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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Nicht an den Tod denken (170 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 14.06.2025 um 10:53 Uhr (Zitieren)
Πᾶσι θανεῖν μερόπεσσιν ὀφείλεται, οὐδέ τις ἐστίν,
αὔριον εἰ ζήσει, θνητὸς ἐπιστάμενος.
τοῦτο σαφῶς, ἄνθρωπε, μαθὼν εὔφραινε σεαυτόν,
λήθην τοῦ θανάτου τὸν Βρόμιον κατέχων.
τέρπεο καὶ Παφίῃ τὸν ἐφημέριον βίον ἕλκων.
τἆλλα δὲ πάντα Τύχῃ πράγματα δὸς διέπειν.

Einmal ist jeder Mensch hienieden zu sterben verurteilt, und keiner
unter den Irdischen weiß, ob er ein Morgen erlebt.
Nimm das treulich zu Herzen und mach sie dir sonnig, die Tage,
halt dich an Bakchos und schlag, Mensch, dir den Tod aus dem Sinn.
Freu dich an Paphias (1) Lust, solang dir das Leben vergönnt ist,
und überlasse den Rest all deiner Dinge dem Glück.

[Palladas; Anthologia Graeca XI 62]

(1) Kult der Aphrodite
Re: Nicht an den Tod denken
Patroklos schrieb am 14.06.2025 um 11:12 Uhr (Zitieren)
Ob mit Tyche dann doch eher das Schicksal gemeint ist?
Die englische Übersetzung des Epigramms ist „fortune“, was Glück, auch Schicksal, Zufall bedeuten kann. Die Ambivalenz auch im Frz.
Verschieben/vermischen sich die Wirksphären von Tyche und Moiren?
Re: Nicht an den Tod denken
Udo schrieb am 14.06.2025 um 13:09 Uhr (Zitieren)
Die Wirksphären von Tyche und den Moiren überschneiden und vermischen sich tatsächlich, besonders in späterer Zeit.
Ursprüngliche Abgrenzung:
Moiren (Μοῖραι):

Unabänderliches Schicksal - der zugeteilte Lebensanteil
Von μοῖρα = "Teil, Anteil, Los"
Klotho, Lachesis, Atropos - spinnen, messen, schneiden den Lebensfaden
Determinismus - was feststeht

Tyche (Τύχη):

Variables Glück/Schicksal - was einem "zutrifft"
Unvorhersagbare Wendungen des Lebens
Kontingenz - was hätte anders sein können

Verschmelzung in der Praxis:
Hellenistische Zeit:
Die Grenzen verschwimmen - Tyche wird zur Schicksalsmacht schlechthin.
Sie regiert nicht nur Zufall, sondern auch größere Lebenswenden.
Sprachliche Ambivalenz:

Lateinisch: fortuna = Glück UND Schicksal
Französisch: fortune = Reichtum, Glück, Schicksal, Zufall
Englisch: fortune = alle diese Bedeutungen

Philosophische Entwicklung:
Klassische Zeit: Tyche = kontingente Ereignisse ≠ Moira = Schicksal
Hellenismus: Tyche übernimmt auch die Rolle der Schicksalsgöttin
Römische Zeit: Fortuna wird zur mächtigsten Schicksalsgöttin
Die Ambivalenz ist also nicht nur sprachlich, sondern spiegelt eine tatsächliche theologische Entwicklung wider - von der Spezialisierung zur Verschmelzung der Schicksalsmächte.


Fazit
In späteren Epochen verschieben sich die Wirksphären: Tyche übernimmt teilweise die Rolle der Moiren, besonders in kulturellen Vorstellungen vom „blinden“ Schicksal.

Die semantische Offenheit von fortune (engl./frz.) spiegelt diese historische Überlagerung wider – sie ist also nicht zufällig, sondern Ausdruck eines tiefergehenden Strukturwandels im Schicksalsverständnis.


Re: Nicht an den Tod denken
Patroklos schrieb am 14.06.2025 um 14:23 Uhr (Zitieren)
Wodurch vollzog sich wohl diese Verschiebung?
Nur nebenbei:
Ihr fahrt Caesar und sein Glück.
Friedrich der Große erwartete von seinen Generälen Tüchtigkeit und Fortune.
Re: Nicht an den Tod denken
Udo schrieb am 14.06.2025 um 14:46 Uhr (Zitieren)
Diese Verschiebung von den Moiren zu Tyche als dominanter Schicksalsmacht vollzog sich durch mehrere ineinandergreifende kulturelle und historische Entwicklungen:

Politische Instabilität und Kontrollverlust Die hellenistische Zeit brachte enorme politische Umbrüche mit sich - Alexanders Eroberungen, die Diadochenkämpfe, wechselnde Herrschaften. Menschen erlebten ihre Lebensbedingungen als zunehmend unvorhersagbar und außerhalb ihrer Kontrolle. Das traditionelle Bild der Moiren als geordnete, wenn auch unerbittliche Schicksalsspinnerinnen passte nicht mehr zu dieser Erfahrung chaotischer Willkür.

Philosophische Neuorientierung Stoiker und Epikureer entwickelten neue Konzepte des Umgangs mit Ungewissheit. Während die Moiren ein deterministisches, aber letztlich sinnvolles Schicksal verkörperten, entsprach Tyche eher der stoischen Vorstellung einer grundsätzlich unberechenbaren Welt, in der man nur die eigene Haltung kontrollieren kann.

Individualisierung der Religiosität Die traditionellen Polisreligionen verloren an Bindungskraft. Tyche bot eine direktere, persönlichere Beziehung zum Schicksal - sie konnte angerufen, beschworen oder gefürchtet werden, während die Moiren eher als kosmische Prinzipien galten, die sich menschlicher Einflussnahme entzogen.

Kulturelle Vermischung Im Hellenismus verschmolzen griechische Vorstellungen mit orientalischen Schicksalskonzepten. Fortuna/Tyche als launische Göttin passte besser zu dieser synkretistischen Religiosität als das spezifisch griechische Moiren-Konzept.

Die "Blindheit" Tyches symbolisierte dabei die neue Erfahrung einer Welt ohne erkennbare göttliche Ordnung.
 
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