ανδρέας schrieb am 12.01.2011 um 21:52 Uhr (Zitieren)
ψυχή μυστικός
Wie unterscheidet man eigentlich psychotische Zustände von den mystischen Erfahrungen z.B. einer Hildegard von Bingen, Bernhard von Clairvaux, Ignatius von Loyola, Teresa von Avila u.a. ?
Der „Psychotiker“ bleibt mit seinen „Erfahrung“ einsam und unverstanden zurück und wird von seiner Umgebung stigmatisiert, während der Mystiker in der Religion aufgehoben ist und ggf. die Glaubenstradition bereichert.
Gibt es da irgendwelche Studien, die versuchen, die Erfahrungen der Mystiker klinisch-psychologisch ( natürlich schwierig im nachhinein) zu bewerten?
Hildegard von Bingen soll z.B. an einem Skotom gelitten haben, dass Lichthalluzinationen hervorrief. Nostradamus soll seine Visionen mit Drogen hervorgerufen haben (gilt allerdings nicht als Mystiker). Man denke an die Weissagungen von Fatima und … und … und .
Gibt es eine übergreifende Studie, die diese „visionären“ Persönlichkeiten mal schlüssig untersucht hat?
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 13.01.2011 um 08:57 Uhr (Zitieren)
Es soll wohl in der Meditation etc. laut neurologischen Untersuchungen Zustände geben, in denen das Aufmerksamkeitsareal des Gehirns hochaktiv ist, das Orientierungsareal hingegen weitgehend inaktiv.
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 13.01.2011 um 09:56 Uhr (Zitieren)
Das ist ein interessantes Thema! Studien kenne ich dazu keine, das dürfte auch recht schwierig durchzuführen sein, bestenfalls retrospektiv und deskriptiv. Ein Problem ist schon, dass Visionen durch verschiedene Ursachen induziert werden können (Halluzinogene Drogen, Migräne, physiologische Veränderungen wie z.B. ein Hirntumor...)
Manche Fälle werden von den Medizineren wieder aufgegriffen, z.B. hat Oliver Sacks sich sehr mit Migräne beschäftigt und kam dann natürlich auf Hildegard. In seinem Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte", widmet er ihr ein eigenes Kapitel: "Die Visionen der heiligen Hildegard":
Richtig spannend ist die Frage, wie eigentlich psychotische Zustände von mystischen Erfahrungen unterschieden werden können. Können sie wirklich unterschieden werden oder ist das nicht eher eine Bewertung des jeweiligen Umfeldes durch die Kultur bedingt?
Der Erfolg der Hildegard von Bingen hängt auch damit zusammen, dass sie von ihrer Umwelt anerkannt wurde, nicht zuletzt weil der Papst hinter ihr stand. Ein oder zwei Jahrhunderte später wäre sie vielleicht als Ketzerin verurteilt worden.
Wie würden wir die Pythia, die aufgrund der aus der Erde aufsteigenden Dämpfe ihre Sprüche "fand", heute klassifizieren? Bestimmt nicht als Sehrerin...
Johanna von Orleans fällt mir noch ein: Ihre Visionen wurden glaubt, und solange dies ins politische Kalkül passte auch genutzt... und sie endete als Ketzerin.
Auch bestimmte psychische Krankheiten, die hierzulande heute als Krankheit behandelt werden, galten in anderen Kulturen als Erkennungszeichen von Heiligen, z.B. Menschen mit Wahnvorstellungen wurden als "Seher" verehrt... (Irgandwo habe ich dazu einen Artikel gelesen ... kann den aber im Moment nicht finden.)
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 13.01.2011 um 10:03 Uhr (Zitieren)
Im übrigen sind sowohl Wahnvorstellung als auch Träume und Nahtoderfahrungen vom jeweiligen kulturellen Kontext geprägt. (Solche Bilder wie von Hieronymus Bosch würde heute keiner mehr träumen.)
