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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Herodots schönste Entdeckung (264 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 05.09.2011 um 16:06 Uhr (Zitieren)
[...] Gleichzeitig setzt sich Herodot das ehrgeizigste aller Ziele: die Geschichte der Welt aufzuzeichnen. Das hat keiner vor ihm versucht. Er ist als erster auf diese Idee gekommen. Während er ständig Material für sein Werk zusammenträgt und Zeugen, Barden und Priester befragt, wird er mit dem Problem konfrontiert, daß jeder von ihnen etwas anderer erinnert, etwas anderes und auf andere Weise. Dazu entdeckt er viele Jahrhunderte vor uns ein wichtiges, doch perfides und trügerisches Merkmal des Gedächtnisses – die Menschen erinnern sich an das, woran sie sich erinnern wollen, und nicht an das, was tatsächlich geschehen ist. Denn jeder färbt die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken, jeder bereitet daraus in seinem Tiegel eine eigene Mixtur. Daher ist es unmöglich, zur Vergangenheit als solcher, wie sie wirklich war, vorzudringen; uns sind nur verschiedene Varianten zugänglich, mehr oder weniger glaubwürdige, die uns heute mehr oder weniger ansprechen. Die Vergangenheit als solche existiert nicht. Es gibt nur zahllose Versionen davon.
[...]
Herodot ist in ein unauflösbares Dilemma verstrickt: Auf der einen Seite widmet er sein ganzes Leben dem Bemühen, die historische Wahrheit zu ergründen, damit die von Menschen vollbrachten Taten nicht mit der Zeit in Vergessenheit geraten, auf der anderen Seite stellt in seinen Nachforschungen nicht die tatsächliche Geschichte die wichtigste Quelle dar, sondern die Geschichte, wie sie von anderen erzählt wird, wie sie ihnen erschien, eine selektiv erinnerte und später mit Absicht so dargestellte Geschichte. Kurz, dies ist keine objektive Geschichte, sondern eine, wie unsere Gesprächspartner sie haben wollen. Dieser subjektive Faktor und seine deformierende Wirkung sind nicht zu vermeiden. Unser Grieche ist sich dessen bewußt, und daher macht er immer wieder Einschränkungen: „Wie sie mir sagen“, „Wie sie behaupten“, „das stellen sie unterschiedlich dar“ und so weiter. Aus diesem Grund haben wir es nie mit der wirklichen Geschichte im idealen Sinn zu tun, sondern stets mit einer, die erzählt, die dargestellt wird, die so war, wie jemand sagt oder wie jemand glaubt, daß sie gewesen ist. Diese Wahrheit ist vielleicht die schönste Entdeckung Herodots.

[Quelle: Ryszard Kapuściński, Meine Reisen mit Herodot. Frankfurt/Main 2005, S. 339 f.; 352 f.]
Re: Herodots schönste Entdeckung
ανδρέας schrieb am 05.09.2011 um 18:08 Uhr (Zitieren)

Die Geschichte wird also immer wieder neu "entdeckt". Die Erkenntnis ist wichtig und sicher jedem bekannt, wenn er sich die Geschichten der Altvorderen anhören darf (oder muss). Mit jeder Geschichte bzw. Schilderung der Vergangenheit werden neue Helden geboren, Opfer entdeckt und Sensationen produziert. Manchmal kommt zuerst die Interpretation, dann sucht man die passenden Fakten, die die eigene Sicht belegen.
Der Mauerbau wird ja von Anhängern einer gewissen Partei anders aufgefasst, als die Mehrheit es tut. Dabei sind die Fakten recht einfach historisch zu belegen. Geschichte war und ist eben immer auch Politik.

 
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