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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Der Suizid als privilegium humanum (2032 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 09.06.2010 um 07:23 Uhr (Zitieren)
Gibt es auch in der Antike die Vorstellung, daß der Suizid ein menschliches Privileg ist? Daß Götter sich nicht selber töten, ist klar - sie sind vom Konzept her unsterblich. Aber existieren in der Antike Berichte über Tiere, die Suizid begehen? (Immerhin gibt es zu Tode betrübte Tiere: die Pferde des Achill bei Homer.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Alexander schrieb am 09.06.2010 um 13:25 Uhr (Zitieren)
Was die Antike angeht, habe ich leider nichts gefunden; vielleicht haben andere mehr Erfolg. Was ich aber ganz interessant fand, was folgendes, zumal es glaubwürdig erscheint. Haben wir Biologen hier?
In Gefangenschaft zeigen Delphine regelrechte Haftpsychosen. Der Berner Hirnanatom Giorgio Pilleri berichtet von „schweren Verhaltensstörungen“. Sie entwickeln eine gnadenlose Hackordnung, die sie in Freiheit nicht kennen. Richard O´Barry: „Delphine einzusperren, ist Tierquälerei. Gefangene Delphine sind lebende Tote.“

Die eingesperrten Tiere leiden an Gehirnschrumpfung, Klaustrophobie und schweren Neurosen. Häufigste Todesart: Streß.

Denn Delphine verständigen und orientieren sich mit einem hochempfindlichen Ultraschall-Sonarsystem. Es ist bestens angepaßt an ihre dreidimensionale, schier unbegrenzte Meeresumwelt. Im Betonbecken werden die Sonar-Wellen an den Wänden vielfach reflektiert. Jede Unterhaltung wird zur Marter für die eingesperrten Tiere. Hinzu kommen die Geräusche von Wasser- und Reinigungspumpen, deren Ultraschall für uns unhörbar ist. Im Trommelfeuer dieser Schallwellen sind die Tiere einer permanenten Reizüberflutung ausgesetzt.

Wenn sie ihr Käfigdasein nicht mehr ertragen, begehen die sensiblen Tiere sogar Selbstmord. Einige schwimmen mit voller Wucht gegen die Beckenwand, immer wieder, bis zur Bewußtlosigkeit. Andere hören einfach auf zu atmen. Im Gegensatz zu anderen Säugetieren haben sie nämlich keinen Atemreflex, jedes Luftholen beim Auftauchen an der Wasseroberfläche ist bewußter Willensakt.

http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/delphine-gequaeltes-laecheln_aid_143449.html
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Alexander schrieb am 09.06.2010 um 13:26 Uhr (Zitieren)
..., war folgendes, ...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 09.06.2010 um 13:32 Uhr (Zitieren)
Ja, für Delphine in Gefangenschaft habe ich es auch schon gehört. Aber in der Antike hat man diese Tiere wohl nicht in Gefangenschaft gehalten, oder? Dann konnte man dieses Phänomen auch nicht beobachten.
Aber Elephanten, diese Wandertiere, können sie so weit gebracht werden?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 09.06.2010 um 13:36 Uhr (Zitieren)
Plinius, nat. hist, ist ein Autor, der relativ viel über Tiere berichtet, allerdings auch viel Unseriöses.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 09.06.2010 um 20:04 Uhr (Zitieren)
Ich glaube nicht, dass sich Tiere WILLENTLICH und WISSENTLICH selbst umbringen. Dies wird auch vom Skorpion behauptet, der sich angeblich bewusst selbst sticht, wenn man ihn ins Feuer setzt.

http://www.zeit.de/2005/45/Stimmts_45

Vermutlich sind Delphine in Gefangenschaft einfach so verzweifelt, dass sie solange irrational handeln, bis sie sich derart geschadet haben, dass sie es nicht überleben.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 09.06.2010 um 21:20 Uhr (Zitieren)
Falls Tiere keinen Suizid begehen (können?), nicht einmal die intelligentesten, obwohl sie unerträglichen physischen und psychischen Schmerz erleben können - woran liegt das? Was macht den Unterschied aus?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 09.06.2010 um 22:12 Uhr (Zitieren)

Ein Tier kann nicht um einer "höheren" Sache willen auf etwas verzichten, denke ich. Ihm fehlt das Vorstellungsvermögen, um eine Sache in ihrem gesamten Umfang zu überschauen, zu antizipieren, zu beurteilen und notfalls gegen den eigenen Instinkt zu handeln, denke ich (das können auch nur wenige Menschen wirklich, nunja). Geist?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 07:27 Uhr (Zitieren)
Es mag also daran liegen, daß Tiere weit mehr als Menschen an ihre Instinkte gebunden sind. Aber was bringt den Menschen zum Suizid? Vernunft, Überlegung? Das mag beim Bilanz-Suizid so sein. Aber wenn ein depressiver Mensch sich einem unerträglichen Druck entzieht, indem er "Rohrfrei" mit Wasser mischt und das Gebräu austrinkt?

Freud hat ja angenommen, daß wir neben dem Eros über einen zweiten Triebkomplex verfügen: den Thanatos (Todestrieb). Er zumindest war wohl der Auffassung, daß auch dies zu unserer Instinktausrüstung gehöre.
Leider weiß ich nicht, ob er den auch bei Tieren angenommen hat. Aber warum sollten Menschen damit ausgestattet sein, Tiere nicht?
Fragen über Fragen.

Wie dachten Menschen in der Antike über sie? Falls sie sich solche Fragen gestellt haben.

(Vermutlich ist Freuds Todestrieb trotz seines griechischen Namens - Thanatos - noch ungriechischer als sein Ödipus-Komplex.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 10.06.2010 um 10:19 Uhr (Zitieren)
Über Suizid bei Tieren kann ich nichts beitragen, aber einen Hinweis zu Freuds Todestrieb:
Wenn ich mich an diverse Vorlesungen in Psychologie richtig erinnere, postulierte Freud den Todestrieb erst im Verlauf des 1. Weltkrieges (und stellte diesen dem Eros gegenüber). Dieser Trieb im Menschen richtet sich nicht auf diesen selbst, sondern vor allem gegen andere.
Mehrmals schreibt er davon, dass man sich den eigenen Tod nicht vorstellen könne, aber:

Wie häufig haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit dem Symptom der überzärtlichen Sorge um das Wohl der Angehörigen oder mit völlig unbegründete Selbstvorwürfen nach dem Tode einer geliebten Person zu tun gehabt. Das Studium dieser Vorfälle hat ihnen über die Verbreitung und Bedeutung der unbewussten Todeswünsche keinen Zweifel gelassen.


aus: Sigmund Freud, "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 10:33 Uhr (Zitieren)
Daß Freud diesen Todestrieb postuliert hat unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, deckt sich mit meinen Kenntnissen.
Aber primär richtet sich der Thanatos gegen des Individuum selbst (ein Trieb, ins Anorganische zurückzukehren); weil er aber damit dem Eros widerspricht, wird die Energie des Thanatos häufig auf bzw. gegen andere umgelenkt. Sonst gerät das Individuum in einen internen Konflikt zwischen einander diametral entgegengesetzen Trieben.

[Wie eine solche Triebstruktur biologisch-evolutionär, also durch Selektion als vorteilhaft für das Überleben, entstanden sein könnte, weiß der Himmel. Damit hat sich Freud m.W. nicht befaßt.]
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 10:40 Uhr (Zitieren)
Mit etwas Aufwand von Spekulation sind wir nämlich zu der Auffassung gelangt, daß dieser Trieb innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen. Er verdiente in allem Ernst den Namen eines Todestriebes, während die erotischen Triebe die Bestrebungen zum Leben repräsentieren. Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mit Hilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, daß es fremdes zerstört. Ein Anteil des Todestriebes verbleibt aber im Innern des Lebewesens tätig [...]

(aus dem Briefwechsel mit Albert Einstein, "Warum Krieg?", September 1932)

Wie man sieht, nennt er den nach außen gewendeten Todestrieb 'Destruktionstrieb'.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 10:47 Uhr (Zitieren)
Hier spielt Freud auf den Suizid an, der in der Regel vermieden wird, weil im Menschen eben die beiden großen Triebkomplexe, Eros und Thanatos, wirken:
Dabei kommt das Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf das energischste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt, die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel [sc. die Rückkehr zum früheren Zustand] auf kurzem Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegensatz zu einem intelligenten Streben. [...]

