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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
L. N. Tolstoi über Fortschritt (489 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 07.06.2011 um 11:09 Uhr (Zitieren)
Lew Nikolajewitsch Tolstoij
(1828-1910)

FLUCHT UND TOD

[...] Die mittelalterliche Theologie oder die römische Sittenverderbtheit vergifteten nur ihre eigenen Leute, also einen kleinen Teil der Menschheit; heute verderben Elektrizität, Eisenbahnen und Telegraphen die ganze Welt. Alle eigenen sich diese Dinge an, können nicht umhin, sie sich anzueignen, und alle leiden in gleicher Weise, sind in gleicher Weise gezwungen, ihre Lebensweise zu ändern. Alle werden in die Notwendigkeit versetzt, an dem für ihr Leben Wichtigsten Verrat zu üben: an dem Begreifen des Lebens selbst, an der Religion. - Maschinen, um was zu verfertigen? Telegraphen, um was zu befördern? Schulen, Universitäten, Akademien, um was zu lehren? Versammlungen, um was zu erörtern? Bücher, Zeitungen, um was für Nachrichten zu verbreiten? Eisenbahnen, um zu wem und wohin zu reisen? Zusammengetriebene und einer höchsten Macht unterworfene Millionen von Menschen, um was zu vollbringen? Spitäler, Ärzte, Apotheken, um das Leben zu verlängern - wofür? [...] Wie leicht eignen sich einzelne sowohl wie ganze Völker das an, was sich Zivilisation nennt! Die Universität absolvieren, die Nägel reinhalten, die Dienste des Schneiders und Friseurs brauchen, das Ausland bereisen - und der höchst zivilisierte Mensch ist fertig. Und hinsichtlich der Völker: möglichst viele Eisenbahnen, Akademien, Fabriken, Dreadnoughts, Festungen, Zeitungen, Bücher, Parteien, Parlamente - und das höchst zivilisierte Volk ist fertig. Deshalb sind genug Einzelne sowohl wie Völker für die Zivilisation, nicht aber für die wahre Aufklärung zu gewinnen; die erste ist leicht, bedarf keiner Anstrengung und findet Beifall; die zweite jedoch erfordert Anspannung der Kräfte und findet daher bei der großen Mehrheit nicht nur keinen Beifall, sondern immer nur Verachtung und Haß, denn sie deckt die Lüge der Zivilisation auf. [...]

(zitiert nach: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1967, S. 94)

Das ist ca. 1900 geschrieben; aber auch wenn Dreadnoughts heute kein Thema mehr sind, erscheint es mir sehr aktuell.
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
ανδρέας schrieb am 07.06.2011 um 18:58 Uhr (Zitieren)

Entweder man geht mit der Zeit oder man geht mit der Zeit ... nichts bleibt , wie es ist. Technischer Fortschritt dürfte unausbleiblich und notwendig sein. Aber, ob der Mensch fortschreitet ist ja eine ganz andere Frage.
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
Γραικίσκος schrieb am 07.06.2011 um 19:12 Uhr (Zitieren)
Am technischen Fortschritt werden wir nichts ändern, und Tolstoi auch nicht.
Aber mit dem Recht, ein Querkopf zu sein, behauptet Tolstoi, daß dieser technische Fortschritt unsere Entwicklung als Menschen eher behindert, indem jener uns von dieser ablenkt.

Manchmal irren wir uns freilich auch mit unseren Prognosen: "Den Sozialismus in seinem Lauf / halten weder Ochs noch Esel auf." (E. H.)
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
ανδρέας schrieb am 07.06.2011 um 21:13 Uhr (Zitieren)

Unzufriedenheit regt Fortschritt an. Heute sind wir vielleicht genau so unzufrieden wie unsere Vorfahren - nur auf höherem Niveau.
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
Γραικίσκος schrieb am 07.06.2011 um 21:20 Uhr (Zitieren)
Fällt Dir das nicht auch auf, daß wir ständig mit neuen technischen Kommunikationsmitteln beglückt werden, anscheinend aber niemand in Frage stellt, was wir dadurch eigentlich mitteilen?

In der S-Bahn:
"Hi! Ich bin's. Ich bin jetzt am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Ja, wir haben fünf Minuten Verspätung. Bis gleich. Hau rein, Alter!"
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
Πέγασος schrieb am 07.06.2011 um 21:22 Uhr (Zitieren)
Die Frage ist doch, ob ich mich zum Sklaven des Fortschritts machen lasse (z.B. ziellos durch das Internet surfe und auf auf jedes "klick mich" anspringe), oder ob ich die Werkzeuge des Fortschritts bewusst zu nutzen verstehe (z.B. im Internet relevante Informationen beschaffen).
Und ein bisschen kritische Reflektion über den Fortschritt schadet auch nicht; wobei ich mir nicht sicher bin, was Tolstoi mit "Anspannung der Kräfte" gemeint hat.
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
ανδρέας schrieb am 07.06.2011 um 21:28 Uhr (Zitieren)

Die o.a. Botschaft lautet doch eigentlich nur: du bist mir wichtig, ich freue mich, dich wieder zu treffen. Das ist nichts Neues.

Vielleicht haben die Leute ja auch Angst, sich aus den Augen zu verlieren, weil die Welt schnelllebiger und mobiler geworden ist. Mittels moderner Kommunikation versichert man sich, dass der andere noch da ist. Man will Kontrolle über sein Beziehungsgeflecht. Meldet sich der andere nicht, obwohl es so einfach ist, muss ja irgendwas nicht stimmen. Bin ich "out". Mir scheint das ein sich selbst beschleunigender Prozess zu sein. Weil ish den anderen jeder Zeit erreichen kann, muss ich es auch tun, um zu beweisen, dass der andere mir wichtig ist ...
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
Γραικίσκος schrieb am 07.06.2011 um 21:29 Uhr (Zitieren)
Vermutlich meint Tolstoi die Anspannung der Kräfte, sich der diversen "Klick mich" zu enthalten, auch wenn sie reizvoll gestaltet sind, und stattdessen darüber nachzudenken, was ich eigentlich will und ob es dasselbe ist wie das, was ich brauche, ob es mir und anderen guttut usw.
Konsum ist einfach sofern man das Geld dafür hat), stattdessen über Konsum nachzudenken, enthält ja eine gewisse Askese.
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
Γραικίσκος schrieb am 07.06.2011 um 21:34 Uhr (Zitieren)
Ich finde, lieber Andreas, daß Deine beiden obigen Aussagen einander widersprechen, denn die Botschaft lautet eben nicht nur: du bist mir wichtig etc.; den ganzen problematischen Subtext schilderst Du dann im zweiten Abschnitt. Und da stimme ich Dir völlig zu!
Re: L. N. Tolstoi über Fortschritt
ανδρέας schrieb am 07.06.2011 um 21:41 Uhr (Zitieren)
Ja, die Formulierung hätte besser verknüpft sein müssen: VORDERGRÜNDIG ist die Aussage banal und nichts Neues. Aber in der Situation jederzeit verfügbarer Kommunikationsmittel kann man annehmen, dass die modernen Mittel der Kommunikation einen Zwang ausüben, sie auch zu gebrauchen. Nicht-melden gilt dann als Vernachlässigung ("kein Schwein ruft mich an" - was mag passiert sein ?)
 
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