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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Kannibalen (414 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 19.01.2022 um 15:12 Uhr (Zitieren)
[...]
Aus der Höhle El-Sidrón im Norden Spaniens hingegen kennen wir inzwischen ein beeindruckendes Zeugnis von Esskultur, in diesem Fall von einer Gruppe von Neandertalern. Diese nämlich vertilgten vor etwa 49000 Jahren Unmengen einer ganz besonderen Fleischsorte: Neandertaler. Vom Kind, vom Greis, von Mann wie Frau – alles fanden Archäologinnen auf einem Haufen aus etwa 2000 Knochenfragmenten, die auf einer Fläche von nicht mehr als fünf Quadratmetern abgelegt wurden, das frische Fleisch säuberlich abgeknabbert.

Die Höhlenentdeckung ist dabei nur ein Beweis von vielen dafür, dass die Neandertaler ihresgleichen verspeisten, aus welchen Gründen auch immer. Inzwischen sind Neandertalerknochen, deren Besitzer komplett oder wenigstens teilweise aufgegessen wurden, für Archäologen eher die Regel als die Ausnahme. Ein Phänomen, das man von den frühen modernen Menschen [...] nicht kennt: Allem Anschein nach beerdigten unsere Vorfahren ihre Toten lieber. Die Ess- wie Bestattungssitten von Neandertalern und Menschen unterschieden sich damit fundamental.

Dass die Knochen in der El-Sidrón-Höhle von Neandertalern stammten, die zuvor vertilgt wurden, lässt sich noch heute erkennen, auch ohne Gerichtsmedizin. Mindestens 13 Personen jeder Altersstufe, auch Babys, wurden auf dem Haufen gefunden, und zwar mit markanten Schnittspuren: Sie befanden sich unter anderem an einer Stelle im Schädel, die nur dann Sinn ergibt, wenn den Opfern die Zungen herausgeschnitten wurden. Hände und Füße löste man von den Gliedmaßen, ganz offenbar, um das Fleisch zwischen den Knochen abzuknabbern, ganz ähnlich also, wie wir heute mit einem Grillhähnchen verfahren. Die Arm- sowie die Langknochen, also Ober- und Unterschenkel, wurden hingegen allesamt aufgebrochen, anscheinend um aus ihnen das Knochenmark heraussaugen zu können.

Alle Indizien in El-Sidrón deuten auf eine aus heutiger Sicht grauenhafte Szenerie hin. Gegen eine rituelle Tötung sprechen zum einen die schiere Masse an Opfern sowie das gar nicht spirituell erscheinende Ab- und Zerlegen der sterblichen Überreste. Die Menschen wurden wahrscheinlich nicht einem Gott oder einem anderen höheren Wesen dargebracht: Sie wurden geschlachtet wie Tiere und anschließend auch entsprechend verwertet.

Eigentlich waren Neandertaler passionierte Großwildjäger, doch anscheinend kam es immer wieder zu kannibalistischen Übergriffen der einen Gruppe auf die andere. Es gibt etliche andere Belege und ganz ähnliche Fundstellen, anderswo in Spanien etwa, aber auch in Frankreich und Kroatien. Wahrscheinlich führte aber nicht eine kulinarische Vorliebe zu diesen Massakern, sondern wohl eher drängende Not – dafür sprechen nicht zuletzt die körperlichen Merkmale der Opfer. In El-Sidrón etwa zeigte[n] sich an den in den Knochenhaufen gefundenen Zähnen und den Knochen selbst Eigenschaften, die allesamt auf Wachstumsstörungen hinweisen, wie sie bei Menschen etwa im Mittelalter während lang anhaltender Hungersnöte auftraten.

Die Neandertaler könnten also durchaus aus purer Not gehandelt haben: so wie es die Überlebenden des legendären Flugzeugabsturzes des Jahres 1972 taten, bei dem Rugbyspieler des uruguayischen Old Christian Clubs nach Tagen im Eis der Anden begannen, ihre verstorbenen Teammitglieder zu essen. Und vielleicht litten die Urmenschen aus El-Sidrón ja ebenso an ihren Taten wie jene Sportler, die nach ihrer Rettung von dem emotionalen Horror berichteten, der sie ihr Leben lang begleiten sollte.

Genauso möglich ist es aber, dass die Neandertaler nicht ihre verstorbenen Gruppenmitglieder aßen, sondern bei der Jagd auf eine große, bereits geschwächte Gruppe stießen. Dass Neandertaler sich gegenseitig nachstellten, dafür sprechen viele Knochenfunde, die klare Spuren von Kämpfen zeigen – auch wenn viele davon vermutlich bei der Jagd auf Großwild entstanden, von dem sie sich hauptsächlich ernährten.
[...]

(Johannes Krause / Thomas Trappe: Hybris. Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern. Berlin 42021, S. 36-38)
Re: Kannibalen
Marcella schrieb am 19.01.2022 um 18:57 Uhr (Zitieren)
Damit ist meine bislang ganz gute Meinung über diese Burschen erledigt. Ba! Die Bevorzugung solcher Speise, wenn sie nicht aus schieren Stalingrad-Gründen erfolgt, dürfte oft mit magischen Vorstellungen zu tun haben.
Der Wikipedia-Artikel über Herodot, der einiges über solche Sachen zu erzählen hat, fasst die Stelle hist. 3,38 wie einen Aufruf zu Multikulti auf:

"Mögen also die Bräuche des Umgangs mit Verstorbenen weit auseinander gelegen haben (...), vor Spott oder Hohn in diesen Dingen suchte Herodot durch eine Anekdote vom persischen Königshof eindringlich zu warnen. Ihr zufolge hatte Dareios einst die Griechen bei Hofe gefragt, was sie dafür verlangten, wenn sie ihre Eltern verspeisen sollten; das wiesen diese aber unter allen Umständen weit von sich. Sodann ließ er die ihre toten Eltern verspeisenden Kallatier aus Indien kommen und erkundigte sich nach dem Preis für ihre Bereitschaft, die Leichen der eigenen Eltern zu verbrennen. Schreiende Proteste und den Anwurf der Gottlosigkeit habe er von ihnen zur Antwort erhalten. Damit sieht Herodot den Beweis erbracht, dass jedes Volk die eigenen Bräuche und Gesetze über die aller anderen stellt, und bestätigt den Dichter Pindar darin, die Sittengesetzlichkeit als höchste Herrschaftsautorität zu betrachten".

 
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