(Jenseits des Lustprinzips, 1920)

Man könnte ihm fast die Ansicht unterstellen: Intelligenter wäre der Suizid. Er hat ja dann auch, wenngleich spät ...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 10:51 Uhr (Zitieren)
Tatsächlich, auch bei Tieren - sogar bei Einzellern!
Infolge der Verbindung der einzelligen Elementarorganismen zu mehrzelligen Lebewesen wäre es gelungen, den Todestrieb der Einzelzelle zu neutralisieren und die destruktiven Regungen durch Vermittlung eines besonderen Organs auf die Außenwelt abzuleiten. Dies Organ wäre die Muskulatur, und der Todestrieb würde sich nun – wahrscheinlich doch nur teilweise – als Destruktionstrieb gegen die Außenwelt und andere Lebewesen äußern.

(Das Ich und das Es, 1923)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 10:53 Uhr (Zitieren)
Aber Du siehst, Πέγασος, man muß zwischen dem autoaggressiven Todestrieb und dem umgelenkten, heteroaggressiven Destruktionstrieb unterscheiden. Jener sorgt dann für den Drogenkonsum etc.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 11:03 Uhr (Zitieren)
"Der Todestrieb der Einzelzelle" - ich nehme an, da kommt einem Biologen doch der Draht aus der Mütze.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 10.06.2010 um 11:22 Uhr (Zitieren)
Mir fällt auf, dass Freud immer nur vom "Todestrieb" spricht, nicht vom "Thanatos". Irgendwo meine ich gelesen zu haben, dass der Begriff "Thanatos" in diesem Zusammenhang nicht durch Freud geprägt wurde, bin mir aber nicht sicher. In den Schriften, die ich hier habe, spricht Freud jedenfalls nur vom "Todestrieb".

Freud hat seine Theorien ständig weiterentwickelt und modifiziert. Der Brief an Freud ist 20 Jahre später als "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" entstanden.

Wir können uns sicher darauf einigen, dass Thanatos sowohl autoaggressive Züge, als auch aggressive Züge gegenüber anderen enthält.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 10.06.2010 um 11:24 Uhr (Zitieren)
Todestrieb einer Zelle - dazu fällt mir Apopthose ein: programmierter Zelltod!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 11:47 Uhr (Zitieren)
Todestrieb einer Zelle - dazu fällt mir Apopthose ein: programmierter Zelltod!

Das gibt es?!? Ich werd' nicht mehr! Sollte Freud ... damit Recht behalten?

***

Ob ich bei ihm den Begriff "Thanatos" finde? Ich muß mal nachschauen.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 10.06.2010 um 11:50 Uhr (Zitieren)
Mir fällt grade noch der sogenannte "erweiterte Suizid" ein. Dieser illustriert auf besonders tragische Weise die beiden Aspekte des Thanatos.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 10.06.2010 um 11:52 Uhr (Zitieren)
... gerade ...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 11:59 Uhr (Zitieren)
Der erweiterte Suizid vereint beide Aspekte, das ist wahr.
Kürzlich habe ich dazu gelesen, daß bis vor einigen Jahren die 'weibliche' Form des erweiterten Suizids dominierte: eine verzweifelte Mutter tötet zusätzlich zu sich selbst ihre Kinder, um sie nicht schutzlos in der Welt zu lassen (eine Variante von Liebe). Seitdem ist aber die 'männliche' Form des erweiterten Suizids in der Kriminalstatistik dominant geworden: Der Vater tötet nicht nur sich, sondern auch seine Kinder, damit die Frau sie nicht bekommt (eine Variante von Haß).
Hier tritt also wohl der alte Unterschied zwischen der 'weiblichen', der prosozialen Aggressivität, und der 'männlichen', der antisozialen Aggressivität wieder auf.

***

Stimmt wohl: Der Begriff 'Thanatos' geht nicht auf Freud selbst zurück; er nennt das nur 'Todestrieb'.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 10.06.2010 um 16:16 Uhr (Zitieren)
eine verzweifelte Mutter tötet zusätzlich zu sich selbst ihre Kinder, um sie nicht schutzlos in der Welt zu lassen (eine Variante von Liebe). Seitdem ist aber die 'männliche' Form des erweiterten Suizids in der Kriminalstatistik dominant geworden: Der Vater tötet nicht nur sich, sondern auch seine Kinder, damit die Frau sie nicht bekommt (eine Variante von Haß).


Wer kann wissen, ob die Frau nicht auch aus Hass gegen den Mann handelt? Sie muss wissen, dass ihre Kinder heutzutage auch ohne sie nicht verhungern werden. Warum werden der Mutter grundsätzlich positive Attribute, dem Vater dagegen negative unterstellt?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 10.06.2010 um 17:01 Uhr (Zitieren)
Sie muss wissen, dass ihre Kinder heutzutage auch ohne sie nicht verhungern werden.

Deshalb ist diese Form des erweiterten Suizids ja auch stark rückläufig (s.o.). Die unterschiedliche Einschätzung der Motive resultiert ferner aus mit der Tat verbundenen Drohungen gegen den Partner ... oder deren Unterbleiben.

Meine Informationsquelle:
Dorothee Frank: Menschen töten. Düsseldorf 2006
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 10.06.2010 um 17:43 Uhr (Zitieren)

Die Apoptose ist ein Prozess, der von außen angeregt wird (Immunzellen) oder intern gesteuert wird, wenn eine starke Schädigung der Erbinformation vorliegt (entartete Zellen können den gesamten Organismus beeinträchtigen). Bei der Entwicklung etwa der Kaulquappe (Metamorphose) werden die Zellen, die nicht mehr benötigt werden, mit diesem Prozess gezielt beseitigt. Ein Vergleich mit dem Menschen passt daher m.E. nicht. Denn es liegt ja kein bewusster Prozess zu Grunde, sondern nur chemisch-biologische Reaktionen. Im Gegensatz zum Menschen kann die Zelle diesen Vorgang nicht anders gestalten, als das Programm es vorsieht.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 10.06.2010 um 17:51 Uhr (Zitieren)
Die unterschiedliche Einschätzung der Motive resultiert ferner aus mit der Tat verbundenen Drohungen gegen den Partner ... oder deren Unterbleiben.


Mit geänderter Gesetzeslage hat die Frau im Gegensatz zu früher durch ihre Kinder ein Machtmittel gegen den Mann in der Hand - sie kann ihm die Kinder vorenthalten. Aus Verzweiflung und Ohnmacht wird Macht. Macht dient hier auch der Rache. Möglicherweise ist deshalb der erweiterte Suizid bei Müttern rückläufig. Bei Männern hingegen läuft der Trend gegenläufig: er wird zur Machtlosigkeit verdammt und verliert alle Rechte. Daher reagiert er nun aus Ohnmacht und Verzweiflung brutal.
Heutzutage gibt es diesbezüglich ja mehr Ausgleich und die Rechte der Väter an den Kindern wurden gestärkt. M.E. hat das Gesetz lange Zeit die Rechte beider Eltern nur unzureichend ausbalanciert.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 11.06.2010 um 11:11 Uhr (Zitieren)
Im Gegensatz zum Menschen kann die Zelle diesen Vorgang nicht anders gestalten, als das Programm es vorsieht.


Auch der Mensch ist nicht immer fähig, diesen Vorgang (sich umzubringen) selbst zu gestalten. Deswegen müssen z.B. Menschen mit einer schweren Depression bei Suizidgefahr vom behandelnden Arzt in eine Klinik eingewiesen werden. Eine Depression schränkt die Handlungsoptionen eines Menschen fundamental ein.

Das Thema "freier Wille" fällt mir dazu ein: Wie frei ist der Mensch eigentlich in seinen Entscheidungen und unter welchen Bedingungen?
Gibt es auch bei Tieren sowas wie eine freie Entscheidung?

