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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Mein Dank an Nietzsche (256 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 17:16 Uhr (Zitieren)
In einer durch und durch christlichen Umgebung aufgewachsen, hatte ich schon früh das unbestimmte Gefühl einer Fremdheit. Das kann ich nicht besser ausdrücken als durch einen Vergleich: Es war wie das Gefühl eines Pubertierenden, der in einer heteronormativen Gesellschaft lebt und sich später als homosexuell erweisen wird – er kann den Erwartungen nicht entsprechen, er fühlt sich nicht zugehörig, kennt aber selbst den eigentlichen Grund noch nicht.

So ging es mir mit der christlichen Religion. Es war meine Nietzsche-Lektüre, die – weit davon entfernt, mir etwas Fremdes überzustülpen, wie es meine Umgebung versuchte – mir klar machte, daß es ein unchristliches Leben gab, daß dies seine eigenen, nicht durch Sünde belasteten Freuden hatte ... und daß ich dazugehörte!

Der Pfarrer wußte sich nicht besser zu helfen, als mir zu sagen: „Du liest Nietzsche? Du weiß ja, daß du dann exkommuniziert bist?!“ Ja, es gab den Index librorum prohibitorum noch; doch ich war schon darüber hinaus, mich davon auch nur beeindrucken zu lassen.

Später habe ich mich über Nietzsches an sich richtige Aussage, daß mit dem christlichen Gott auch die christliche Moral obsolet geworden sei, und den fragwürdigen Konsequenzen, die er daraus zieht, Schopenhauer zugewendet, dem ersten namhaften Atheisten im deutschen Sprachraum. Im Atheismus und der Nähe zur Antike immerhin kamen beide überein – da gab es eine Brücke, über die ich leicht und gerne gehen konnte.

Heute bewege ich mich frohen Sinnes zwischen griechischen Dichtern und römischen Kaisern, die noch nichts wußten von jenem seltsamen Menschen, der von sich sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Dort, bei den Heiden, finde ich meine Antworten, nicht aber im Neuen Testament, einem Buch mit lauter Antworten, zu denen mir sogar die Fragen fehlen.

Bei Schopenhauer habe ich mich bereits früh bedankt für seinen Beistand zu diesem entscheidenden Schritt:
Wolfgang Weimer: Schopenhauer und der Atheismus; in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.): Zeit der Ernte. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Stuttgart/Bad Cannstatt 1982 (Frommann-Holzboog), S. 364-373

Jetzt möchte ich es auch bei Nietzsche nun.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 17:26 Uhr (Zitieren)
nun --> tun
Re: Mein Dank an Nietzsche
Johannes schrieb am 20.01.2024 um 17:59 Uhr (Zitieren)
Dort, bei den Heiden, finde ich meine Antworten,

Antworten auf welche Fragen? Auch auf die nach dem Sinn der Welt/ des Kosmos
bzw. dem Sinn des menschlichen Lebens?
Wer hat dir wo diese Fragen beantwortet?

nicht aber im Neuen Testament, einem Buch mit lauter Antworten, zu denen mir sogar die Fragen fehlen.

An welche Antworten denkst du hier?

Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 18:14 Uhr (Zitieren)
Antworten auf welche Fragen?

Johannes, seit nunmehr 15 Jahren stelle ich hier heidnische Texte vor, die mich auf die eine oder andere Weise beeindrucken. Und da stellst Du mir diese Frage?
Dabei bist Du doch ein ziemlich regelmäßiger Leser, wenn ich mich nicht irre.

Übrigens wird demnächst, wenn alles gut geht mit dem Verlag, ein neues Buch von mit erscheinen mit dem Titel: "Fragen an die Antike".
Das wird die Summe meiner langjährigen Arbeit hier sein.

Das Neue Testament antwortet auf die Fragen "Wie kann ich vor Gott in meiner Sündhaftigkeit bestehen?" [O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eintrittst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund.] sowie "Was muß ich tun, um in den Himmel zu kommen?" Beides nicht mein Problem.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 18:20 Uhr (Zitieren)
von mit --> von mir
Re: Mein Dank an Nietzsche
Johannes schrieb am 20.01.2024 um 18:41 Uhr (Zitieren)
Dabei bist Du doch ein ziemlich regelmäßiger Leser, wenn ich mich nicht irre.

Nicht lange genug. Ich habe viel wieder vergessen.

Das Neue Testament antwortet auf die Fragen "Wie kann ich vor Gott in meiner Sündhaftigkeit bestehen?"

Diese Frage ist eine von vielen und m.E. eine der weniger bedeutenden.
Für den Angst erfüllten, neurotisch-gestörten Luther war sie wichtig,
dem es um sein egoistisches Seelenheil ging.
Fragen wie: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? halte ich für dumm, unsinnig, irrelevant.
Dieser Gott ist ein menschl., längst überholtes Gedankenkonstrukt, das interessengeleitet ist und Unfreiheit erzeugt, Angst, Frust, Freude nehmend, ja zerstörend.
Damit haben die Kirchen großen Schaden angerichtet, Gott oft geradezu pervertiert.

