Re: Dark Greece
meine Meinung schrieb am 15.11.2025 um 12:20 Uhr (
Zitieren)
Da denke ich spontan an Dark Middle Ages.
Dabei hat aber wohl jedes Zeitalter Licht-und
schlimme Schattenseiten.
Ein goldenes gab und gibt es nur in der Fantasie und dem
Wunschdenken des Menschen, der unter dem
enormen Druck der Realität leidet.
Re: Dark Greece
info schrieb am 15.11.2025 um 15:44 Uhr (
Zitieren)
Goldenes Zeitalter und Neolithische Revolution
Die These: Paradiesmythen als Erinnerung an präneolithische Zeit?
Die Frage, ob Mythen vom Goldenen Zeitalter oder Paradies auf die Zeit vor der Neolithischen Revolution zurückgehen könnten, verbindet Anthropologie, Archäologie und Mythologie.
Argumente für eine historische Grundlage
Vorteile paläolithischer Lebensweise
Gesundheit und Körperbau:
Archäologische Befunde zeigen, dass paläolithische Jäger und Sammler oft größer und robuster waren als frühe Ackerbauern
Bessere Zahngesundheit durch weniger Kohlenhydrate
Geringere Anzeichen von Mangelernährung
Vielfältigere Ernährung aus verschiedenen Quellen
Arbeitszeit und Lebensweise:
Marshall Sahlins' Konzept der "original affluent society"
Schätzungen: 3-5 Stunden Arbeit pro Tag für Nahrungsbeschaffung
Mehr Zeit für soziale Interaktion, Kunst, Rituale
Geringere Arbeitslast als bei landwirtschaftlicher Arbeit
Soziale Strukturen:
Egalitärere Gesellschaften ohne ausgeprägte Hierarchien
Keine Akkumulation von Besitz (nomadische Lebensweise)
Kooperative Sozialstrukturen
Nachteile der Neolithischen Revolution
Gesundheitliche Verschlechterung:
Kleinerer Körperbau bei frühen Ackerbauern
Zahnkaries durch getreidebasierte Ernährung
Neue Infektionskrankheiten durch Tierhaltung und Sesshaftigkeit
Epidemien durch höhere Bevölkerungsdichte
Soziale Veränderungen:
Entstehung von Eigentum und sozialen Hierarchien
Kriegsführung um Land und Ressourcen
Abhängigkeit von wenigen Nutzpflanzen (Ernteausfälle = Hungersnöte)
Arbeitslast:
Intensive körperliche Arbeit auf Feldern
Längere Arbeitszeiten als bei Jägern und Sammlern
Monotonere Tätigkeiten
Kritische Einwände
Gegen die Romantisierung
Realitäten prähistorischen Lebens:
Hohe Kindersterblichkeit
Geringe Lebenserwartung
Ständige Bedrohung durch Raubtiere, Unfälle, Krankheiten
Völlige Abhängigkeit von Naturzyklen
Keine medizinische Versorgung
Ressourcenknappheit konnte tödlich sein
Zeitliche Probleme
Chronologische Lücke:
Neolithische Revolution: ca. 10.000 v. Chr.
Früheste schriftliche Paradies-Mythen: ca. 3000-2000 v. Chr.
Zeitspanne von 7.000-8.000 Jahren
Fraglich, ob kulturelle Erinnerung so lange bestehen kann
Alternative Erklärungen:
Universelle menschliche Sehnsucht nach einem Leben ohne Mühsal
Psychologische Projektion eines idealisierten Urzustands
Literarisches Motiv zur Kritik gegenwärtiger Gesellschaft
Anthropologische Bedenken
Keine eindeutigen Belege für kontinuierliche mündliche Überlieferung über Jahrtausende
Viele Jäger-und-Sammler-Gesellschaften haben selbst keine solchen Mythen
Paradieserzählungen unterscheiden sich stark zwischen Kulturen
Mögliche Interpretationen
1. Direkte historische Erinnerung
Sehr unwahrscheinlich aufgrund der zeitlichen Distanz, aber nicht völlig ausgeschlossen bei sehr stabilen oralen Traditionen.
2. Indirekte kulturelle Reflexion
Die Paradiesmythen könnten eine kollektive, nicht-bewusste Verarbeitung der fundamentalen Transformation durch die Sesshaftwerdung sein.
3. Universelle menschliche Ambivalenz
Die Mythen reflektieren möglicherweise weniger eine konkrete historische Epoche als eine zeitlose Spannung zwischen:
Freiheit vs. Sicherheit
Einfachheit vs. Komplexität
Natur vs. Zivilisation
Gleichheit vs. Hierarchie
4. Beobachtete Kontraste
Frühe Ackerbaugesellschaften lebten möglicherweise noch neben Jäger-und-Sammler-Gruppen und konnten deren scheinbar "mühelosere" Lebensweise beobachten, was zu idealisierten Darstellungen führte.
Fazit
Die These ist intellektuell reizvoll und hat gewisse empirische Anhaltspunkte, bleibt aber spekulativ. Wahrscheinlicher als eine direkte historische Erinnerung ist, dass die Paradiesmythen eine universelle menschliche Reflexion über die Ambivalenzen der Zivilisation darstellen - wobei tatsächliche historische Erfahrungen der neolithischen Transformation diese Mythen mitgeprägt haben könnten.
Die neolithische Revolution war tatsächlich ein "Sündenfall" im Sinne eines Verlusts von Gleichheit, Gesundheit und Freizeit, aber auch ein notwendiger Schritt für Bevölkerungswachstum, technologische Entwicklung und letztlich die Entstehung komplexer Kulturen.
Weiterführende Literatur
Sahlins, Marshall: "The Original Affluent Society" (1966)
Diamond, Jared: "Der dritte Schimpanse" / "Guns, Germs, and Steel"
Harari, Yuval Noah: "Eine kurze Geschichte der Menschheit"
Scott, James C.: "Against the Grain: A Deep History of the Earliest States"