In dem Dokumentarfilm „Krähen – Die Natur beobachtet uns“ von Martin Schilt (CH/AU 2023) wird gezeigt, wie Rabenvögel das Prinzip der Wasserverdrängung zu nutzen wissen. Dabei wird auf eine Fabel des Äsop verwiesen, in der dies bereits dargestellt wird.
In dem mir zugänglichen Ausgaben von Äsop habe ich diese Fabel nicht gefunden, wohl aber im Netz, wenn auch ohne genaue Quellenangabe:
Einmal, es war im heißesten Monat des Sommers, vertrockneten viele Bäche und auch viele Quellen versiegten. Eine durstige Krähe irrte einen ganzen Tag lang umher auf der Suche nach Wasser. Abends, als sie so erschöpft war, dass sie kaum mehr fliegen konnte, entdeckte sie endlich einen Krug mit Wasser auf der Türschwelle eines Hauses. Sie stürzte hinab, steckte ihren Kopf in den Krug und wollte trinken. Aber der Krug war nur halb voll und die Krähe mochte ihren Hals noch so lange recken, sie erreichte das verlockende Nass nicht mit ihrem Schnabel. Enttäuscht flatterte sie auf, hüpfte flügelschlagend um den Krug und versuchte ihn umzuwerfen. Doch es war ein großer, schwerer Tonkrug, den sie nicht kippen konnte. Als die Krähe niedergeschlagen neben dem Krug hocken blieb, erblickte sie neben der Schwelle des Hauses einen Haufen kleiner Steine. Die Krähe pickte einen Stein nach dem anderen auf und warf ihn in den Krug hinein, bis das Wasser den tönernen Rand erreichte und sie ihren Durst stillen konnte.
Ausdauer und Verstand führen immer zum Ziel.
[https://vs-material.wegerer.at/deutsch/d_fabel_wasserkrug.htm; aufgerufen am 31.5.2024]
Re: Die Krähe und der Wasserkrug
Bukolos schrieb am 03.06.2024 um 18:47 Uhr (
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In der Hausrath/Hunger-Edition (Lpz. 1959) findet sich Fabel von der Κορώνη διψῶσα unter Nr. 311:
κορώνη διψῶσα προσῆλθεν ἐπὶ ὑδρίαν καὶ ταύτην ἐβιάζετο ἀνατρέψαι. ἀλλ᾽ ὅτι ἰσχυρῶς εἱστήκει, οὐκ ἠδύνατο αὐτὴν καταβάλλειν, ἀλλὰ μεθόδῳ ἐπέτυχεν, ὃ ἠθέλησεν. ἔπεμπε γὰρ ψήφους εἰς τὴν ὑδρίαν καὶ τούτων τὸ πλῆθος ἀπὸ κάτωθεν τὸ ὕδωρ ἄνω ὑπερέχεεν· καὶ οὕτως ἡ κορώνη τὴν ἰδίαν δίψαν κατέπαυσεν.
οὕτως οὖν φρόνησις ἀνδρότητα πλανᾷ.
Eine Krähe kam durstig zu einem Krug und versuchte, ihn mit Gewalt umzustürzen. Weil der aber fest stand, vermochte sie das nicht; durch planmäßiges Vorgehen jedoch gelang ihr Vorhaben. Sie warf nämlich Steinchen in den Krug, und deren Menge brachte das Wasser von unten nach oben zum Überlaufen. Auf diese Weise stillte die Krähe ihren Durst.
(Übers. J. Irmscher)
Lateinische Fassungen gibt es bei Avian (Nr. 27) ...
Ingentem sitiens cornix aspexerat urnam,
quae minimam fundo continuisset aquam.
hanc enisa diu planis effundere campis,
scilicet ut nimiam pelleret inde sitim,
postquam nulla viam virtus dedit, admovet omnes
indignata nova calliditate dolos.
nam brevis immersis accrescens sponte lapillis
potandi facilem praebuit unda viam.
viribus haec docuit quam sit prudentia maior,
qua coeptum volucris explicuisset opus.
Einen gewaltigen Krug hatte die dürstende Krähe erblickt,
der sehr wenig Wasser am Boden enthielt.
Den auf das flache Feld auszuschütten, strengte sie sich lange an,
natürlich um so ihren sehr starken Durst zu vertreiben,
aber nachdem die Anstrengung den Weg nicht gezeigt hatte, wandte sie verärgert
alle Listen mit außerordentlicher Schlauheit an.
Denn das niedrige Wasser stieg von selbst an, als sie Steinchen
eingetaucht hatte, und gewährte einen leichten Weg zum Trinken.
Die hier hat gelehrt, wie viel größer als Kraft die Klugheit ist,
mit der die Krähe das begonnene Werk zu Ende führte.
(Übers. N. Holzberg)
... und Romulus (4, 13):
Cornix sitiens accessit ad urnam dimidiam aquae et eam conabatur evertere. sed quoniam fortiter stabat, non poterat eam movere. quod cum videret, hoc argumentum invenit: sumens calculos misit in urnam, et ex multitudine calculorum aqua ex urna sursum perfusa est, et sic suam extinxit sitim.
Ita fiet pessimis, qui bona sua non dividunt cum amicis suis.
Die Krähe, die Durst hatte, kam zu einem mit Wasser halb gefüllten Krug und versuchte ihn umzustürzen. Aber weil er fest dastand, konnte sie ihn nicht bewegen. Als sie das sah, fand sie diesen Trick heraus: Sie nahm Steinchen und warf sie in den Krug, und infolge der Menge der Steinchen floss das Wasser aus der Urne über, und so konnte sie ihren Durst löschen.
So wird es sehr Bösen ergehen, die ihre Güter nicht mit ihren Freunden teilen.
(Übers. N. Holzberg) Re: Die Krähe und der Wasserkrug
Γραικύλος schrieb am 03.06.2024 um 23:03 Uhr (
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Danke!
Diese Äsop-Ausgabe habe ich nicht, und an Avianus sowie Romulus habe ich nicht gedacht, weil im Film ausdrücklich von einer Äsop-Fabel die Rede war.