(Wahrscheinlich habe die eingangs gestellte Frage jetzt zu sehr verallgemeinert.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 11.06.2010 um 12:09 Uhr (Zitieren)
Ob ein Wesen seinen (Todes-)trieb nun kontrollieren kann oder nicht, finde ich für die Frage, ob ein Wesen einen solchen Trieb hat, eigentlich unerheblich.
Relevanter für die Frage finde ich, daß diese Apopthose anscheinend nicht zur Standardausstattung jeder Zelle gehört, wie Freud es doch unterstellt hatte.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 14.06.2010 um 16:51 Uhr (Zitieren)
"Trieb" ist ein Begriff, der meines Wissens hauptsächlich bei den Psychoanalytikern Verwendung findet. Ein Verhaltenstherapeut z.B. wird diesen Begriff kaum verwenden. Ich will damit sagen, dass der "Trieb" in der Psychologie / Psychotherapie ein umstrittenes Konzept ist.

Zur Apopthose: Ob das zur Standardausstattung jeder Zelle gehört oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. (Dazu habe ich mich zu wenig mit der Materie beschäftigt. Mir ist das neulich nur spontan eingefallen.)
Aus der Krebsforschung ist aber bekannt, dass dieser Vorgang gestört sein kann: Dann können sich Krebszellen ungehindert vermehren.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 14.06.2010 um 16:58 Uhr (Zitieren)
So wie die Trieblehre allgemein umstritten ist, ist es natürlich die Hypothese eines Todestriebens im Besonderen.
Sie ist mir dennoch immer interessant erschienen.
Die Verhaltenstherapie legt sicherlich den Akzent auf die Therapie und beantwortet nicht die Frage, warum manche Menschen zum Suizid - auf direktem oder indirektem Wege: Drogen - neigen, oder?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 14.06.2010 um 18:56 Uhr (Zitieren)
Normalerweise wird ein Lebewesen vor allem eines wollen – leben. Aber Depressionen, Niederlagen ( Mark Anton/Kleopatra), Prinzipien (Sokrates, er hätte auch die Verbannung wählen können) , schwere Krankheiten oder der Schutz der eigenen Familie (Alterssuizid, um die Familie nicht zu belasten) können dies verändern.
Angeblich verließen früher die Alten das Iglu der Familie, wenn sie nicht mehr ernährt werden konnten und starben im Schnee bzw. durch den Eisbären. Die Gallier schickten bekanntlich in Alesia die Nicht-Kämpfer in den Tod, indem sie sie aus der Festung verbannten (sogar Kannibalismus wurde erwogen). Kurzum: im Grunde ist es die Verzweiflung, das Fehlen eines Lebenszwecks, denke ich.

Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 16.06.2010 um 11:08 Uhr (Zitieren)
... im Grunde ist es die Verzweiflung, das Fehlen eines Lebenszwecks ...


Ja, das meine ich auch. Es ist die gefühlte Ausweglosigkeit der Situation, und zwar unabhängig davon, ob es eine alternative Handlungsoption gibt; diese kann nicht wahrgenommen werden. Menschen, die sich ernsthaft mit Suizid beschäftigen, engen ihrem Fokus immer mehr auf dieses Thema ein, alles andere wird zunehmend ausgeblendet.
Interessant ist, wenn solch ein Mensch im letzten Moment gerettet wird und dann auf dem Weg der Genesung sagt: „Ein Glück, dass ich gefunden wurde! Ich wollte doch gar nicht sterben. In meinem Kopf waren so seltsame Gedanken. Ich weiß gar nicht, was mit mir los war.“

Solche Erfahrungen lassen mich sehr vorsichtig bei dem Begriff „Todestrieb“ werden. Als theoretisches Konzept von Freud habe ich kein Problem damit, es lässt sich trefflich spekulieren und diskutieren.
Aber auf den Einzelfall kann ich den Begriff nicht beziehen, weil ein solcher Trieb bei einem Suizidenten nichts erklärt: Ein Blick in den Möller/Laux/Deister (Standardlehrwerk für Psychiatrie- und Psychotherapie) zeigt, dass bei den meisten Betroffenen eine psychische Erkrankung zugrunde lag. (Die Zahlen schwanken nach Erhebungszeitraum und -ort zwischen 85 und 100%.) Als häufigste Ursachen gelten Depression und Suchterkrankungen, wobei oft noch eine Kombination von Risikofaktoren vorliegt. Wenn ich mir dann klarmache, dass auch heute noch ein Drittel(!) der Depressionen nicht erkannt wird, ein weiteres Drittel nicht ausreichend behandelt wird … laufen recht viele potentielle Selbstmörder herum.

Und die Suizidzahlen sind erschreckend:
„In Deuschland nehmen sich jährlich etwa 12000 Menschen das Leben. Das bedeuted, dass sich etwa alle 45 Minuten ein ein Mensch in Deutschland selbst tötet.“ (aus: Möller/Laux/Deister 2005)
Wobei die Männer grob doppelt so häufig betroffen sich wie Frauen; und die SuizidVERSUCHE sind hier außen vorgelassen.

Ein Suizid als "privilegium humanum" würde ich am ehesten beim sogenannten „Bilanzsuizid“ zugestehen wollen oder bei beginnenden Krankheiten mit schwersten Schmerzzuständen o.ä.

***

Die Verhaltenstherapie legt sicherlich den Akzent auf die Therapie und beantwortet nicht die Frage, warum manche Menschen zum Suizid - auf direktem oder indirektem Wege: Drogen - neigen, oder?


Die VHT beantwortet tatsächlich nicht die Frage nach dem Warum; das Ziel ist i.d.R. eine Verhaltensänderung, und diese wird eingeübt. Wobei aber auslösende und aufrechterhaltende Faktoren (für unerwünschtes Verhalten) durchaus thematisiert werden. Im Prinzip geht es in der VHT um eine „Umprogrammierung“ von Verhaltensweisen und eine Erweiterung der Handlungsoptionen.
Ein hypothetisches Beispiel: Auf einen bestimmten Reiz (jemand pöbelt Erwin an) reagiert Erwin immer in gleicher Weise (er schlägt zu). Dieses Verhalten hat er von klein an gelernt und mit Erfolg über viele Jahre angewendet. Aufgabe der VHT wäre es, diese Verhaltensmuster möglichst zu löschen, nach neuen Handlungsmöglichkeiten zu suchen und diese einzuüben. - Die Frage nach dem Warum von Erwins bisherigen Verhaltsweise ist schnell geklärt: Er hat nichts anderes gelernt und hatte bis jetzt Erfolg damit.

Das der VHT zugrunde liegende Menschenbild ist sehr mechanisch (das hat mich immer abgeschreckt) – dennoch hat diese Art der Therapie großen Erfolg. (Wobei ein guter Verhaltenstherapeut oft auch Methoden aus anderen PT-Schulen hinzuzieht; ich gebe es zu: meine Darstellung ist sehr schematisch.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 16.06.2010 um 11:11 Uhr (Zitieren)
Hoppla, so lang hat das gar nicht werden sollen!
Ich habe die letzten Tage nachts gearbeitet, da hatte ich wohl zuviel Zeit zum nachdenken... ;-)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2010 um 11:32 Uhr (Zitieren)
Ich glaube, wir können inzwischen ein erstes Fazit unserer Diskussion ziehen:
- Der Bilzansuizid setzt eine vernünftige Überlegung voraus und kommt bei Tieren sicherlich nicht vor.
- Freuds Konzept des Todestriebes, in allen Lebewesen gar, ist hochgradig problematisch.

Konsens dazu?

Der Begriff des Suizids wird oft nach meinem Eindruck etwas reduziert verwendet, nämlich so, daß (a) die verschiedenen Formen des russischen Roulettes (Mutproben? mit tödlichem Ausgang) und (b) der Suizid als Opfer für eine 'höhere Sache' (von Arnold Winkelried bis hin zu modernen Selbstmordattentätern) nicht mit erfaßt werden.
Das mag damit zusammenhängen, daß beide Varianten wohl selten in einer Therapie anstehen. (c) Es fällt mir noch ein der 'langsame Suizid', etwa der mit 'Messer und Gabel' oder der mit Drogen.

Solche Menschen (a-c) würden die Unterstellung, verzweifelt zu sein, oft weit von sich weisen. Das wirft die Frage auf, ob es eine unbewußte Verzweiflung gibt?

