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Die Geschichte des Gyges #1 (16 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 04.12.2025 um 16:36 Uhr (
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Herodot, Historien I 8-14:
Gyges soll von ca. 680 bis 644
v.u.Z. in Lydien regiert haben. Vermutlich geht die Erfindung des gemünzten Geldes auf seinen hohen Finanzbedarf wegen der zahlreichen von ihm geführten Kriege zurück.
8 Dieser Kandaules liebte seine Frau sehr; in seiner Liebe glaubte er, sie sei die allerschönste Frau der Welt. Unter seinen Leibwächtern war Gyges, der Sohn des Daskylos. Der stand bei ihm in großer Gunst. Diesem Gyges vertraute Kandaules auch die wichtigsten Angelegenheiten an, vor ihm pries er auch die Schönheit seines Weibes.
Es dauerte gar nicht lange – Kandaules mußte nun einmal dem Verderben verfallen -, so sagte er zu Gyges: „Gyges, du glaubst mir anscheinend nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Frau erzähle; den Ohren glauben ja die Menschen weni-ger als den Augen [ὦτα γὰρ τυγχάνει ἀνθρώποισι ἐόντα ἀπιστότερα ὀφθαλμῶν]. Sieh doch zu, daß du sie einmal nackt sehen kannst!“ Gyges aber schrie laut auf und sagte: „Herr, was sprichst du da für sinnlose Worte! Du sagst, ich soll meine Herrin nackt sehen? Mit dem Gewand, das sie ablegt, zieht eine Frau auch ihr Schamgefühl aus. Weise Menschen haben seit langem schon herausgefunden, was recht und gut ist. Von ihnen muß man lernen. Bei ihnen steht der eine Satz: ein jeder beschaue nur, was ihm gehört [σκοπέειν τινὰ τὰ ἑωυτοῦ]. Ich glaube gerne, daß sie die schönste aller Frauen ist, und bitte dich, verlange nichts Unrechtes von mir!“
9 Mit solchen Worten lehnte er das Ansinnen des Kandaules ab; er fürchtete, es könnte ihm daraus Unheil erwachsen. Kandaules aber antwortete: „Sei ruhig, Gyges, und fürchte nichts; ich sage dieses Wort nicht, um dich auf die Probe zu stellen, und auch meine Frau soll dir nichts zuleide tun. Ich will es von Anfang an so einrichten, daß sie es nicht einmal merkt, wenn du sie anschaust. Ich will dich in dem Zimmer, in dem wir schlafen, hinter die geöffnete Tür stellen. Nach mir wird dann auch meine Frau hereinkommen, um sich zur Ruhe zu legen. Bei der Tür steht ein Sessel. Sie wird sich auskleiden und ihre Gewänder nacheinander darauflegen. Da kannst du sie in aller Ruhe betrachten. Wenn sie aber vom Sessel zum Lager schreitet und dir den Rücken kehrt, ist es deine Sache, durch die Tür zu verschwinden, ohne daß sie dich sieht.“
10 Gyges konnte sich dem Befehle des Königs nicht entziehen und war schließlich dazu bereit. Als die Schlafenszeit gekommen war, führte Kandaules den Gyges in das Schlafgemach, und gleich danach kam auch seine Frau. Gyges betrachtete sie, wie sie hereinkam und die Gewänder ablegte. Als sie zum Bett schritt und ihm den Rücken zuwandte, kam er hinter der Tür hervor und schlich hinaus.
(Herodot: Historien. 2 Bde. Herausgegeben von Josef Feix. München ²1977; Bd. 1, S. 12-17)