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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Ein Beitrag zur Glücksdiskussion (756 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 05.01.2011 um 19:03 Uhr (Zitieren)
[...] „Ich will Ihnen erzählen, welche Wandlung in diesen wenigen Stunden, da ich auf seinem Gut weilte, in mir vorging. Am Abend, als wir Tee tranken, stellte die Köchin einen Teller voller Stachelbeeren auf den Tisch. Das waren keine gekauften, sondern seine eigenen Stachelbeeren, die ersten, seitdem die Sträucher gepflanzt worden waren. Nikolai Iwanytsch lachte und blickte die Stachelbeeren ein Weilchen schweigend an, mit Tränen in den Augen – er konnte vor Rührung nicht sprechen; dann aber steckte er sich eine Beere in den Mund, schaute mich triumphierend an wie ein Kind, das endlich seine geliebtes Spielzeug bekommen hat, und sagte: ‚Wie schmackhaft!‘
Er aß gierig und wiederholte es immer wieder: ‚Ach, wie schmackhaft! Probier mal!‘
Die Beeren waren hart und sauer, aber wie Puschkin sagt, ‚teurer als die bittere Wahrheit ist uns der erhabene Wahn‘. Ich sah einen glücklichen Menschen vor mir, dessen sehnlichster Wunschtraum ganz offensichtlich in Erfüllung gegangen war, der sein Ziel im Leben erreicht, der das bekommen hatte, was er haben wollte, der wirklich mit dem Schicksal und mit sich selber zufrieden war. Meinen Gedanken über das menschliche Glück hatte sich immer etwas Wehmütiges beigesellt, nun aber, beim Anblick dieses glücklichen Menschen, übermannte mich ein bedrückendes Gefühl, das an Verzweiflung grenzte. Besonders bedrückend war es in der Nacht. Man hatte mir ein Bett im Zimmer neben dem Schlafgemach meines Bruders hergerichtet, und ich konnte hören, daß er nicht schlief und immer wieder aufstand, zu dem Teller mit den Stachelbeeren ging und sich eine Beere nahm. Ich überlegte mir, wie viele zufriedene, glückliche Menschen es eigentlich gibt. Was für eine überwältigende Macht ist das! Sehen Sie sich dieses Leben an: Unverfrorenheit und Müßiggang der Starken, Unwissenheit und Tierähnlichkeit der Schwachen, ringsum unglaubliche Armut, Enge, Entartung, Trunkenheit, Heuchelei, Lügen ... Dabei herrscht in allen Häusern und auf den Straßen Ruhe und Frieden; unter fünfzigtausend Menschen, die in der Stadt leben, ist kein einziger, der aufschreien oder laut protestieren würde. Wir sehen die Menschen, die auf den Markt gehen und Lebensmittel einkaufen, die am Tag essen, nachts schlafen, die Unsinn reden, heiraten, alt werden und seelenruhig ihre Verstorbenen auf den Friedhof schleppen; aber wir sehen und hören nicht diejenigen, die leiden, und das Schreckliche im Leben spielt sich irgendwo hinter den Kulissen ab. Alles ist still und friedlich, und es protestiert nur die stumme Statistik: Soundso viele haben den Verstand verloren, soundso viele Eimer Schnaps wurden ausgetrunken, soundso viele Kinder sind an Unterernährung zugrunde gegangen ... Und eine solche Ordnung ist offenbar notwendig; offenbar fühlt sich der Glückliche nur deshalb wohl, weil die Unglücklichen ihre Last schweigend tragen, und ohne dieses Schweigen wäre das Glück unmöglich. Das ist eine allgemeine Hypnose. An der Tür eines jeden zufriedenen, glücklichen Menschen müßte jemand mit einem Hämmerchen stehen und ständig mit seinem Klopfen daran erinnern, daß es Unglückliche gibt, daß das Leben, so glücklich es auch sein mag, ihm früher oder später seine Krallen zeigen wird und daß auch ihn das Unglück treffen wird – Krankheit, Armut, Verluste -, und dann wird ihn niemand sehen und hören, so wie er jetzt die anderen nicht hört oder sieht. Doch den Menschen mit dem Hämmerchen gibt es nicht, der Glückliche lebt zu seinem Vergnügen, und die kleinen Sorgen des Lebens bewegen ihn nur leicht wie der Wind die Espe – und alles ist zum Besten bestellt.“ [...]

(Anton P. Tschechow: Die Stachelbeeren)
Re: Ein Beitrag zur Glücksdiskussion
ανδρέας schrieb am 05.01.2011 um 20:13 Uhr (Zitieren)
Man denke an Herodots Solon, der beim Lyderkönig Kroisos, der sich von dem Gast bestätigen lassen möchte, er sei der glücklichste Mensch auf der Erde. den Athener Tellos als den Glücklichsten bezeichnet, weil dieser in einem blühenden Gemeinwesen gelebt, tapfere Söhne, gesunde Enkel, ein gutes Vermögen und einen ehrenvollen Tod als Soldat gehabt habe. ( Herodot I, 29 u. 30)

Niemand ist vor dem Tode glücklich (Ovid, Metamorphosen, III, 136. ) !

Bei Tschechow besteht Glück wohl in der Kenntnis und gleichzeitigen Verdrängung des Unglücks anderer. Da hat er bezogen auf viele Leute sicher nicht gerade unrecht.
 
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