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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Ansicht und Vorurteil (38 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 11.12.2025 um 14:01 Uhr (Zitieren)
Chr. M. Wieland: Geschichte der Abderiten
[...]
„Aber (sagten die Abderiten) kann man auch mit einem Menschen schlimmer daran sein? Über alles in der Welt ist er andrer Meinung als wir. An allem, was uns gefällt, hat er etwas auszusetzen. Es ist doch sehr unangenehm, sich immer widersprechen zu lassen!“

„Aber wenn ihr nun immer unrecht habt?“ antwortete Demokrit. – „Und laßt uns doch einmal sehen, wie es anders sein könnte! – Alle eure Begriffe habt ihr eurer Amme zu danken; über alles denkt ihr noch eben so, wie ihr als Kinder davon dachtet. Eure Körper sind gewachsen, und eure Seelen liegen noch in der Wiege. Wie viele sind wohl unter euch, die sich die Mühe gegeben haben, den Grund zu erforschen, warum sie etwas wahr oder gut oder schön nennen? Gleich den Unmündigen und Säuglingen ist euch alles gut und schön, was eure Sinne kitzelt, was euch gefällt.
Und auf was für kleinfügige, oft gar nicht zur Sache gehörende Ursachen und Umstände kommt es an, ob euch etwas gefallen soll oder nicht? Wie verlegen würdet ihr oft sein, wenn ihr sagen solltet, warum ihr dies liebt und jenes has-set! Grillen, Launen, Eigensinn, Gewohnheit euch von andern Leuten gängeln zu lassen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, und, was sie euch vorgepfiffen haben, nachzupfeifen, - sind die Triebfedern, die bei euch die Stelle der Vernunft ersetzen.

Soll ich euch sagen, woran der Fehler liegt? Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. ‚Wir sind ein freies Volk‘, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden. ‚Warum sollten wir nicht denken dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt? bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?‘ –

Nun denn, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn und was euch beliebt! Begeht Torheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang‘ es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrifft, wäre es unbillig, euch im Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe von vorn und von hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was tut das? Wenn eure Torheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an daß es Torheiten sind? Warum sollte nicht der hochweise Rat von Abdera, in feierlicher Prozession, einer hinter dem andern, vom Rathause bis zum Tempel der Latona – Burzelbäume machen dürfen, wenn es dem Rat und dem Volke von Abdera so gefällig wäre? Warum solltet ihr euer bestes Gebäude nicht in einen Winkel, und eure schöne kleine Venus nicht auf einen Obelisk setzen dürfen? –

Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Torheiten sind so unschuldig wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden tut, so müßt ich euer Freund nicht sein, wenn ich still dazu schweigen könnte.
[...]

(Christoph Martin Wieland: Romane. Hrsg. v. Friedrich Beißner. München 1964, S. 627 f.)
 
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