Was heißt Sündhaftigkeit, was Himmel?
Wenn du das NT so verkürzt, musst du enttäuscht sein. Mich interessieren solche Fragen nicht, sondern Fragen, die Antworten geben, wie man leben sollte und warum.
"In den Himmel kommen" klingt für mich kindlich und naiv. Es ist eine absolute Leerformel.

Für mich hat Gott immer etwas mit Liebe zu tun.Dort, wo die Gleichung GOTT = LIEBE nicht zutrifft, klinke ich mich sofort aus und sage:
Nicht mit mir!
Ich weiß, dass sich Philosophen sehr schwer tun mit Begriffen wie
Liebe und Emotionalität überhaupt, weil sie sich der Ratio entziehen
oder als reine, biochemische Prozesse abgetan werden.
Daher lohnt hier keine Diskussion.

Entscheidend ist, dass du mit deinem Glauben glücklich bist.
Sua cuique religio, fides, Weltanschauung etc.

PS:
Was ist für dich der Sinn deines Lebens?

Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 20:21 Uhr (Zitieren)
Nun, man mußte nicht protestantisch sein (war ich auch nicht), um die eigene Sündhaftigkeit immer wieder eingehämmtert zu bekommen. Als Meßdiener habe ich das "Domine non sum dignus ..." und das "mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa" oft genug beten müssen.
Die Erzeugung von Sündenbewußtsein, kombiniert mit dem Privileg der Priester, diese Sünden zu vergeben, ist doch das traditionelle Machtinstrument der katholischen Kirche, oder?

Ich habe einmal gelesen, daß Jesus im NT nicht weniger als siebzigmal von der Hölle spricht. Kannst Du das bestätigen?
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 20.01.2024 um 20:33 Uhr (Zitieren)
Den Sinn meines Lebens und Sterbens übrigens, den gestalte ich mir schon. Dabei helfen mir z.B. Epikur, Dionysos & Co., kein transzendenter Gott.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 21.01.2024 um 02:54 Uhr (Zitieren)
Übrigens, wen's interessiert:
Ulrich Willers

Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie
Eine theologische Rekonstruktion

Innsbruck/Wien 1988

Ausgezeichnet mit dem Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung.

Der Autor, ein inzwischen emeritierter Theologieprofessor, hat es als eine Lebensaufgabe angesehen, den Wert der Philosophie Nietzsches für die christliche Theologie darzutun.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Thorsten M. schrieb am 21.01.2024 um 09:54 Uhr (Zitieren)
Die Gottlosigkeit ist eine Zwangsvorstellung, die allen hochmütigen Dummköpfen als Strafe auferlegt wird. (Strindberg)

Das Warten der Gerechten wird Freude werden; aber der Gottlosen Hoffnung wird verloren sein.
(Sprüche 10.28)

Wenn Menschen gottlos werden, dann sind die Regierungen ratlos, Lügen grenzenlos, Schulden zahllos, Besprechungen ergebnislos; dann ist die Aufklärung hirnlos, sind Politiker charakterlos, Christen gebetslos, Kirchen kraftlos, Völker friedlos, Sitten zügellos, Mode schamlos, Verbrechen maßlos, Konferenzen endlos, Aussichten trostlos. (A. Exupery)


„Gottlos sind die, denen keine höhere Macht bekannt ist als ihr eigenes Ich. (F. Naumann)

Gott ist tot. (Nietzsche)
Nietzsche ist tot. (Gott)
(Graffiti)
Re: Mein Dank an Nietzsche
Bukolos schrieb am 21.01.2024 um 10:24 Uhr (Zitieren)
@ Γραικύλος: Interessanter Einblick in deine biographie intellectuelle. In welcher Zeit ungefähr befinden wir uns bei der Episode mit dem Pfarrer?
Re: Mein Dank an Nietzsche
Johannesῶ schrieb am 21.01.2024 um 11:50 Uhr (Zitieren)
Die Erzeugung von Sündenbewußtsein, kombiniert mit dem Privileg der Priester, diese Sünden zu vergeben, ist doch das traditionelle Machtinstrument der katholischen Kirche, oder?
Ja, und halte es für höchst perfide.
Es wie Drogenhandel: Erst süchtig machen, dann liefern.

Ich habe einmal gelesen, daß Jesus im NT nicht weniger als siebzigmal von der Hölle spricht. Kannst Du das bestätigen?

Mag sein, aber:
a) Auch Jesus war ein Kind seiner Zeit
b) Ob das alles von ihm stammt, bezweifle ich
Die ipsissima vox ist bekanntlich mehr als dürftig. Ob es dazugehört, weiß ich spontan nicht.

Das Christentum hat nicht die Hölle zum Zentralinhalt, sondern einen
ohne Vorbedingung liebenden Gott und eine Hoffnung, dass Gutsein nicht,
Nächstenliebe praktizieren letztlich nicht sinnlos ist.