Aber ist dem freudschen Todestrieb damit geholfen? Vermutlich nicht.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2010 um 11:35 Uhr (Zitieren)
Das eigentliche privilegium humanum ist dann der Bilanzsuizid, wie ich es jetzt verstehe.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 16.06.2010 um 20:10 Uhr (Zitieren)

Aber der Suizid ist doch m.E. Ergebnis einer subjektiven emotionalen Bewertung des Selbstmörders, die nicht unbedingt objektiv durch Dritte nachvollzogen werden muss. Insofern finde ich den Begriff irreführend. Das klingt wie eine mathematische Gleichung, bei der der Suizident zum Ergebnis kommt, es sei besser, aus dem Leben zu scheiden (hinter dem Gleichheitszeichen steht der Tod). Das mag beim Alterssuizid oft passen, umgeht aber die emotionale Dimension des Betroffenen. Vielleicht dient dieser Begriff ja auch der Umgebung des Selbstmörders, sich nicht mitschuldig zu fühlen. "Bilanz" ziehen Menschen häufig im Leben. Aber zu Selbstmord führt dies meist wohl nur dann, wenn diese Menschen nicht aufgefangen werden. Da kann man gleich sagen "er hat sich gewogen und für zu leicht befunden, es war wohl besser für ihn". Zumindest betrifft es dann nur den erfolgreichen Selbstmörder und man kann sich guten Gewissens von im verabschieden. Wie gesagt, mich stört der Begriff "Bilanz" als abschließende und übergreifende Erklärung. Er erklärt auch nicht, wieso bei Jugendlichen unabhängig von äußeren Bedingungen (Kriege, Wirtschaftskrise o.ä.) die Selbstmordquote fast konstant bleibt.


Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 16.06.2010 um 21:10 Uhr (Zitieren)
An dem Begriff "Bilanz" kann man sich bei unserem Thema wirklich stören. Der "Bilanzsuizid" ist aber Psychopathologie ein stehender Begriff. Ich zitiere im Folgenden nochmal aus Möller/Laux/Deister, wobei auch gleich die Problematik dieses Begriffes deutlich wird:

Als Bilanzsuizide bezeichnet man Suizidversuche, bei denen unterstellt wird, dass allein eine rationale Entscheidung ohne jeglichen psychopathologischen Hintergrund den Betreffenden zum Suizid veranlasst hat. Als Prototypen werden häufig der Suizid bei verletzter Ehre (z.B. bei Offizieren) oder wegen hoher Verschuldung genannt. Aus ärztlicher Sicht kommen Bilanzsuizide sehr selten vor. Auch bei vielen noch so rational klingenden Entscheidungen zum Suizid können häufig durch intensive Explorationen suizidale Hintergründe, wie z.B. narzisstische Kränkungen oder depressive Verstimmungen, aufgedeckt werden.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 16.06.2010 um 21:38 Uhr (Zitieren)
Ein Satz noch zur Selbstmordrate: In Kriegszeiten ist die Rate rückläufig, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten steigt sie dagegen. (Wie lässt sich das erklären?)

Und ferner bin ich über das Wort "Alterssuizid" bei ανδρέας gestolpert. Richtig ist, dass alte und einsame Menschen als besonders suizidgefährdet gelten (nach Depressiven und Suchtkranken), besonders bei Männern um das 80. Lebensjahr steigen die Raten sprunghaft an.
Mit Bilanz hat das meines Erachtens selten zu tun (vielleicht bei Sokrates, der lieber sterben als fliehen wollte???), da alte Menschen vermehrt unter (psychischen und körperlich) Krankheiten leiden: Depression, Demenz ... - Gerade im Alter kommt es zu einer Kombination und Akkumulierung verschiedenster Risikofaktoren.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 16.06.2010 um 22:10 Uhr (Zitieren)
Es fällt mir noch ein der 'langsame Suizid', etwa der mit 'Messer und Gabel' oder der mit Drogen.


Was bitte heißt das, mit "Messer und Gabel"?

Solche Menschen (a-c) würden die Unterstellung, verzweifelt zu sein, oft weit von sich weisen. Das wirft die Frage auf, ob es eine unbewußte Verzweiflung gibt?


Dazu fällt mir folgender Fall ein, den ich grob skizzieren will: Ein Mann mittleren Alters fühlte sich von keinem wertgeschätzt, alle sind ihm "zu blöd", "unter seinem Niveau"... Häufige Partnerwechsel und ein Konflikt am Arbeitsplatz in Kombination mit einer narzistischen Persönlichkeit führten zu einer latenten Suizidalität. Auch wies er jeglichen Gedanken an Selbstmord entrüstet von sich.
Pikanterweise hatte dieser Mann ein Terrarium voller Giftschlangen; er "forderte sein Schicksal heraus", indem er ohne Schutz in das Terrarium griff - und landete auf der Intensivstation.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 17.06.2010 um 11:19 Uhr (Zitieren)
Mit Bilanz hat das meines Erachtens selten zu tun [...], da alte Menschen vermehrt unter (psychischen und körperlich) Krankheiten leiden: Depression, Demenz ...

Ich verstehe nicht - ist das nicht gerade Teil der Bilanz? Was habe ich noch, was kommt nocht?
Wobei ich den Begriff 'Bilanzsuizid' natürlich aus der Fachliteratur übernommen habe.
Virginia Woolf litt an Depressionen, und doch erscheint mir ihr Abschiedsbrief vollkommen vernünftig. Sie leidet an einer Krankheit, mit der sie nicht nur sich selbst, sondern auch den geliebten Menschen ihrer Umgebung eine Last auflädt, die unerträglich ist. Und es gibt keine Ausssicht auf Besserung.

Count o'er the joys thine hours have seen,
Count o'er thy days from anguish free
And know, whatever thou hast been
'tis something better not to be.

(Lord Byron, Euthanasia)
Ihr seht, auch der mit der Bilanz verbundene Begriff des Zählens kommt vor.

***

"Selbstmord mit Messer und Gabel" - ich hielt diesen Ausdruck für bekannt: sich langsam zu Tode fressen.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 22.06.2010 um 09:37 Uhr (Zitieren)
Suizid ist ein äußerst schwer verdauliches Thema; aber es ist gut, sich darüber zu unterhalten, weil es zu viele sprachliche Tabus in diesem Bereich gibt. Aber läuft es nicht auf folgende Frage hinaus: (Wie) Kann ein Suizid gerechtfertig werden?

Mir ist an diesem Punkt offen gestanden nicht ganz wohl, weil ich fürchte, dass eventuell hier gefundenen Argumente als Rechtfertigung für den Suizid eines Lesers dienen könnten.

Zur Bilanz: Bilandzziehen, zumal im hohen Alter, das gehört zum Leben.
Ich frage mich nur: Wie würde eine Bilanz ohne Depression (oder einen anderen psychischen oder auch hirnorganischen Defekt) aussehen? Gäbe es dann auch einen Bilanzsuizid?

Ja, depressive Menschen sind alles andere als unvernünftig, manchmal erscheinen sie sogar erschreckend vernünftig: Wenn man einem solchen Menschen zuhört, fügt sich fast zwangsläufig eins ins andere. Und der Zuhörer wundert sich über die bleierne Schwere, die auch ihn erfasst...


ανδρέας schreibt von der "subjektiven emotionalen Bewertung des Selbstmörders, die nicht unbedingt durch dritte nachvollzogen werden muss." Das ist ein wichtiger Punkt. Ich denke hier an stark beeinträchtigte Patienten mit dem sog. Locked-in-Syndrom oder mit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose): Niels Birbaumer untersuchte deren Lebensqualität und verglich sie mit der Lebensqualität von psychiatrischen Patienten. Diese extrem stark körperlich Βeeinträchtigten berichteten (bei guter Pflege und intaktem sozialen Umfeld) von einer weit höheren Lebensqualität als die körperlich unversehrten psychiatrischen Patienten.
Birbaumer (in einem Interview):
Fakt ist allerdings, dass für die amyotrophe Lateralsklerose etwa 90 bis 95 Prozent sich gegen die Beatmung entscheiden. Das heißt also, dass sie, wenn sie in Atemnot kommen, dann auf eine Weise, die auch nicht gut dokumentiert ist, dann zu Tode kommen. …
Und ich glaube der Grund dafür ist natürlich auch, dass sie Angst und ihre Angehörigen Angst haben vor dem Eingeschlossensein nach der Beatmung. Und dazu kann man nur sagen: Dafür besteht faktisch kein Anlass ... Also ein Ergebnis aus den Lebensqualitätsuntersuchungen, dass wir festgestellt haben ist, dass praktisch zu allen Zeitpunkten einer solchen chronischen Erkrankung die Einstufung der Lebensqualität durch den Patienten sehr viel besser ist, signifikant besser ist, als die Einstufung der Lebensqualität durch andere. Also durch Angehörige, Ärzte und Pflegepersonal.


