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Antike erklärt: Polytheismus #2 (81 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 15.04.2025 um 00:39 Uhr (
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„Und was steht in dem Buch?“
„Erstens widerlegt es die Lehre von der Schöpfung der Welt.“
„Wie das denn?“
„Diese bizarre Theorie, die den westlichen Geist mit allerlei abenteuerlichen Vorstellungen vergiftet hat, gründet ausschließlich auf einer Analogie zum Leben des Hornviehs, das unsere Vorfahren jahrtausendelang gehütet haben. Kein Wunder, dass ihnen die Idee der Schöpfung kam. Verwunderlich ist etwas anderes, nämlich dass diese Vorstellung bis heute das Fundament der modernen Spiritualität bildet ...“
„Verzeihen Sie“, sagte T., „aber ich begreife nicht so recht, was das Hornvieh damit zu tun hat.“
„Wenn das Vieh sich gegenseitig befruchtet, wird neues Vieh geboren, das dann weiterexistiert und nicht immer wieder von Neuem gezeugt (2) werden muss. Die Menschen der Antike übertrugen diese Beobachtung auf höhere Sphären und kamen zu dem Schluss, dort herrsche das gleiche Prinzip. Sie glaubten, es gebe einen zeugungsähnlichen Schöpfungsmoment, in dem eine Gottheit, ein Hermaphrodit, sich selbst befruchtet, und bezeichneten diesen Moment als ‚Erschaffung der Welt‘. Nach ihrer Geburt existiert die Welt weiter, eben weil sie bereits gezeugt und geboren wurde.“
„Ich habe mir nie überlegt, dass diese Weltanschauung mit der Viehzucht zusammenhängt.“
„Sehen Sie“, sagte die Fürstin, „auf diesen simplen Gedanken kommt einfach niemand.“
„Und wie stellen die Anhänger der Vielgötterei sich die Erschaffung der Welt vor?“
„Sie glauben, dass die Schöpfung immer noch fortdauert, sich sozusagen ununterbrochen ereignet, Augenblick für Augenblick. Zu verschiedenen Zeiten erschaffen uns verschiede-ne Gottheiten – oder, um es weniger feierlich auszudrücken, verschiedene Wesen. Kurz gefasst besagt die Lehre der Vielgötterei, dass die Götter ständig mit der Erschaffung der Welt beschäftigt sind und keine Minute ruhen. Jede Sekunde wird Eva aus Adams Rippe neu geschaffen, der Turm zu Babylon wird von göttlichen Händen unaufhörlich umgebaut. Die Pantheons der Antike sind lediglich eine zwar anschauliche, aber dem Laien unzugängliche Metapher, in der diese Offenbarung festgehalten wird ...“
„Schwer zu glauben“, sagte T., „dass die Hellenen solche bizarren mystischen Theorien konstruiert haben. So wie ich sie mir vorstelle, waren sie eher simple, sonnige Gemüter. Aber das kommt mir alles irgendwie so mathematisch und deutsch vor. Oder sogar jüdisch.“
Die Fürstin lächelte.
(Viktor Pelewin: Tolstois Albtraum. München 2013, S. 31-39)
(2) d.h. erschaffen
(Fortsetzung folgt)
Re: Antike erklärt: Polytheismus #2
βροχή schrieb am 15.04.2025 um 06:01 Uhr (
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Diese Rindertheorie erinnert mich spontan an den germanischen Schöpfungsmythos, wonach die Welt aus einer riesigen überdiemensionalen mythischen Kuh entstand. Es ist auch eine Vielgötterwelt.
Die heilige Kuh der Inder, der heilige Stier der Ägypter. Das goldene Kalb. An der Verbindung Rind-Vielgötterei ist doch was dran?
Aber was ist mit Ngai, jener Schöpfergott, der den Massai sämtliche Rinder der Welt schenkte, der ist ein monotheistischer Gott.
Sicher ist die starke religiöse Präsenz der Rinder.
Re: Antike erklärt: Polytheismus #2
Γραικύλος schrieb am 15.04.2025 um 16:29 Uhr (
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Diese "Gottheit, ein Hermaphrodit, sich selbst befruchtet" und so die Welt erschafft, kenne ich aus der altorientalischen und altägyptischen Mythologie.
Das kam hier auch schonmal vor.
Dieser Ansatz paßt - so die Gräfin - gut zum Monotheismus, denn der polytheistische Schöpfungsmythos ist ein ganz anderer, den sie uns noch weiter erläutern wird.
Re: Antike erklärt: Polytheismus #2
Udo schrieb am 16.04.2025 um 14:12 Uhr (
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Hermaphroditische oder androgyne Gottheiten hatten einen bedeutenden Platz in verschiedenen antiken Religionen und Kulten. Hier sind einige Beispiele:
Hermaphroditos: Die bekannteste hermaphroditische Gottheit der griechischen Mythologie, aus deren Namen der Begriff stammt. Ursprünglich ein schöner Jüngling, verschmolz er mit der Nymphe Salmakis zu einem zweigeschlechtlichen Wesen.
Agdistis: Eine phrygische Gottheit, die ursprünglich als hermaphroditisches Wesen geboren wurde. Laut Mythos waren die Götter von ihrem Doppelgeschlecht verunsichert und entmannten sie, woraus die Göttin Kybele hervorging.
Aphroditos: Eine Erscheinungsform der Aphrodite auf Zypern, die mit männlichen Attributen dargestellt wurde. Verehrer dieses Kults kleideten sich oft geschlechterübergreifend.
Dionysus/Bacchus: Obwohl nicht strikt hermaphroditisch, wurde er oft mit einer gewissen Geschlechterambiguität dargestellt – weibliche Züge und Attribute wie lange Haare und weiche Körperformen.
Ägyptische Gottheiten: Mehrere ägyptische Götter wurden mit androgynischen oder geschlechtswechselnden Eigenschaften dargestellt. Der Sonnengott Aton/Ra wurde manchmal als selbstzeugend und damit zweigeschlechtlich betrachtet.
Diese Gottheiten hatten oft besondere Bedeutung in Fruchtbarkeitskulten oder symbolisierten die Vereinigung der Gegensätze und kosmische Ganzheit. In einigen philosophischen Traditionen, besonders in gnostischen und orphischen Strömungen, galt das Hermaphroditische auch als ursprünglicher, vollkommener Zustand vor der Trennung der Geschlechter.
In der Kunst wurden hermaphroditische Gottheiten häufig dargestellt, besonders in der hellenistischen und römischen Periode, wo Statuen des Hermaphroditos ein beliebtes künstlerisches Motiv waren.
Sowohl in der griechischen als auch in der römischen Kultur wurden Hermaphroditen (Menschen mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsmerkmalen, was wir heute als intersexuell bezeichnen würden) dokumentiert. Allerdings war das Verständnis natürlich ein anderes als das heutige medizinische Wissen.
In medizinischen Texten wie denen von Hippokrates und später Galen gibt es Beschreibungen von Menschen mit uneindeutigen oder gemischten Geschlechtsmerkmalen. Der römische Autor Plinius der Ältere erwähnt in seiner "Naturalis Historia" ebenfalls Hermaphroditen.
In der antiken Gesellschaft wurden solche Geburten oft als Omen oder göttliches Zeichen interpretiert. In Rom wurden Hermaphroditen zeitweise als Missbildung und schlechtes Omen angesehen, was manchmal zur Tötung führte, besonders in früheren Zeiten. Im späteren Rom und in verschiedenen Teilen der griechischen Welt gab es jedoch auch Kulte und mythologische Traditionen, die androgyne oder hermaphroditische Gottheiten verehrten.