Der ganze Höllenwahn wurde von der Kirche produziert um mit Angst zu herrschen,
sich zu bereichern, Priviligien zu sichern u.v.m.

Ob diese Sündenvergebungsvollmacht vom historischen Jesus stammt, bezweifle ich sehr,
ebenso wie die Einsetzung des Petrus zum 1.Papst. Die Stelle kann auch interpoliert sein.
Man könnte vieles andere noch aufzählen.

Das Problem ist und bleibt: Was hat Jesus wirklich gelehrt, wie wirkte er auf Menschen?
Warum glauben soviele Menschen an ihn und vertrauen auf das, was er lehrte, wenn auch durch bestimmte Brillen gelesen? Im Zentrum die caritas als sichtbare und spürbare Gottesliebe.

PS:
Nietzsche hat uns sicher immer noch viel zu sagen.
Ich denke immer an den Satz:
„Die Christen müssten mir erlöster aussehen."
Der Satz sollte auch heute noch sehr zu denken geben.

PPS:
Würde Kant heute noch an Gott als notwendigem Postulat festhalten, wenn er die moderne Kosmologie kennte?
Ist sein Gott nicht auch nur ein Gedankenkonstrukt um der Verzweiflung und Sinnlosigkeit zu entfliehen und zu moralischen Verhalten unter Strafandrohung zu motivieren?

Was aufgeklärte Humanisten nicht brauchen um von sich aus gut zu sein, reicht bei der Masse der anderen nicht aus, zumal die Erziehungsysteme überfordert sind.
Man erlebt täglich, welcher Wahnsinn immer noch auf der Welt wütet, religöser, politischer,
sozialer, ökonomischer, zwischenmenschlicher.
Von einer wahrhaft humanen Welt sind wir noch weit entfernt, in diesen Tagen wohl noch weiter
als oft zuvor.
Das Gesetz des Stärkeren dominiert zusehends
und Brutalität ist Tagesgeschäft.
Quo vadis, munde et homo tecum?
Re: Mein Dank an Nietzsche
Johannes schrieb am 21.01.2024 um 12:17 Uhr (Zitieren)
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 21.01.2024 um 15:52 Uhr (Zitieren)
Die Zeit, in der die Episode mit dem Pfarrer stattfand, war die Mitte der 60er Jahre.
Damals hing auch noch allwöchentlich in der Kirche eine Filmbewertung aus, und zwar mit folgenden Kategorien:
- 1: unbedenklich (1E: mit Einschränkung)
- 2: für Erwachsene unbedenklich (2E: mit Einschränkung)
- 3: erhebliche Bedenken
- 4: abzuraten

Weil das halt jede Woche neu zu erstellen war und auch kaum wahrgenommen wurde, hat man die Einsicht gewonnen, daß eine Steuerung des medialen Konsums der Gläubigen nicht mehr effektiv zu leisten war.
1966 ist der Index dann abgeschafft worden.

Aber aus der katholischen Filmbewertung ist das "Lexikon des internationalen Films" hervorgegangen, das öfters neu aufgelegt worden ist - bis klar war, daß die Menschen sich nicht weiter in Büchern über Filme informieren.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Andreas schrieb am 21.01.2024 um 16:53 Uhr (Zitieren)
Ich denke noch an den Skandakfilm "Die Sünderin".
Und noch 1988 demonstrierten Konservative vor Kino, in denen "Die letzte Versuchung Christi" aufgeführt wurde.

Die letzte amtliche Ausgabe des Index librorum prohibitorum erschien 1948 mit Nachträgen bis 1962. Der Index enthielt zuletzt über 6000 Titel, die sich mit der Glaubens- oder Sittenlehre der Kirche nicht vereinbaren ließen. Bekannte Beispiele sind die Liebesgeschichten von Honoré de Balzac, die Chansons von Pierre-Jean de Béranger, sieben Werke von René Descartes, zwei Werke von Denis Diderot (darunter die Encyclopédie), die Liebesgeschichten von Alexandre Dumas dem Älteren und von Alexandre Dumas dem Jüngeren. Weiterhin werden vier Werke von Heinrich Heine, die Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant, Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir, das Gesamtwerk von Maurice Maeterlinck und nahezu alle Werke von Voltaire genannt. Als einer der letzten gelangte Jean-Paul Sartre auf den Index.

Indiziert wurden auch mehrere Bücher faschistischer und nationalsozialistischer Autoren, so Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, 1934, nicht jedoch Hitlers Mein Kampf.
Re: Mein Dank an Nietzsche
Γραικύλος schrieb am 21.01.2024 um 17:52 Uhr (Zitieren)
Auch Wilhelm Busch stand m.W. auf dem Index ... weil er in manchen Geschichten die Geistlichkeit veräppelte.

Übrigens waren diese Filmempfehlungen ziemlich kontraproduktiv, denn für uns Jugendliche bedeuteten 3 und 4: interessant!
 
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