Ob das eigene Leben lebenswert erscheint, ist eine rein subjektive Angelegenheit. Die Frage ist: Wird diese subjektive Sicht durch eine (psychische) Störung und verzerrt? In diesem Fall wäre die Bezeichnung „Bilanzsuizid“ nicht angebracht.

***

Mir ist aber noch ein ganz anderer Aspekt eingefallen: Gibt es etwas, für das es sich zu sterben lohnt? Spontan denke ich an ideale Menchen wie „John Maynard“: Sein Tod rettete vielen anderen das Leben; hier ist der Begriff „Bilanz“ meines Erachtens stimmig, hat aber mit Freuds Konzept vom Todestrieb nichts mehr zu tun.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 22.06.2010 um 14:01 Uhr (Zitieren)
Ob das eigene Leben lebenswert erscheint, ist eine rein subjektive Angelegenheit.

Daher meine ich, daß es sich hier um meine persönliche Entscheidung handelt, und ich möchte nicht, daß irgendjemand in einer paternalistischen Weise für mich (an meiner Stelle) entscheidet, ob meine Entscheidung zu akzeptieren ist oder nicht, ob sie 'verzerrt' ist oder nicht.
Das ist eine grundsätzliche Einstellung, frei von jeder akuten Absicht. Es steht jedem frei, mir im konkreten Fall - sollte er eintreten - Hilfsangebote zu machen; aber mir die Entscheidung abzunehmen, steht niemandem zu.

***

Unter den Philosophen ist mir der Verdacht gekommen, daß diejenigen, die nachdrücklich ein Recht über den eigenen Körper vertreten, keine persönliche Neigung zum Suizid hatten (Bsp. Schopenhauer); daß hingegen Philosophen, die den Suizid vehement verurteilen, eine deutlich erkennbare Neigung zu ihm hatten (Bsp. Wittgenstein).
Kann es sein, daß das Wissen, ich könnte es im Notfall tun, das Leben unbeschwerter macht, weil man von der Existenz eines Ausweges weiß?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 22.06.2010 um 14:50 Uhr (Zitieren)
Kann es sein, daß das Wissen, ich könnte es im Notfall tun, das Leben unbeschwerter macht, weil man von der Existenz eines Ausweges weiß?


Ja, das kann sehr gut sein!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 22.06.2010 um 16:02 Uhr (Zitieren)
Um das ganze aus medizinischer Sicht einmal darzustellen und diesen Thread zu entschärfen:
Der überwiegende Anteil der Personen, die einen Suizid begehen, hat eine heute behandelbare Depression. Das Problem ist oft, dass die Leute im Umfeld die "Vorzeichen" nicht erkennen.
Als ich an der Uni im Rahmen des Medizinstudiums und der Famulatur mich mit der Psychiatrie beschäftigte, fällt mir gerade ein Gespräch auf der geschlossenen Frauenstation ein, in dem mir eine Patientin, die einen mißglückten Suizidversuch hinter sich hatte: "Mein Gott, was habe ich da getan, ich hätte fast mein Leben weggeworfen....wenn ich nur gewusst hätte, dass ich eine schwere Depression habe. Aber ich bin ja am Leben und kann mich mit Ihnen unterhalten".

Das war eine Aussage, die man immer im Hinterkopf behalten sollte....
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 22.06.2010 um 18:59 Uhr (Zitieren)
....und diese Aussage ist unabhängig von Philosophie oder sonstigen Dingen, da man anerkennen muss, dass eine Depression eine Erkrankung ist, wie jede Erkrankung auch...aber sie ist behandelbar!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 23.06.2010 um 11:31 Uhr (Zitieren)
Dreierlei möchte ich noch sagen:
1. Die Depression ist eine behandelbare Krankheit, ja. Wer sich einmal der Strapaze unterziehen möchte, die Innenwelt eines Depressiven kennzulernen, der mag zum dem Roman "Infinite Jest" (dt. "Unendlicher Spaß") von David Foster Wallace greifen - ein sprachgewaltiger Roman, der freilich alles enthält, nur keinen Spaß.
2. Warum mag der Autor im Herbst 2008 sein Medikament abgesetzt ... und sich dann erhängt haben? Möglicherweise ist 'die Sache' aus der Sicht des Leidenden manchmal nicht so einfach, wie sie aus der Sicht des Arztes erscheint?
3. Das Klügste, was ich von einem Praktiker zum Thema Suizid gehört habe, war die Aussage eines Psychiaters: "Der ideale Abschiedsbrief ist 14 Tage alt."
Das braucht man gar nicht zu kommentieren, gelt?
Mir gefällt daran u.a., daß er auch ein Verständnis, ein Akzeptieren einer Entscheidung unter bestimmten Umständen ausdrückt. Aber: Man sollte sein Leben nicht einfach aus einer vielleicht vorübergehenden Stimmung wegwerfen. Wir haben ja nur eines.

Und dann gefällt mir noch ein kleiner Text von Georg Christoph Lichtenberg zum Thema:
Rede eines Selbstmörders kurz vor der Tat aufgesetzt

Freunde! Ich stehe jetzo vor der Decke im Begriff sie aufzuziehen, um zu sehen ob es hinter derselben ruhiger sein wird als hier. Es ist dieses keine Anwandlung einer tollen Verzweiflung, ich kenne die Kette meiner Tage aus den wenigen Gliedern die ich gelebt habe zu wohl. Ich bin müde weiter zu gehen, hier will ich ganz ersterben oder doch wenigstens über Nacht bleiben. Hier nimm meinen Stoff wieder, Natur, knete ihn in die Masse der Wesen wieder ein, mache einen Busch, eine Wolke, alles was du willst aus mir, auch einen Menschen, aber mich nicht mehr. Dank sei es der Philosophie, daß mich jetzo keine fromme Possen in dem Zug meiner Gedanken stören. Genug, ich denke, ich fürchte nichts, gut, also weg mit dem Vorhang! --
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 23.06.2010 um 12:28 Uhr (Zitieren)
Der erste Abschnitt, den Γραικίσκος am 22.6. hier schrieb, hat mich einigermaßen getroffen. Ich ringe um Worte, um nicht (wieder) falsch verstanden zu werden. Ich versuche immer sehr genau zwischen dem zu unterscheiden, was in einer wissenschaftlichen Publikation geschrieben steht (und damit Wissensstand ist) und meiner eigenen Meinung. Wenn mir das hier nicht gelungen ist, tut es mir aufrichtig leid.

Nein, ich habe ganz sicher hier keinen persönlich ansprechen wollen, als ich schrieb, „dass eventuell hier gefundenen Argumente als Rechtfertigung für den Suizid eines Lesers dienen könnten“.
Dies geschah eher in Hinblick auf die recht hohe Anzahl der Klicks, die dieses Thema erreicht; das Internet ist ein öffentlicher Bereich; wir wissen nicht, wer hier alles ließt.

***

Im Übrigen stelle ich fest, nachdem ich diesen Thread noch einmal Revue passieren ließ, dass das Ganze eine Menge mit mir persönlich zu tun hat, sonst hätte ich kaum so viel geschrieben. Vielleicht in diesem Sinne: Ich suche nach Argumenten, die mir helfen durchzuhalten, wenn ich das nächste Mal im „Schwarzen Loch“ sitze...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 23.06.2010 um 12:48 Uhr (Zitieren)
Keine Sorge, Πέγασος, ich habe Deine Äußerungen nicht als Angriff o.ä. aufgefaßt, sondern ganz andere Erfahrungen als Hintergrund meiner Formulierungen im Sinn gehabt. Ich werde "kribbelig", wenn jemand glaubt, Entscheidungen für mich treffen zu können, weil er - angeblich - besser weiß als ich, was gut für mich ist. Das ist z.B. immer dann der Fall, wen die Kirchen ihre speziellen Vorstellungen in Gesetzesform gegossen haben möchten, etwa zum Thema Sterbehilfe.

