Γραικύλος schrieb am 30.01.2024 um 01:05 Uhr (Zitieren)
Man natürlich das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der kommt irgendwann zurück, bittet um Verzeihung, und der Vater ist hellauf begeistert. Der andere Sohn, der treu zu seinem Vater gestanden hatte, fühlt sich ungerecht behandelt und wird vom Vater zurechtgewiesen.
Bei Sophokles in dem Drama "König Ödipus" sticht sich am Ende Ödipus die Augen aus, nachdem ihm klar geworden ist, daß er seinen Vater getötet hat (ohne es zu wissen) und seine Frau seine Mutter ist (was er ebenfalls nicht wußte). In Sophokles' letztem Drama "Ödipus auf Kolonos" wird geschildert, wie der Blinde ruhelos durch Griechenland wandert. Seine Töchter halten zu ihm, während sein Sohn Polyneikes sich von ihm abwendet. Darauf segnet er die Töchter und verflucht den Sohn. Nun kommt er nach Athen und weiß, daß er dort sterben wird. Sein Sohn bittet um ein Treffen, bittet den Vater, den Fluch von ihm zu nehmen. Ödipus lehnt das ab. An einer Stelle heißt es: "Es gibt nichts Besseres, als gut zu sein zu einem Menschen, der gut zu einem war." Aber nicht zu einem, der nicht gut war! Diese christliche Einstellung ist dem Ödipus ebenso fremd wie dem Sophokles.
Tja, lieber Leser, was tätest Du, wenn Dein verlorener Sohn, Deine verlorene Tochter vor der Tür ständen und um Verzeihung bäten?
Re: Der verlorene Sohn
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 30.01.2024 um 09:10 Uhr (Zitieren)
Darf ich dir Frage an Dich als selbsterklärten Atheisten zurückgeben (was ein Christ, der nur halbwegs den Namen verdient, antworten dürfte, liegt ja wohl nahe).
Re: Der verlorene Sohn
Γραικύλος schrieb am 30.01.2024 um 10:54 Uhr (Zitieren)
Zwar verfluche ich keinen Sohn, denn ich lebe nicht in einem Drama; aber selbstverständlich ist mir der Sohn, der zu mir hält, lieber. Der andere kann mir gestohlen bleiben.
Das Verzeihen wäre ungerecht und, nebenbei gesagt, eine positive Verstärkung für die Strolche dieser Welt: Sie haben ja keine Sanktionen zu befürchten, wenn sie nur - spät, aber immerhin - bereuen.
Das Tollste ist ja, daß der Vater in dem Gleichnis sich über den "reuigen Sünder" mehr freut als über den treuen Sohn.
Re: Der verlorene Sohn
Γραικύλος schrieb am 30.01.2024 um 11:09 Uhr (Zitieren)
Sehe ich das richtig, daß der biblische Jesus überhaupt nur zweimal jemanden verflucht?
1. direkt den unschuldigen Feigenbaum,
2. indirekt (via Gleichnis) den ungerechten Knecht, der seinem Mitknecht gegenüber unbarmherzig ist.
1. skurril,
2. sieh an, gegenüber einem Unbarmherzigen ist er unbarmherzig.
Re: Der verlorene Sohn
Johannes schrieb am 30.01.2024 um 14:58 Uhr (Zitieren)
Hast du wissenschaftliche Kommentare dazu gelesen? Und die Exegese zu den Stellen?
Stammen sie eindeutig vom historischen Jesus?
Ich habe den Kontext nicht parat. Vlt. sollte man auch ihn genauer betrachten.
Re: Der verlorene Sohn
Γραικύλος schrieb am 30.01.2024 um 17:04 Uhr (Zitieren)
Inzwischen unterscheide ich drei Jesusse:
1. Der biblische Jesus, also der, der in den Evangelien beschrieben wird.
2. Der Jesus, in den jede Epoche ihre eigenen Ideale projiziert; aktuell ist das wohl der Jesus, der lauter Liebe ist und ein Freund der Frauen.
3. Der wahre resp. historische Jesus, über den niemand etwas weiß.
Ich beziehe mich gerne auf Jesus #1, denn es ist derjenige, der die Grundlage bildet für Jesus #2a, #2b, #2c usw., also ein Spektrum, aus dem Christen etwas ihnen Genehmes auswählen. Und was soll man über #3 sagen?
Den Kontext der Feigenbaumgeschichte findet man Mk 11, 12-22; ich vermag darin nichts zu erkennen, was Jesu Verhalten für mich verständlich macht.
Gerne zitiere ich in diesem Zusammenhang Bertrand Russell:
(Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin. Reinbek 1968, S. 26-31)
Erkennbar bezieht auch Russell sich auf Jesus #1 ... was den Christen genügend Möglichkeiten bietet, auf #2 oder #3 auszuweichen.
Re: Der verlorene Sohn
Γραικύλος schrieb am 01.02.2024 um 18:00 Uhr (Zitieren)
Gehört habe ich, daß der Feigenbaum für das Volk Israel stehe, das sich von Jesus abgewendet habe usw. Ein bißchen gekünstelt an sich, aber vor allem überhaupt nicht passend, denn der Feigenbaum konnte ja gar keine Früchte tragen, weil's die falsche Jahreszeit war.
Re: Der verlorene Sohn
Johannes schrieb am 01.02.2024 um 19:28 Uhr (Zitieren)
Auf solche Details wird dabei nicht geachtet.
Es gibt judenfeindliche Tendenzen im NT.