Gibt es natürliche Anlagen, die durch Unterricht nicht zu vermitteln, durch Lernen nicht zu erwerben sind?
Diese Frage ist alt. Pseudo-Longinos (vermutlich 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts u.Z.) schreibt in seiner Schrift Περὶ ὕψους dazu:

γεννᾶται γάρ, φησί, τὰ μεγαλοφυῆ καὶ οὐ διδακτὰ παραγίνεται, καὶ μία τέχνη πρὸς αὐτὰ τὸ πεφυκέναι.
Reinhard Brandt übersetzt:
Denn die große Naturanlage entspringt, so heißt es, der Natur und läßt sich durch Lernen nicht erwerben; dafür gibt es nur eine Vorschrift: mit ihr geboren zu sein.

(II 1)

Mit diesem "man sagt" ist der Autor freilich nicht einverstanden:

Ich hingegen behaupte, es werde sich herausstellen, daß es sich anders verhält; man muß nur in Betracht ziehen, daß die Natur im Leidenschaftlichen und Gehobenen meist nach eigenem Gesetz, aber trotzdem nicht ziellos und ganz ohne Regeln zu verfahren pflegt; und daß sie als der Ursprung, als Prinzip und Element des Werdens allem zugrunde liegt, daß aber die Methode vermag, das rechte Maß und den jeweils günstigen Augenblick (καιρός) festzulegen und überdies eine ganz sichere Schulung und Anwendung der Stilmittel zu schaffen; und daß große Naturen mehr gefährdet sind, wenn man sie ohne Wissen schankend und schwerelos sich selber und ihrem blind verwegenen Drang überläßt, denn häufig bedürfen sie zwar des Sporns, aber genauso auch des Zügels.

Das kann man m.E. so stehen lassen.