***

Das "Schwarze Loch" kennen wir wohl alle, zumindest gelegentlich. Die Empfehlung des Psychiaters: Warte 14 Tage ab! erledigt aber doch zum Glück die meisten dieser Fälle, oder?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 23.06.2010 um 13:02 Uhr (Zitieren)
Ich habe den folgenden Gedanken Epikurs, den man ja auch auf den Suizid beziehen kann, immer als äußerst hilfreich empfunden:
Gewöhne dich an den Gedanken, daß der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gute und Schlimme beruht auf der Wahrnehmung. Der Tod aber ist der Verlust der Wahrnehmung. Darum macht die rechte Einsicht, daß der Tod uns nichts angeht, die Sterblichkeit des Lebens genußreich, indem sie uns nicht eine unbegrenzte Zeit dazugibt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit wegnimmt. Denn im Leben gibt es für den nichts Schreckliches, der in echter Weise begriffen hat, daß es im Nichtleben nichts Schreckliches gibt.

(Brief an Menoikeus)

Ich fühle mich sehr viel freier und fröhlicher, seit ich das kapiert habe. Ich kann so besser leben. So geht es mir jedenfalls auch mit dem Suizid. Wenn es jemals unerträglich werden sollte und dies über längere Zeit anhält und keine Abhilfe möglich ist, dann gibt es einen Ausweg. Wenn! So habe ich eine schwere Sorge weniger.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 23.06.2010 um 13:04 Uhr (Zitieren)
Was mir übrigens im Sinne dieses Forums an dieser Diskussion gefällt: Wie wir über ein Thema unseres Lebens reden und, scheinbar beiläufig, immer wieder Gedanken der Antike einfließen, die dadurch ihre zeitlose Aktualiät erweisen.
Epikur kann irren, aber unaktuell, überholt können seine Gedanken niemals werden.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Πέγασος schrieb am 24.06.2010 um 11:40 Uhr (Zitieren)
Eben hole ich die neue "Gehirn&Geist"
aus dem Postkasten. Unter der Überschrift:
"ANGEMERKT! Auf Leben und Tod"
gibt es einen Artikel über Pro-Kontra zur Sterbehilfe: Sollen Ärzte unheilbar Kranken den Suizid ermöglichen?

Der Artikel steht auch im Netz unter:
http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/1034087

bzw. unterhalb des Artikels ist ein Link zur pdf-Datei.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 24.06.2010 um 11:58 Uhr (Zitieren)
Schwerstkranke brauchen die Gewissheit, dass sie ihr Leben beenden können, wenn es ihnen unerträglich wird.


Das fängt schon gut an.
Danke für den Hinweis.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 09:08 Uhr (Zitieren)
Gestern hat der Bundesgerichtshof ein Urteil zur Sterbehilfe gefällt, das den 'mutmaßlichen Willen' des Patienten zum obersten Entscheidungskriterium erklärt.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 12:45 Uhr (Zitieren)

M.E. stellt sich die Frage weniger über das „ob“ , sondern über das „wie“ und die Umstände der „freiwilligen Selbsterlösung“ eines Menschen, dessen Leben unerträglich für ihn geworden ist. Ich denke, es ist eines Menschen Recht, unter diesen Umständen (z.B. schwerste Erkrankung) sein Leben freiwillig zu beenden. Da dürfte die Meinung der überwiegenden Mehrheit sich vermutlich nicht von meiner unterscheiden. Daher ist das jüngste Urteil des BGH m.E. richtig. Problematisch wird es dagegen, wenn der mutmaßliche Wille eines Menschen ermittelt werden muss. Wenn der Betroffene noch bei klarem Verstande ist, stellt sich die Frage des „ob“ so dann nicht mehr. Allerdings gibt es deutliche Fragen, wenn dies nicht mehr möglich ist und der Mensch abhängig von Entscheidungen ist, die andere für ihn treffen. Hier muss eine Regelung gefunden werden, die jenseits der Fragen über „Kosten“, „Erbschaftsfragen“, Befindlichkeiten der näheren Verwandtschaft und allen materiellen Erwägungen ethisch vertretbar ist. Der gute, richtige, schöne Tod hat ja mit der griechischen Bezeichnung Ευθανασία leider auch Eingang in eine Gedankenwelt gefunden, die eben dieses Kriterium der Ethik missachtet hat.
Welche Instanz kann man schaffen, um Missbrauch zu verhindern? Wie lange wird ein Komapatient am Leben erhalten und wann wird es beendet, wenn sich durch den Zeitpunkt die Erblinie ändert? Nach dem BGB erbt, wer zu Zeitpunkt des Erbfalls lebt. Stirbt der Patient „rechtzeitig“ schließt es seine Abkömmlinge ((Rechtsjargon) ggf. von der Erbschaft aus, die er bei Fortleben bekommen hätte. Heute haben wir viele „Patchworkfamilien“ mit komplizierten Erbschaftsverhältnissen. Da können solche Fragen von materieller Bedeutung sein. Daher ist aus meiner Sicht, wie gesagt, das „ob“ nicht das wirkliche Problem, sondern die Frage der ethischen Kontrolle der „Entscheider“.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 14:26 Uhr (Zitieren)
Ich stimme Dir zu, daß das eigentliche Problem dann auftritt, wenn andere Menschen diese Entscheidung für einen Verwandten treffen sollen - vor allem, wenn sich für diese Verwandten damit materielle Interessen verknüpfen. Dieses Problem ist eigentlich nur zu lösen, indem man rechtzeitig eine Patientenverfügung verfaßt - wie auch der Präsident der Bundesärztekammer gestern äußerte.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 18:55 Uhr (Zitieren)
Sterbehilfe aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung.....das ist eine ganz andere Frage als der Suizid ohne eine solche Erkrankung.
Ich habe schon viele Tumorpatienten als Arzt auf ihrem letzten Lebensweg begleitet. Wie Γραικίσκος sagt, eine Patientenverfügung ist da schon sehr wichtig. Aber wenn der Patient ansprechbar ist, ist immer der konkrete Wille entscheidend. Wichtig ist eine Begleitung des Patienten, sei es von der ärztlichen Seite oder durch Pflegepersonal oder Hospiz.
Ich möchte ein Beispiel aus eigener Erfahrung nennen:
Patient mit metastasierenden Bronchialkarzinom. Er hat Angst vor dem Ersticken. Ganz entscheidend ist doch hier nicht die Sterbehilfe (ich möchte als Arzt ja auch nicht direkt für den Tod eines Patienten aktiv eingreifen, was auch gesetzlich nicht erlaubt ist), sondern, dass der Patient ohne Beschwerden, Schmerzen oder Angst in dden Tod übergehen kann. Dafür gibt es alle Möglichkeiten. Wir haben den Patienten, inklusive Hospiz, mittels einer Morphinpumpe und Beruhigungsmittel schmerzfrei und ohne Qual seine letzten Stunden gegeben.
Was ich damit sagen will: Ein Suizid des Patienten, auch in den letzten Stunden ist bei einer schwerwiegenden Erkrankung nicht notwendig, wenn er professionelle Begleitung hat. Ein Suizid ohne Tumorerkrankung ist immer eine persönliche Entscheidung, die aber oft durch das Umfeld und richtiges frühzeitiges Eingreifen abgewendet werden kann. "Im Übrigen ist das Leben ein Geschenk, das man nicht einfach so wegwerfen sollte"...Wortlaut einer Patientin.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:06 Uhr (Zitieren)
....was aber jeder einzelne mit seinem Leben macht, ist seine ureigene Entscheidung...das ist das einzige, was ich dem Titel ...."privilegium humanum" abgewinnen kann.....
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:09 Uhr (Zitieren)
.....und (auch aus ärztlicher Erfahrung) möchte ich noch ergänzen:
Einer, der Suizid begeht, erlöst sich zwar selbst, aber die grösseren schwerwiegenderen Leiden haben die Angehörigen, die noch leben.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 19:22 Uhr (Zitieren)
Ich möchte einmal den Aufsatz eines Düsseldorfer Philosophieprofessors erwähnen:
Dieter Birnbacher, Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht; in: Anton Leist (Hrsg.), Um Leben und Tod. Frankfurt/Main 1990

