultracrepidarianismus.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 18:51 Uhr (Zitieren)
... damit will ich nicht sagen, dass ich ein Feind der Anglizismen wäre. Es gibt ganz fluffige, kernige, die ein angenehmes flair verströmen.
Wie immer eine Frage der Dosis.
Wenn Eitelkeit und/oder Ideologie sie verteilen, mag ich die Bonbons nicht schlucken.
Der Löwenanteil am Überdruss ist natürlich der Werbebranche zu verdanken.
Re: Cunnilingus
filix schrieb am 25.06.2025 um 18:53 Uhr (Zitieren)
Cunnilingus kommt vielleicht von cunning lingua.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 25.06.2025 um 19:03 Uhr (Zitieren)
... diese Griechen. Schwatzhaft waren sie allemal.
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 25.06.2025 um 23:21 Uhr (Zitieren)
Darauf können wir uns - hoffentlich! - alle einigen. Ich jedenfalls möchte keines dieser Elemente missen. Dazu gehören allerdings gelegentlich auch unterschiedliche Ansichten.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 26.06.2025 um 05:38 Uhr (Zitieren)
Unterschreibe ich bedenkenlos :)
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 26.06.2025 um 09:45 Uhr (Zitieren)
Etwas gewundert habe ich mich über den letzten Satz des (vorläufigen) Schlussworts: "Dazu gehören allerdings gelegentlich auch unterschiedliche Ansichten." Das ist an sich ja eine Selbstverständlichkeit. Durch das adversative allerdings unterstellt nun dieser Kommentar zu filix' Beitrag vom 25.06.2025 um 17:29 Uhr, man müsste ihm diese Selbstverständlichkeit eigens beibringen. Dazu habe ich weder in der in diesem Thread von ihm mit bewunderswerter Geduld geführten Diskussion noch andernorts einen Anlass entdecken können.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 26.06.2025 um 09:49 Uhr (Zitieren)
βροχή, ich frage mich voller Bedenken, ob manch ein Anglizismus faktisch zugleich FLUFFIG und KERNIG sein kann.
Ein moderner, ja persönlicher Fall von coincidentia oppositorum?
Re: Cunnilingus
Γραικύλος schrieb am 26.06.2025 um 10:24 Uhr (Zitieren)
Dieses vorläufige Schlußwort richtet sich nicht speziell an filix, sondern - wie auch geschrieben - an alle.
Re: Cunnilingus
Bukolos schrieb am 26.06.2025 um 11:03 Uhr (Zitieren)
Gut, dann habe ich in das Allerdings etwas hineingelesen, was es nicht enthalten sollte. Es kann ja durchaus auch affirmativ gebraucht werden.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 26.06.2025 um 11:16 Uhr (Zitieren)
Patro, du willst schon wieder alles auf einmal haben, versuche es erst mal anwechselnd.
Re: Cunnilingus
Patroklos schrieb am 26.06.2025 um 11:40 Uhr (Zitieren)
Allerdings
Das Wort scheint sich zum Januswort zu entwickeln, einschränkend oder bejahend.
ISv „Das ist aber teuer!“ - „Allerdings“.
Vgl. dwds.Auch Wikipedia listet „allerdings“ so.
Englisch: contronym.
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 26.06.2025 um 12:51 Uhr (Zitieren)
... es gibt schon immer 2 Bedeutungen
die starke Bekräftigung, die Unterstreichng,
oder der kleine Einwand im Sinne von ja aber...
Re: Cunnilingus
βροχή schrieb am 26.06.2025 um 13:11 Uhr (Zitieren)
echte Januswörter sind sehr selten.
Der Klassiker, umfahren.
In die Rubrik wurden dann ettliche Wörter einsortiert, die es genau betrachtet nicht sind.
z.B.
dämmern
es wird hell - es wird dunkel
Die komplette Bedeutung ohne Gegensatz ist, allmählich ändert sich die Intensität des Tageslichts.