Ich lerne seit ca. einem dreiviertel Jahr autodidaktisch Latein. Wenn Grammatikfragen auftreten, greife ich zum Rubenhauer/Hofmann. Zum Gebrauch des Konjunktivs im folgenden Textabschnitt habe ich aber leider keine Erklärung finden können:
„Haedui, cum se suaque ab iis defendere non possent, legatos ad Caesarem mittunt rogatum auxilium: ita se omni tempore de populo romano meritos esse ut paene in conspectu exercitus nostri agri vastari, liberi eorum in servitutem abduci, oppida expugnari non debuerint.“
Weshalb steht der Konjunktiv im Perfekt (debuerint)? Wenn ich die Stelle im Handlungszusammenhang richtig verstehe, wird sie als Irrealis übersetzt, und die meisten Übersetzungen, die ich finden konnte, folgen dieser Lesart: „nicht hätten dürfen“ statt „nicht durften“ (obwohl vereinzelt auch diese letztere Variante vorkommt, dann aber, soweit ich sehe, eher in holprigen Übersetzungsversuchen). Im Konsekutivsatz sollte der Konjunktiv in der Regel jedoch als Subjunktiv fungieren und keine Redeabsicht ausdrücken, oder? Um welche Ausnahme handelt es sich also?
Oder ist der Irrealis hier nur „supponiert“, so daß wortgetreu - wenn auch stilwidrig - tatsächlich „nicht durften“ zu übersetzen wäre? Wie würde sich in diesem Fall das Perfekt erklären? Wird es dann nur deshalb - also ohne irrealen Sinn - benutzt, weil es sich auf ein abgeschlossenes Ereignis bezieht?
Für eine Erklärung - oder einen Verweis zur Erklärung im Netz oder z. B. im Rubenhauer/Hofmann - wäre ich sehr dankbar!
Viele Grüße
P.
Re: „debuerint“ im Konsekutivsatz
hs35 am 8.4.22 um 16:08 Uhr, überarbeitet am 8.4.22 um 16:09 Uhr (Zitieren)
a) Es liegt eine indirekte Rede vor (oratio obliqua)
b) Konsekutivsätze unterliegen nicht der consecutio temporum
c) Im Deutschen gelten die Regeln der indirekten Rede. Der entsprechende Konjunktiv
für die Vorzeitigkeit sollte verwendet werden (in der Schriftsprache zumindest).
Danke für die Antwort! Leider stehe ich trotzdem noch auf dem Schlauch.
Zu a): Das ist mir bewußt, hauptsächlich daraus resultiert wohl mein Problem.
Zu b): Gut, also folgt daraus, daß es sich um ein selbständiges Tempus handelt. Nach Rubenbauer/Hofmann tritt ein Konjunktiv Perfekt im Falle eines Konsekutivsatzes mit absolutem Tempus dann auf, „wenn die Aussage keine Erzählung, sondern eine Feststellung enthält“.
Also, um das zusammenzufassen und meine Verständnisschwierigkeiten noch einmal hervorzuheben:
1. Es steht hier der Konjunktiv Perfekt, weil an betreffender Stelle etwas festgestellt (und nicht erzählt) wird. (Ich bin mir aber nicht sicher, warum Du b) überhaupt erwähnt hast. Um darauf hinzuweisen, daß „denuerint“ nicht an „meritos esse“ [Perfekt Aktiv vom Semi-Dep. mereri] angeglichen ist?)
2. Das passiert in indirekter Rede; daher wird
3. die Stelle nach den Regeln der indirekten Rede im Deutschen übersetzt, also mit „nicht hätten dürfen“ und nicht mit „nicht durften“.
Weitere Fragen:
-Daß Konsekutivsätze der consecutio temporum nicht unterworfen sind, heißt doch nicht zwingend, daß sie nicht trotzdem entsprechend der c. t. gebildet werden können, oder?
- Die Feststellung, die mit dem Konjunktiv Perfekt nach obigem ausgedrückt wird, bezieht sich aber trotzdem immer auf Vergangenes, oder?
- Warum hätte man nicht „debuissent“ schreiben können? Weil der Irrealis wegen der indirekten Rede erst in der Übersetzung ausdrücklich wird?
Ich bin Anfänger, kein blutiger, aber noch grün genug, um auch Grundsätzliches übersehen oder ggf. auch einfach vergessen zu können, darum möge man bitte Geduld mit mir haben und nachsichtig sein. :-/
hs35 am 9.4.22 um 8:19 Uhr, überarbeitet am 9.4.22 um 8:21 Uhr (Zitieren)
@Omega:
Der ut-Satz hängt von einem Inf. Perfekt ab, d.h. von einer Nebenzeit.
Demnach müsste bei Vorzeitigkeit doch Konj, Plqupf. stehen.
Da das nicht der Fall ist, kann es m.E. nur daranliegen,
dass die cons. temp. nicht streng gilt.
Oder übersehe ich da etwas?
Das Tempus des die indirekte Rede einleitenden Matrixsatzes (hier: [mittunt] rogatum) beeinflusst gewöhnlich, welche der beiden Zeitenfolgen gewählt wird, nicht der Infinitiv Perfekt des in der indirekten Rede in den AcI gesetzten Hauptsatzes. Dieser Infinitiv dient jedoch oft, aber eben nicht immer als Referenzpunkt relativer Zeitgebung ihm untergeordneter Nebensätze, entscheidet demnach, ob Vor-, Gleich- oder Nachzeitigkeit vorliegt. Aus Sicht der vom Sprecherzeitpunkt aus gesehen in der Vergangenheit liegenden Verdienste wären die ebenfalls in der Vergangenheit liegenden Verwüstungen nachzeitig (ließen also ein solches Nachzeitigkeit oder wenigstens Gleichzeitigkeit anzeigendes Tempus erwarten - das ist aber nicht der Fall).
Es kommt im vorliegenden Beispiel m.E. vielmehr auf den Sprecherzeitpunkt an, denn die Beschwerde der Häduer hebt im Rückblick vom Redezeitpunkt aus darauf ab, dass, was eben geschehen ist, nicht hätte geschehen dürfen. Also orientiert sich auch die relative Zeitgebung am Matrixsatz, von dem aus die Verwüstungen in der Vergangenheit liegen. Einen absoluten Gebrauch würde ich das nicht nennen, auch nicht die Geltung der c.t. hier anzweifeln, denn der Konjunktiv Perfekt erfüllt seine Funktion Vorzeitigkeit (bei Haupttempus im übergeordneten, hier die indirekte Rede einleitenden Satz) auszudrücken regelkonform.
Die Auffassung der Regelwidrigkeit ergibt sich aus meiner Sicht nur, wenn man die Orientierung der relativen Zeitgebung in solchen abhängigen Sätze am durch den Infinitiv ausgedrückten Geschehen für absolut zwingend erachtet, muss dann aber erst recht den Konjunktiv Perfekt erklären und landet, zieht man die direkte Rede heran, letztlich bei der Einsicht, dass es auf den Redezeitpunkt als Referenz für die relative Zeitgebung ankommt.
Vielen Dank für deine umfassende, hoch professionelle Erklärung.
Ich hoffe, du bleibst dem Forum noch lange erhalten.
Ich wünsche dir ein schönes WE und gute Gesundheit nicht nur aus Nutzengründen
für das arg gebeutelte Forum, das leider weiterhin von einem Bessessenen terrorisiert wird.
Schau immer wieder rein und gib Hinweise, Korrekturen, Verbesserungen etc, wo sie dir notwendig erscheinen!
Nochmals vielen Dank!