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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Wenn der lahme Weber träumt, er webe (2078 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 28.12.2010 um 14:20 Uhr (Zitieren)
Es hat gar nichts mit der Antike zu tun. Günstigstenfalls ist es allgemein menschlich. Aber es ist ein wunderbares Gedicht, und vielleicht kann ich meine Freude, es entdeckt zu haben, mit jemandem teilen:
Wenn der lahme Weber träumt, er webe,
Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe,
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe,
Daß das Herz des Widerhalls zerspringe,
Träumt das blinde Huhn, es zähl’ die Kerne,
Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
Träumt das starre Erz, gar linde tau’ es,
Und das Eisenherz, ein Kind vertrau’ es,
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Führt der hellen Töne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all schreien;
Weh, ohn’ Opfer gehn die süßen Wunder,
Gehn die armen Herzen einsam unter!

(Clemens Brentano)
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
ανδρέας schrieb am 28.12.2010 um 18:33 Uhr (Zitieren)
Das erinnert stark an die Bibel:

τυφλοὶ ἀναβλέπουσιν καὶ χωλοὶ περιπατοῦσιν, λεπροὶ καθαρίζονται καὶ κωφοὶ ἀκούουσιν, καὶ νεκροὶ ἐγείρονται καὶ πτωχοὶ εὐαγγελίζονται•

Die Blinden sehen, und die Lahmen gehen; die Aussätzigen werden rein, und die Tauben hören; die Toten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium geprediget;

Matth. 11,5

Aber:

Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen…


mutternackte Wahrheit … sehr schön. Da ist vielen sicher das Evangelium lieber als sich den Traum übern Haufen rennen zu lassen.

Ein schönes Gedicht!
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Γραικίσκος schrieb am 28.12.2010 um 19:05 Uhr (Zitieren)
Es freut mich, daß es Dir gefällt.
Und Du hast ja doch noch eine Verbindung zu einem griechischen Text hinbekommen!
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
ανδρέας schrieb am 28.12.2010 um 19:45 Uhr (Zitieren)
Griechischer Bezug, ja, wobei die skeptischen Griechen sicher eher der Ansicht eines modernen Menschen zustimmen würden:

Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.
- Relling in Die Wildente (5. Akt)


… wer mag schon die mutternackte Wahrheit …

Ich glaube, ein bisschen Selbstbetrug braucht jeder Mensch. Wer will schon unglücklich leben?
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Γραικίσκος schrieb am 01.01.2011 um 15:02 Uhr (Zitieren)
Die "mutternackte Wahrheit" hat manchmal etwas Zwingendes. Sie führt dann dramatische Kämpfe mit der beharrlichen Neigung zur Lebenslüge.
Fußballerisch: "Die Wahrheit ist auf dem Platz." Die Lebenslüge kontert dann in der anschließenden Pressekonferenz.
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
ανδρέας schrieb am 01.01.2011 um 15:54 Uhr (Zitieren)
„Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!“


Adolph Freiherr Knigge

Die mutternackte Wahrheit schützt auch nicht gerade das Verhältnis zu anderen. In der Diplomatie schon gar nicht. Die wohlgemeinte Lüge kann die Seele anderer schonen - und auch die eigene.
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Γραικίσκος schrieb am 01.01.2011 um 16:05 Uhr (Zitieren)
Versuch einer Gegenposition:
Im Sinne Kants ist auch die wohlgemeinte Lüge keine verallgemeinerbare Maxime, denn als allgemeines Gesetz gedacht untergräbt sie das Vertrauen.
Man glaubt sie nicht mehr, und damit verliert sie ihre Wirkung.

(Möglicherweise irrt Kant hier, denn die Eigenliebe bringt uns dazu, Komplimente etc. dennoch, wider alle Vernunft, zu glauben. Ich bin mir aber nicht sicher. Das hängt vielleicht vom Typ ab.)
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
ανδρέας schrieb am 01.01.2011 um 16:24 Uhr (Zitieren)

Du hast mit Kant sicher recht. Im zwischenmenschlichen Verkehr ist sie in Maßen aber sinnvoll. Ich denke da an die Ringparabel (Nathan, der Weise und Boccaccio)- der Ring, der anderen die eigene Gegenwart angenehm macht.
Das heißt selbstverständlich nicht, Realitäten zu leugnen, die man im "Daseinskampf" braucht.
Beispiel: man sage der Dame VOR der Party, welche Kleid ihr steht. AUF der Party ist es nicht angebracht etwas anderes zu tun, als das Kleid zu loben- sie kann es ja nicht mehr ändern.
Möge sie sich wohlfühlen, wie es ihr beliebt - wer mag schon eine unglückliche Frau?
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Γραικίσκος schrieb am 01.01.2011 um 16:36 Uhr (Zitieren)
Vielleicht ist das die Kunst der Höflichkeit: die Wahrheit in freundlicher Form und zur rechten Zeit zu sagen?
Re: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
ανδρέας schrieb am 01.01.2011 um 18:05 Uhr (Zitieren)

Ja, so sehe ich das.
Es gibt auch die Möglichkeit, freundlich sehr hässliche Dinge zu sagen.
Bei einer Veranstaltung sagte mal einer (zu seinem Glück nicht zu meiner Frau):
"Ihr Kleid wird von Jahr zu Jahr schöner".

Kurzum:
Im zwischenmenschlichen Verkehr gelten nicht die Regeln der exakten Naturwissenschaft (zumindest sind sie nicht immer hilfreich).
Es käme ja auch kein vernünftiger Mensch darauf, einen Behinderten oder gebrechlichen Menschen wegen seiner Einschränkungen zu kritisieren. Obwohl ... es gibt ein Urteil, wonach Leute ihren Reisepreis mindern durften, weil im Hotel auch Behinderte untergebracht waren und sie dadurch angeblich die Frühstücksfreude beeinträchtigt haben sollen.
Das ist eine mutternackte Wahrheit und sie betrifft die Beschwerdeführer.

 
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