Γραικύλος schrieb am 24.07.2021 um 14:46 Uhr (Zitieren)
Der Begriff "incestus/incestum" (aus in und castus) stammt aus dem Bereich des religiös Verbotenen (fas, nefas) und meint zunächst die Verletzung des Keuschheitsgebotes durch eine Vestalin.
Außerhalb des fas ist damit - wie bekannt - die geschlechtliche Verbindung zwischen Verwandten und Verschwägerten gemeint und ist mit dem betreffenden Eheverbot verbunden.
(Vgl. DNP s.v. Incestus)
Einen griechischen Begriff dafür finde ich nicht, was vermutlich damit zusammenhängt, daß es bei den Griechen keine Vestalinnen gab.
Schon wegen des fehlenden (?) Begriffs ist mir die Einschätzung des Inzests bei den Griechen unklar, zumal ihre Götter ja offensichtlich von diesem Tabu nichts wußten.
Re: Incestus
Andreas schrieb am 24.07.2021 um 16:06 Uhr (Zitieren)
Marcella schrieb am 25.07.2021 um 10:39 Uhr (Zitieren)
Die Bibelkommentare zeigen eindrucksvoll, zu welchen Verrenkungen ein bibeltreue Kommentator gezwungen ist. Die Bibel selber aber lässt es schlicht im Ungewissen, woher denn die Frau gekommen sei, die Kain heiratet. Sie erwähnt zwar den nach der Blutttat geborenen Sohn Adams Set, aber keine Tochter. Und wie soll die vermutete Tochter allein ins entfernte Land Not gelangt sein? Und welche Frau blieb dann für Set?
Und welchen Sinn hat die Gründung einer Stadt bei derart zerstreuter Bevölkerung? Und wer kommt in Frage, Kain zu erschlagen?
Genesis15 :Und JHWH sprach zu ihm <Kain>: Darum (Führwahr), jeder Mörder Kains (jeder, der Kain tötet) wird siebenmal Rache erleiden. Und JHWH setzte (legte) für Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihm begegnet (trifft, findet). 16 Und Kain ging von JHWH weg und ließ sich nieder (wohnte) im Land Nod das östlich von Eden lag. 17 Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Henoch. Und er war Erbauer einer Stadt, und der Name der Stadt war, nach dem Namen seines Sohnes, Henoch.
Fragen nach dem Inzest stellen sich ja auch bei der einzigen Familie, die die Sintflut überlebt hat.
Re: Incestus
Γραικύλος schrieb am 25.07.2021 um 13:50 Uhr (Zitieren)
In der späteren jüdischen Tradition spielt ja noch die geheimnisvolle, aus Babylonien übernommene Lilith als erste Frau Adams eine Rolle - allerdings, wenn ich es recht sehe, nur als positive Alternative zu Eva, nicht als Mutter von Kindern. Das Inzest-Problem löst sie nicht.
Man muß sich das vorstellen: Der Mythos besagt, daß wir alle zweifach aus inzestuösen Beziehungen abstammen.
Re: Incestus
Andreas schrieb am 25.07.2021 um 15:05 Uhr (Zitieren)
Bukolos schrieb am 25.07.2021 um 17:39 Uhr (Zitieren)
Einen ganz guten Überblick gibt Jérôme Wilgaux, Consubstantiality, Incest, and Kinship in Ancient Greece, in: A companion to families in the Greek and Roman worlds, ed. Beryl Rawson, Chichester (Wiley-Blackwell) 2011: Für unser Wort 'Inzest' gab es im Griechischen in der Tat kein deckungsgleiches Äquivalent, aber Ausdrücke wie γάμος ἀνόσιος oder γάμος ἀσεβής (die auch andere als normwidrig wahrgenommene, sexuelle Verbindungen umfassten) konnten dafür eintreten. In Athen lag das Inzesttabu auf der Verbindung eines Mannes mit seiner Mutter, seiner Tochter oder seiner Schwester. Ein Mann durfte in Athen aber eine Halbschwester heiraten, die denselben Vater wie er hatte, nicht jedoch eine Halbschwester, die von seiner Mutter geboren worden war.
Re: Incestus
Γραικύλος schrieb am 25.07.2021 um 23:17 Uhr (Zitieren)
Das sind interessante Informationen. Mir gefällt, daß nicht einfach ein Buch verlinkt, sondern dessen Inhalt zusammengefaßt wird.
Die Euripides-Stelle erweckt den Eindruck, es handele sich um ein Out-of-Border-Phänomen: bei 'Barbaren'.
Re: Incestus
Aurora schrieb am 26.07.2021 um 07:45 Uhr (Zitieren)
In diesem Zusammenhang bin ich zufällig auf
diese m.E. interessanten Deutungen des Sündenfalls gestoßen,
darunter auch eine psychologische:
Bukolos schrieb am 26.07.2021 um 13:02 Uhr (Zitieren)
Ja, das stimmt. Die eigenen Normen kommen ja oft erst in Abgrenzung gegen das Andere zur Sprache. (Pech für uns, wenn wir nur Textzeugen aus der Innenperspektive der Gruppe haben, über die wir etwas wissen wollen. Da bleiben dann schon ein paar blinde Flecke.) Die Dissoi logoi machen im Prinzip dasselbe, lösen sich aber aus einer hellenozentrischen Perspektive zugunsten eines normativen Relativismus (was, glaube ich das Hauptargument ist, den Text im sophistischen Umfeld zu verorten). Wilgaux führt zum Thema noch ein paar weitere Belegstellen an, die ich bei Interesse gerne posten kann.
Re: Incestus
Γραικύλος schrieb am 26.07.2021 um 13:55 Uhr (Zitieren)
An den weiteren Belegstellen - über die hinaus, die ich inzwischen kenne und ich in der separaten Reihe vorstelle: jetzt noch zwei weitere von Parthenios - bin ich sehr interessiert.
Optimal sind die Texte selbst (wie bei Euripides); zur Not reicht auch die Angabe von Autor und Fundstelle.
Herzlichen Dank.
Re: Incestus
Bukolos schrieb am 27.07.2021 um 16:17 Uhr (Zitieren)
Ich beschränke mich mal auf die Stellenangaben (bin im Moment zeitlich etwas knapp):
Plato, Republic 5.9, 461b9–c6
Xenophon, Cyropaedia 5.1.10
Sextus Empiricus, Outlines of Pyrrhonism 3.246
Etwas seltsam, dass die Staatsentwürfe Platons bzw. Xenophons herangezogen werden, um Aussagen über die damals herrschenden Normen in Griechenland oder Athen zu gewinnen. In Bezug auf die Ehe unter Halbgeschwistern werden angeführt:
Demosthenes 57.20
Philo Judaeus, De Specialibus legibus 3.22
Plutarch, Themistocles 32
Minucius Felix, Octavius 31.3
Re: Incestus
Γραικύλος schrieb am 27.07.2021 um 18:19 Uhr (Zitieren)
Damke! Alles gefunden.
Re: Incestus
Γραικύλος schrieb am 27.07.2021 um 18:19 Uhr (Zitieren)