Seneca, De beneficiis VI 32, 1f.:

Der Divus Augustus verbannte seine Tochter [sc. Iulia], über die Nachrede der Unzucht [inpudicitia] hinaus unzüchtig, und ließ die Schande des Kaiserhauses an die Öffentlichkeit kommen: Zugang habe sie den Liebhabern in Scharen gestattet, in nächtlichen Streifzügen sei sie durch die Stadt geirrt, das Forum selbst und die Rednertribüne, von der aus der Vater das Gesetz über Ehebruch [lex de adulteriis] eingebracht hatte, hätten der Tochter für unzüchtige Handlungen gefallen, tägliches Laufen zum Marysas (1) habe es gegeben, als sie, von einer Ehebrecherin zur Prostituierten geworden [ex adultera in quaestuariam uersa], das Recht zu jeder Freizügigkeit unter einem unbekannten Ehebrecher verlangte.

Dieses Verhalten, das der Kaiser [princeps] ebenso bestrafen wie verschweigen mußte, weil mancher Dinge Schmach auch auf den Strafenden zurückfällt, hatte er, zu wenig Herr seines Zorns, bekannt werden lassen. Später, als im Verlauf der Zeit Scham an die Stelle des Zorns getreten war, stöhnte er, daß er jene Vorgänge nicht mit Schweigen im Verborgenen gehalten habe, die er solange nicht gekannt hatte, bis von ihnen zu sprechen schimpflich sei, und rief oft aus: „Davon wäre mir nichts zugestoßen, wenn entweder Agrippa oder Maecenas (2) noch am Leben gewesen wären [Horum mihi nihil accidisset, si aut Agrippa aut Maecenas uixissent]!“ Einem Manne, der so viele Tausende Menschen besitzt, wird es in diesem Grade schwer, zwei zu ersetzen [Adeo tot habenti milia hominum duos reparare difficile est].

(1) Auf dem Forum gab es eine Statue des Marsyas, eines Satyrs, der Apollon zum Wettkampf im Flötenspiel herausgefordert hatte.
(2) Agrippa und Maecenas waren Ratgeber des Augustus gewesen, Agrippa obendrein Ehemann der Iulia.