Birnbacher zeigt m.E. sehr einleuchtend, daß alle philosophischen Argumente gegen den Suizid sehr unplausibel sind - das vom Leben als Geschenk nicht ausgenommen, da man doch mit einem Geschenk verfahren darf, wie man will, weil es ja zum Eigentum des Beschenkten wird.
Was bleibt - auch bei Birnbacher -, ist die Überlegung, welche Folgen er für die Mitmenschen hat ... welches Leid er bei ihnen auslöst. Das sei eine Sache sorgfältiger Abwägung, so Birnbacher.
Auch er hat dabei ersichtlich den überlegten, den erwogenen Suizid im Sinn, also was gemeinhin 'Bilanzsuizid' genannt wird.
In den Fällen 'bloß' akuter Verzweiflung oder in Fällen, in denen die Medizin ein erträgliches Weiterleben sichern kann, stimme ich Βοηθὸς Ἑλληνικός vollkommen zu - solange es der Patient selber ist, der die letzte Entscheidung darüber trifft. Schließlich muß der Zustand für ihn erträglich sein.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 19:26 Uhr (Zitieren)
Birnbacher ist übrigens nicht irgendwer:

http://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Birnbacher

... sondern auch Mitglied einiger medizinethischer Kommissionen.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:30 Uhr (Zitieren)
@Γραικίσκος:
Wenn man keinerlei Freunde oder Angehörige hat, wird der "Bilanzsuizid" keine Rolle spielen.....aber wenn man diese hat, wie es normalerweise immer der Fall ist, wird man immer Leid auslösen. So etwas könnte ich keinem antun....aber vielleicht spreche ich da als Arzt...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:34 Uhr (Zitieren)
....ich denke da nur an Robert Enke..
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 19:37 Uhr (Zitieren)
Ich denke an den Fall eines sehr symbiontisch lebenden Ehepaares. In hohem Alter war die Frau gestorben, und der ebenfalls schon sehr betagte Mann mochte nicht ohne die Frau leben, mit der er sein Leben so eng verbunden hatte.
Beider Kinder waren bereits erwachsen und jenseits aller materiellen Eltern-Bedürftigkeit. Sie werden ihrem Vater ihre Liebe und Anhänglichkeit ausgedrückt und seinen Suizid betrauert haben. Aber diese Gefühle der Kinder sind, so meine ich, nicht alles, was zählt - zumal sie ihrem Vater ja nicht seine geliebte Frau ersetzen konnten. Sie lebten nicht einmal in der Nähe.
So kann ich die Entscheidung des alten Mannes respektieren. Er hätte, um weiterzuleben, weit mehr opfern müssen, als seine Kinder dadurch gewonnen hätten.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:41 Uhr (Zitieren)
Suizid ist doch immer eine "egoistische" Aktion......die Frage ist immer, was denkt sich derjenige oder denkt er sich nichts mehr.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 19:52 Uhr (Zitieren)
.....aber wie gesagt, es ist immer eine persönliche Entscheidung, die man selbst verantworten muss, aber das, was man den anderen antut, hat man nicht mehr im Griff. Das kann einem egal sein......oder auch nicht. Wenn es einem egal ist, dann kann man sowieso alles tun, wie man will.....ist das erstrebenswert? ...Na ja. Wenn ich mir vorstelle, was man allein mit der antiken Beschäftigung alles gewinnen kann, ist allein die Beschäftigung damit schon ein Gegenargument zum Suizid....
aber damit genug zu diesem Thema....
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 20:04 Uhr (Zitieren)
....vielleicht noch eines: man kann sich als Philosoph (Birnbacher) viele Gedanken machen, aber hat er schon das an einem konkreten Beispiel Tumorpatient erlebt? Manchmal sollte auch die geistige Beschäftigung mit der Realität abgestimmt sein...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 20:18 Uhr (Zitieren)
Oja, ich kenne Herrn Birnbacher persönlich und weiß, daß das der Fall ist - ohne jetzt mehr zu sagen.
(Bei mir übrigens auch: ein Freund mit einem Tumor, der aufs Rückenmark übergegriffen hat. Er hat sich, in Abstimmung mit seiner Familie, für den Freitod entschieden.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 20:24 Uhr (Zitieren)

Ich möchte noch einen Aspekt einbringen, der zum Glück heute keine so große Rolle mehr spielt: der Suizid aus gesellschaftlichen Gründen. Damit meine ich den Feldherrn oder den Samurai, der sich nach verlorener Schlacht ins Schwert stürzt/ Harakiri begeht (vor allem wegen der Ehre). Den, der vor dem Ehrengericht zum Selbstmord genötigt wird (Tschaikowski, wegen seiner Homosexualität), den Kapitän, der sicher gehen will, als letzter von Bord gegangen zu sein, was meist dem Selbstmord gleich kommt ( und daher durchaus Sinn macht, da er alles getan haben will, um die Besatzung und Passagiere zu retten) oder den gescheiterten Geschäftsmann/Pleitier, der die Schande, seine gesellschaftliche Stellung verloren zu haben, nicht ertragen kann.
Da hat sich die Sichtweise zumindest geändert. Immerhin!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 20:28 Uhr (Zitieren)
Hat nicht - in gewisser Weise - auch Sokrates, indem er auf die Fluchtmöglichkeiut verzichtete, Suizid begangen? Seine letzte Äußerung ist doch sehr bezeichnend und weist in diese Richtung, daß er nämlich sterben wollte, meine ich.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 20:29 Uhr (Zitieren)
...und noch ein Aspekt ;-)
Cicero hat auch, als er verzweifelt im Exil war an Selbstmord gedacht (Briefe an Atticus)....hat aber durchgehalten und wurde, wie bekannt, ermordet..
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 20:39 Uhr (Zitieren)

Viel schlimmer ist da die Gegenwart:

http://www.politik.de/forum/medien/223048-uberdurchschnittliche.html

Viele türkischstämmige junge Leute haben Selbstmordgedanken, weil sie die Tradition ihrer Eltern nicht mit der Gegenwart in Deutschland zusammenbringen können (z.B. arrangierte Ehe usw.) . Das ist auch eine Form, aus gesellschaftlichen Gründen verzweifelt zu sein.
Dabei ist dies ja wohl der unsinnigste Grund, aus dem Leben zu scheiden, den ich mir vorstellen kann. Man müsste den Betroffenen wohl klar machen, wie frei Menschen hier tatsächlich leben können, wenn sie sich trauen ...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 21:24 Uhr (Zitieren)
Ein Suizid, der in der ganzen abendländischen Tradition, sogar christlicherseits, akzeptiert worden ist: der von Cato Uticensis. Sein letztes Wort ist sogar auf Griechisch überliefert: Νῦν ἐμός ἐιμι - Nunc mei iuris sum.
Hat ihn nicht sogar Dante gewürdigt?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 21:26 Uhr (Zitieren)
Was mir noch einfällt: Weder das Alte Testament noch das Neue Testament noch der Koran verurteilen den Suizid explizit.
Das ist sehr auffallend, weil sowohl Judentum als auch Christentum und Islam ihn theologisch ablehnen. Das können sie aber nicht auf ihre heiligen Schriften gründen.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 21:51 Uhr (Zitieren)
Als positiv denkender Mensch verstehe ich das so: ...Warum sollte man (auch in einer Religion) den Suizid als positiv beurteilen? Er ist es für die eigene Person nicht (da vernichtend) und auch nicht für andere....
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 21:54 Uhr (Zitieren)

Man denke an Lucretia - klares Rollen und Sittenbild, als höheren Prinzipien verpflichteter Selbstmord in Reinheit nicht zu überbieten.