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
ανδρέας schrieb am 13.01.2011 um 19:51 Uhr (Zitieren)
Was mich wirklich erstaunt ist schlicht die Frage, wieso nüchtern betrachtet abwegige Wahrnehmungen, die Einzelpersonen gemacht haben wollen, überhaupt glühende Anhänger finden.
Liegt das daran, das ein Psychotiker zufällig durch seine Visionen tieftste Wünsche erfüllt und anregt? Ich denke da an allerlei Sekten, Esoteriker (ἐσωτερικός: … innerlich), Anhänger der Lehre Ron Hubbards (Scientologgy) , Fernheiler und sämtliche Spielarten des modernen Okkultismus.
Man kann der Familie Romanow sicher nicht mangelnde Bildung vorgeworfen haben, als sie Rasputin vertraute. Allerdings waren die armen Leute wegen der Krankheit des Zarewitsch ja auch stark verunsichert.
Sind 300 Jahre Aufklärung und Bildung spurlos an einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen selbst in Industrienationen spurlos vorübergegangen?
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 13.01.2011 um 20:39 Uhr (Zitieren)
Was sind das denn für Leute, die Anhänger finden und um sich scharen - mal ganz unabhängig davon ob sie irgendwelche Visionen haben? Das sind doch Leute mit Charisma, die dann noch den jeweilgen "Nerv" der Zeit treffen. Jede erfolgreiche Parteigründung funktioniert so. Fälle wie die von "The Peoples Temple", der im November 1978 im kollektiven Massenmord endete, sind die extremen Auswüchse jenes Phänomens. (Das Buch von Cialdini "Die Psychologie des Überzeugens" habe ich hier schon mal erwähnt; darin werden auch die Mechanismen von Sekten und anderen kollektiven Irrtümern beleuchtet.)
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
ανδρέας schrieb am 14.01.2011 um 19:06 Uhr (Zitieren)
Ein Auszug aus dem sehr interessanten Artikel, den Πέγασος (vgl. Sind wir tot?)gelinkt hat:
Ein Mensch des Mittelalters wird solche Phänomene möglicherweise als göttliche Vision interpretiert haben. Wer soll ihm diese Bilder geschickt haben, wenn nicht Gott?
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 14.01.2011 um 19:20 Uhr (Zitieren)
Ein sogenannter Paradigmenwechsel, nicht mehr. Eine neue Art, alte Phänomene zu erklären.
Die irrige Annahme: das neue Paradigma sei besser als das alte; dabei ist es einfach ein anderes.
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 14.01.2011 um 20:14 Uhr (Zitieren)
Hier ist der Bericht eines solchen Erlebnisses; er soll auf Heinrich Seuse selbst zurückgehen, obgleich eine ihm befreundete Nonne ihn in die dritte Person übertragen hat:
[Quelle: DER DOM. Bücher deutscher Mystik. Nachdruck Frankfurt/Main 1980. Deutsche Schriften von Heinrich Seuse. Ausgewählt und übertragen von Anton Gabele, S. 11 f.]
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 14.01.2011 um 21:28 Uhr (Zitieren)
Die Sprache der Mystiker mutet heute ... befremdlich an. Dennoch liest sich das viel schöner als das, was Hirnforscher über die menschlichen Deutungsversuche bei außergewöhnlichen Erregungszuständen von sich geben. Es gab da ja diverse Experimente...
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
ανδρέας schrieb am 14.01.2011 um 22:18 Uhr (Zitieren)
Aber ein wichtiger! Kommen die Erlebnisse von außen - von Gott - oder von innen, also einer desperaten Phantasie eines kranken Verstandes?
Wie ich bereits andeutete: wie unterscheidet man den Irrglauben, die Illusion, die Psychose von einer göttlichen und rätselhaften Vision?
