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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos? (575 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 13.09.2020 um 16:31 Uhr (Zitieren)
https://www.theguardian.com/books/2006/jul/29/featuresreviews.guardianreview27

Die Stelle in Euripides' "Hippolytos" (V. 856 ff.) habe ich nachgeschaut:
Theseus findet den Leichnam seiner Frau Phädra.
Theseus: Sie doch, sieh!
Was ists? Was hängt an ihrem lieben Arm!
Ein Täfelchen, das Botschaft bringen will?
Schrieb sie als letzte Bitte diesen Brief
In Sorgen um die Söhne, um ihr Bett?
Getrost, du Ärmste! Keinem andern Weib
Steht Theseus' Haus, steht Theseus' Lager offen.
O dieses Siegel deines goldnen Rings,
Noch nach dem Tod entzückt es meinen Sinn.
Schnell lös ich die Umschnürung von dem Wachs:
Ich muß erfahren, was die Tafel spricht.
[ἴδω τί λέξαι δέλτος ἥδε μοι θέλει.]

Chorführerin: O Götter, ist es möglich, richtet nicht
Dies Haus zugrunde, hört mein Flehen an!
Schon schwirrt der Unheilsvogel um das Dach
Und Schlimmes ahnt mein seherischer Sinn.

Theseus: Weh mir! Wie häuft sich neues auf das alte Leid,
Ganz unverhüllbar! unenthüllbar! fürchterlich!

Chor: Was ist es? Darf ichs hören? Tu es kund!

Theseus: Die Tafel ruft,
Die Tafel schreit
Furchtbare Greuel.
O wie entgeh ich
Der Last des Unheils?
Ich bin vernichtet, verloren.
Welch ein Lied,
Schrilles Lied,
Erklang aus der Tafel Zeichen!
O ich Unseliger!

Theseus muß hier also, bevor er dem Chor den Inhalt des Briefes mitteilt, diesen still gelesen haben.
Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
Γραικύλος schrieb am 13.09.2020 um 17:33 Uhr (Zitieren)
Nietzsche gibt die These vor:
[...] Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn Jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo’s, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte. [...]

(Jenseits von Gut und Böse, Zf. 247)

Dabei bezieht er sich vermutlich auf die folgende Augustinus-Stelle, wo er das Verhalten seines Lehrers Ambrosius beschreibt:
Sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, vox autem et lingua quiescebant. Saepe, cum adessemus – non enim vetabatur quisquam ingredi aut ei venientem nuntiari mos erat – sic eum legentem vidimus tacite et aliter numquam sedentesque in diuturno silentio [quis enim tam intento esse oneri auderet?] discedebamus et coniectabamus eum parvo ipso tempore, quod reparandae menti suae nanciscebatur, feriatum ab strepitu causarum alienarum nolle in aliud avocari et cavere fortasse, ne auditore suspenso et intento, si qua obscurius posuisset ille quem legeret, etiam exponere esset necesse aut de aliquibus difficilioribus dissertare quaestionibus atque huic operi temporibus inpensis minus quam vellet voluminum evolveret, quamquam et causa servandae vocis, quae illi facillime ob-tundebatur, poterat esse iustior tacite legendi.

Wenn er aber las, so glitten die Augen über die Blätter, und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten. Oft, wenn ich zugegen war – denn niemand war der Zutritt verwehrt, noch war es üblich, ihm Besuche anzumelden –, sah ich ihn so still ins Lesen versunken, und anders nie. Und war ich dann geraume Zeit schweigend dagesessen – wie hätte man auch gewagt, ihm lästig zu fallen in solcher Sammlung –, so entfernte ich mich wieder und machte mir meine Gedanken: gewiß, er will in dieser knappen Zeit, die er sich zur Erholung seines Geistes abgewann, wenn der Tumult der Geschäfte für andere einmal aussetzte, nicht abgelenkt werden; wenn er liest, so tut er es vielleicht darum nicht laut, weil er sich nicht gern gezwungen sähe, einem aufmerksam hinhorchenden Zuhörer bei dunklen Stellen des Textes Aufklärung zu geben oder mit ihm in die Erörterung schwieriger Fragen einzutreten, wobei er dann wegen dieses Zeitaufwands in seinem Buch nicht nach Wunsch vorankäme; aber auch die Schonung der Stimme, die bei ihm sehr leicht in Heiserkeit übergeht, kann recht wohl der Grund sein, warum er das stille Lesen vorzieht.

(Confessiones VI 3, 3)

Augustinus empfindet das stille Lesen des Ambrosius also als sehr ungewöhnlich.

Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
mitleser schrieb am 13.09.2020 um 17:56 Uhr (Zitieren)
Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
Γραικύλος schrieb am 13.09.2020 um 18:47 Uhr (Zitieren)
Gut. Damit haben wir zwei (drei) weitere Quellen:
[...]
ZWEITER SKLAVE [Nikias] zurückkommend mit einer Rolle:
Was nicht der Paphlagonier schnarcht und farzt!
Leicht war’s, ihm sein Orakelheft zu nehmen,
So gut er’s auch verwahrt.

ERSTER SKLAVE [Demosthenes]:
Gib her, du Schlaukopf,
Und laß mich lesen [φέρ‘ αὐτὸν ἵν‘ ἀναγῶ]! Schenk mir fleißig ein
Inzwischen! Nun laß sehen, was steckt da drinnen? –
Liest Ha, göttliches Orakel! Schnell, den Becher!

ZWEITER SKLAVE:
Hier, nimm! Was sagt es?

ERSTER SKLAVE:
Eingeschenkt! Den zweiten!

ZWEITER SKLAVE:
Steht im Orakel was vom zweiten Becher?

ERSTER SKLAVE:
O großer Bakis!

ZWEITER SKLAVE:
Nun?

ERSTER SKLAVE:
Den Becher, schnell!

ZWEITER SKLAVE:
Der Bakis, scheint es, war im Trinken stark!

ERSTER SKLAVE:
Ha, paphlagon’scher Schelm! Der Spruch auf dich,
Der wurmte dich, daher die Angst, die Vorsicht!

ZWEITER SKLAVE:
So lies!

ERSTER SKLAVE:
Da innen steht sein Untergang!

ZWEITER SKLAVE:
Wie?

ERSTER SKLAVE:
Das Orakel sagt’s mit dürren Worten:
Erst kommt der Werrighändler, der zuerst
In dieser Stadt gebieten wird!

ZWEITER SKLAVE:
Das wär‘
Ein Händler vorderhand. Nun weiter! Lies!

ERSTER SKLAVE:
Schafshändler ist der zweite, der da kommt!

ZWEITER SKLAVE:
Zwei Händler! Und was wird’s mit diesem sein?

ERSTER SKLAVE:
Regieren wird er, bis der dritte kommt,
Ein größrer Schuft als er: der stürzt ihn dann.
[...]

(Aristophanes: Die Ritter V. 115-135)

Hier liest der erste Sklave offenbar erst leise, bevor er seinen Kameraden über den Inhalt informiert.

[...] Als währenddessen von draußen ein kleines Briefchen an Caesar hereingereicht wurde, habe er es schweigend gelesen [τούτῳ δὲ γραμματιδίου μικροῦ προσδοθέντος ἔξωθεν Καίσαρι, τὸν μὲν ἀναγινώσκειν σιωπῇ], Cato [Uticensis] aber habe losgeschrien, das sei ein unerhörtes Verfahren von Caesar, daß er Briefe und Mitteilungen von den Feinden entgegennehme. Als darauf viele einen großen Lärm erhoben, habe Caesar das Täfelchen, wie es war, dem Cato hingereicht, und der habe es durchgelesen und gesehen, daß es ein unanständiges Billet seiner Schwester Servilia war.

(Plutarch: Parallelbiograpien, Brutus 5; vgl. Cato Minor 24)

Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
Γραικύλος schrieb am 14.09.2020 um 08:56 Uhr (Zitieren)
Ich weiß nicht, wie Ihr das seht, aber nach meinem Eindruck beweisen diese Stellen nicht mehr, als daß Menschen in der Antike leisen lesen konnten, wenn sie das aus bestimmten Gründen wollten.
Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 14.09.2020 um 12:00 Uhr (Zitieren)
Die Aristophanes-Stelle könnte jedoch auch so gelesen werden, daß das leise Lesen wohl nicht so üblich war: würde sonst der zweite Sklave die Kommentare des ersten zum Gelesenen so leicht als den eigentlichen Orakeltext mißverstehen? Aber von der komödiantischen Absicht (sitcom avant la lettre) ganz zu trennen ist das natürlich auch nicht.
Re: Lautes Lesen in der Antike - ein Mythos?
Γραικύλος schrieb am 14.09.2020 um 18:28 Uhr (Zitieren)
Im Grunde habe ich bei allen Stellen den Eindruck, daß das stumme Lesen nicht das Übliche war.
Bei Aristophanes muß man freilich damit rechnen, daß er jede Gelegenheit für einen komischen Effekt nutzt.
Ob er auch als Drehbuchschreiber für Sitcoms reüssiert hätte?
 
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