Ulrich Crämer hat 1980 (Grabert-Verlag, Tübingen) die Rekonstruktion einer Ur-Odyssee vorgelegt und dabei die folgenden Kriterien angewendet (S. 9):

1. Ein so weitgespanntes Werk reizt Spätere geraderzu, Eindichtungen in Gestalt früherer oder späterer Sagen und Personen vorzunehmen. Was hier homerisch oder nachhomerisch ist, wird freilich an manchen Stellen nicht mit Sicherheit auszumachen sein. Jedenfalls ist es bei solchen Unternehmungen fast unausbleiblich, daß sich - schon oft bemängelte - Wiederholungen, Verschiebungen und Widersprüche einschleichen. Sie gilt es zu bereinigen.
2. Sicher scheint, daß diejenigen Mythen, welche vom Gang der Handlung nur ablenken und nicht dazugehören, auszuschalten sind. Sie sind von späteren "fahrenden Sängern" hinzugefügt, die vielleicht nur zeigen wollten, was sie alles wußten und konnten.
3. Wer die Dichtung unvoreingenommen liest, der wird schon rein gefühlsmäßig den sinnlosen Reisen des Telemachos ("Telemachie") ein gewisses Mißtrauen entgegenbringen. Sie haben für den Gang der Handlung nichts zu bedeuten. Die etwas farblose Gestalt des Zwanzigjährigen stets als "göttlich" (ohne jede Verdienste) darzustellen ist abwegig und zweifellos nachhomerisch. (Da leuchtet der "göttliche" Sauhirt in seiner Geradlinigkeit und Unbeirrbarkeit, Treue und Trauer schon weit eher ein.)

Crämer gibt an, sich über diese Frage mit Wolfgang Schadewaldt ausgetauscht zu haben, der zwischen dem Dichter A und dem Dichter B unterschieden habe, aber nicht mehr dazu gekommen sei, eine eigene Rekonstruktion vorzulegen.

So recht überzeugend finde ich die genannten Kriterien nicht - vor allem, wenn man bedenkt, wie Umwege und Abschweifungen in der Literatur gängig sind und sogar die Spannung durch Verzögerung vergrößern können.

Weiß jemand etwas über diese Diskussion?