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 15.01.2011 um 13:01 Uhr (Zitieren)
Eine, wie ich meine, interessante Provokation:
[Quelle: Paul K. Feyerabend. Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt/Main 2. Aufl. 1977, S. 392; 53; 35]
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 15.01.2011 um 15:01 Uhr (Zitieren)
Eine kleine Begebenheit dazu, die mir gestern meine Tochter aus der Schule erzählte:
Eine Klassenkameradin hielt in Geographie ihre GFS über die Entstehung der Erde, wobei diese die gängige Lehrmeinung referierte. Im Anschluss fragte eine (bibeltreue) Mitschülerin, ob sie denn daran glaube, was sie eben erzählt habe...
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Πέγασος schrieb am 15.01.2011 um 15:02 Uhr (Zitieren)
... schließlich sei es eine Tatsache, dass Gott die Welt geschaffen habe, es stehe ja in der Bibel...
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 15.01.2011 um 15:13 Uhr (Zitieren)
Man kann es wohl auch nicht widerlegen, daß Gott die Welt vor 5000 Jahren - mitsamt allen älter wirkenden Fossilien - geschaffen hat.
In einer Unterrichtsdiskussion habe ich einmal versucht, das sog. Sparsamkeitsprinzip ("Ockhams Rasiermesser") zu vertreten, d.h. daß man sich bei zwei konkurrierenden Modellen für dasjenige entscheiden sollte (nicht muß), das mit weniger theoretischen Annahmen auskommt. Und Gott, so meinte ich, sei eine zusätzliche Annahme.
Mit diesem Stadnpunkt habe ich mich in keiner Weise durchsetzen können.
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 15.01.2011 um 15:17 Uhr (Zitieren)
Klar ist wohl spätestens seit Kurt Gödels Unvollständigkeitstheorem, daß auch jede Wissenschaft von unbewiesenen Grundannahmen ausgehen muß.
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
ανδρέας schrieb am 15.01.2011 um 15:55 Uhr (Zitieren)
M.E. ist die Frage folgende:
Mangelt es an Ursache oder am Wissen?
Nur, weil man Ursachen nicht entdeckt hat, heißt dies nicht, dass es sie nicht gibt. Man hat sie eben (noch) nicht gefunden (manches mag der Mensch nie erklären können). Solange müssen dann Mysterien ausreichen, religiöse Annahmen oder Wunder etc.. Das ist der Markt für Wahrsager & Co. . Solange man keinen zureichenden Grund für die Annahme hat, dass wir alle mitsamt unserem Universum nur der Partikel eines expandierenden Silvesterböllers sind, darf man das dann nicht verwerfen. Das wäre aber wirklich eine Verschwendung ...
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 15.01.2011 um 16:06 Uhr (Zitieren)
" ... dass wir alle mitsamt unserem Universum nur der Partikel eines expandierenden Silvesterböllers sind," das paßt in keine mir bekannte Lebensform. Religion ist aber eine Lebensform, und daher bekommen bestimmte Aussagen innerhalb ihrer einen Sinn und eine Funktion. Das heißt natürlich nicht, daß es meine Lebensform wäre.
Die ursprüngliche Frage, wie man magische Praktiken von Scharlatanerie & Beutelschneiderei (was es natürlich gibt) unterscheiden kann, ist damit freilich nicht beantwortet - sie ist nur schwieriger geworden. Der schlichte Hinweis 'physikalisch nicht möglich' überstrapaziert m.E. den Begriff des physikalisch Möglichen als des einzig Möglichen - wofür es keinen Beweis gibt.
Kann man Scharlatanerie unterscheiden durch ein subjektives Kriterium, daß nämlich der, der sie praktiziert, sog. Bullshit spricht, d.h. Dinge sagt, deren Wahrheitsgehalt ihm selbst völlig gleichgültig ist, weil es ihm auf etwas ganz anderes ankommt?
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
ανδρέας schrieb am 15.01.2011 um 16:26 Uhr (Zitieren)
Ja, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt ist ein gutes Kriterium.
Nicht alle "Schamanen" sind Scharlatane - zumindest nicht, wenn sie den eigenen Blödsinn wirklich glauben.
Re: Mystiker, Wahrsager & Co.
Γραικίσκος schrieb am 15.01.2011 um 16:39 Uhr (Zitieren)