Heute wäre das eine zynisch-frauenfeindliche Sichtweise. Damals vorbildlich. So ändern sich die Zeiten - zumindest in einigen Teilen der Welt.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 21:58 Uhr (Zitieren)
....also kann man als Religion da neutral sein. Aber mal ehrlich: Ist der Suizid wirklich so eine Möglichkeit? Nein....damit hat man den eigenen Kampf aufgegeben...und damit kapituliert....auch nicht erstrebenswert...Leben ist etwas, was man geschenkt bekommen hat, will man es verwerfen?....auch wieder eigene Entscheidung...
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 22:03 Uhr (Zitieren)
@andreas:
Suizid in der Antike war oft ein "gezwungener" Ausweg, der heute nicht mehr gilt. Derjenige, der das in der Antike gemacht hat, war oft in allen Varianten dazu genötigt..
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 22:05 Uhr (Zitieren)

Suizid muss keine Kapitulation sein. Man kann auch Frieden mit dem Schicksal schließen. Aber es stimmt natürlich, dass man dieses Geschenk nicht einfach leichtfertig wegwerfen darf.

Welches Lebewesen kann diese endgültige Entscheidung wirklich freiwillig und bewußt treffen - wohl nur der Mensch. Daher stimmt m. E. das "privilegium humanum". Der Mensch trifft nunmal individuelle Entscheidungen, und davon sind viele auch falsch. Gut, wenn man da nicht alleine ist und davor bewahrt we4rden kann.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 22:07 Uhr (Zitieren)
Suizid in der Antike war oft ein "gezwungener" Ausweg, der heute nicht mehr gilt.


Genau das meinte ich mit gesellschaftlich motiviertem Selbstmord. Und das zum Glück dies heute nicht mehr gültig ist.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 22:08 Uhr (Zitieren)

ups
...Und dass zum Glück dies heute nicht mehr gültig ist.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Βοηθὸς Ἑλληνικός schrieb am 26.06.2010 um 22:15 Uhr (Zitieren)
....und deswegen sollte man mit dem Thema Suizid nicht leichtfertig umgehen....... also als quasi Überschrift:
Plädoyer für das Leben ?

In dem Sinne ...Gute Nacht!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 26.06.2010 um 22:18 Uhr (Zitieren)

Diese Überschrift kann ich gut unterschreiben.

Gute Nacht!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 22:19 Uhr (Zitieren)
Gute Nacht für heute!
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 26.06.2010 um 22:29 Uhr (Zitieren)
Was hier noch nicht erwähnt wurde, aber ein wenig in dem Begriff "Kapitulation" anklingt, ist der Vorwurf der Feigheit.
Dazu schreibt Ambrose Bierce, der als Soldat des Sezessionskrieges dem Tod vielfach ins Auge geschaut und mehrere Tapferkeitsauszeichnungen erhalten hat, insofern vielleicht Fachmann für Mut ist:
A correspondent who is kind enough to profess an interest in my remarks on suicide in the last „Sunday Examiner“ asks me to name some instances in which I think it courageous to commit suicide. It is always courageous. We call it courage in a soldier merely to face death – say to lead a forlorn hope – although he has a chance of life and a certainty of „glory“. But the suicide does more than face death; he incurs it, and with a certainty, not of glory, but of reproach. If that is not courage we must reform our vocabulary.

(Taking Oneself Off)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 27.06.2010 um 16:29 Uhr (Zitieren)
Der jüngere Marius hat bei der Eroberung von Praeneste durch Sulla Suizid begangen, um sich der Tötung durch den Sieger - Sulla machte nicht viel Federlesens mit den Besiegten - zu entziehen. Ist nicht auch das verständlich? Wenn man schon sterben muß, dann lieber durch eigene Hand und damit ohne Demütigung.
(Es ist ja auch auffallend, daß bei zum Tode Verurteilten für nichts so viel Sorge getragen wird wie für die Verhinderung der Selbsttötung.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 04.07.2010 um 23:55 Uhr (Zitieren)
[...] Fast zwei Jahrtausende lang haben die christlichen Autoren den Suizid als Sünde verurteilt. Wann wir sterben sollen, sagte Thomas von Aquin , sei Gottes Entscheidung und nicht unsere. Diese Auffassung war in den christlichen Ländern so fest verankert, daß der Suizidversuch ein Vergehen war, das manchmal – Ideologen haben keinen Sinn für Ironie – mit dem Tod bestraft wurde. Das Suizidverbot war ein Element der allgemeinen Auffassung, daß der Staat die Moral durchsetzen und gegenüber seinen Bürgern paternalistisch handeln sollte.
Diese Sicht von der angemessenen Rolle des Staates wurde im 19. Jahrhundert von dem englischen Philosophen John Stuart Mill zum ersten Mal nachdrücklich angegriffen. In seinem Klassiker On Liberty (dt. Über die Freiheit) schrieb er, „daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds eine zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung“ .
Unheilbar kranke Menschen, die ihren Arzt zu einer selbstgewählten Zeit um Sterbehilfe bitten, schaden niemandem. (Es könnte seltene Ausnahmen geben, etwa wenn sie kleine Kinder haben, die sie brauchen; doch wer so krank ist, daß er sterben möchte, ist im allgemeinen nicht dazu imstande, richtig für seine Kinder zu sorgen.) Wenn gewährleistet ist, daß andere nicht geschädigt werden und die Entscheidung eine dauerhafte ist, die frei und gut informiert von einem oder einer entscheidungsfähigen Erwachsenen getroffen wurde, hat der Staat keinen Grund zum Eingreifen. [...]

(Peter Singer: Leben und Tod. Erlangen 1998, S. 198 f.)
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 05.07.2010 um 18:18 Uhr (Zitieren)
Wenn gewährleistet ist ...


Das ist der springende Punkt (vgl- Beitrag 26.6.2010, 12:45 Uhr).
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 05.07.2010 um 18:36 Uhr (Zitieren)
Dafür argumentiert freilich der - von mir fett geschriebene - Teilsatz vorher.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 05.07.2010 um 18:46 Uhr (Zitieren)

Ja, sicher. Aber heute verhungern Kinder nicht, wenn die Eltern sterben (zumindest in unseren Breiten). Aber, was, wenn die Entscheider, meist die Anverwandten, bei der Beurteilung IHRE EIGENE VERSORGUNG in den Vordergrund stellen? Meine Überlegung könnte auch lauten: wer überwacht die Wächter (ein bekanntes Zitat) - wenn sie über das Leben eines Menschen wachen?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 05.07.2010 um 19:06 Uhr (Zitieren)
Ich plädiere nur für die Selbstbestimmung, nicht für die Entscheidung anderer, schon gar nicht der präsumptiven Erben.
Obwohl ich gerade delber an einem derartigen Fall beteiligt bin. Aber da liegt 'der Fall' aus Altersgründen und auch nach dem Urteil des behandelnden Arztes sehr eindeutig: Da ist der Lebenswille eines steinalten Menschen erloschen; er schluckt nicht einmal mehr eingeflößte Nahrung.

Das ist jetzt ein kleiner Selbstwiderspruch, aber nur ein kleiner.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 05.07.2010 um 19:19 Uhr (Zitieren)

Diesen Fall haben wir auch in der Familie. Den Lebenswillen versuchen wir gerade aufrecht zu erhalten. Aber die Diagnose lässt keinen Zweifel am sehr bald zu erwartenden Ergebnis. . Zum Glück ist er völlig bei geistiger Klarheit. . Und es gibt eine Patientenverfügung! (sehr wichtig)Der Wille ist klar , keine lebensverlängernden Maßnahmen. Aber dies ist ein "Idealfall". Fraglich, ob dies überall so läuft.
Re: Der Suizid als privilegium humanum
Γραικίσκος schrieb am 05.07.2010 um 19:29 Uhr (Zitieren)
Das ist gut!
Bei uns gibt es keine Patientenverfügung, leider. Aber alle betroffenen Mit-Menschen sind einer Meinung. Mit 89 Jahren ... eine Magensonde ...?
Re: Der Suizid als privilegium humanum
ανδρέας schrieb am 05.07.2010 um 19:47 Uhr (Zitieren)

Nein, das ist Quatsch und wohl nur eine Quälerei. Heutzutage gibt es zum Glück Schmerztherapie, die das Sterben erträglicher machen - zumindest physisch. Schlimmer ist da die psychische Belastung des Kranken. Er darf unter keinen Umständen glauben, er werde "lästig" und müsse Zeit und Kosten durch die Abkürzung des Sterbens sparen.
 
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