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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Eine Wintergeschichte (486 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 24.12.2011 um 07:42 Uhr (Zitieren)
Warlam Schalamow
(1907-1982)

DAS KRUMMHOLZ
Erzählungen aus Kolyma

Im Hohen Norden, an der Grenze zwischen Tajga und Tundra, unter Zwergbirken und krüppeligen Vogelbeerbüschen mit überraschend großen hellgelben wäßrigen Beeren, unter sechshundertjährigen Lärchen, die mit dreihundert Jahren ihre Reife erreichen, lebt ein besonderer Baum - das Krummholz. Es ist ein entfernter Verwandter der Zeder, eine Zirbel - immergrüne Nadelbüsche mit mehr als menschenarmdickem Stamm und einer Höhe von zwei, drei Metern. Es ist anspruchslos und krallt sich im Wachsen mit den Wurzeln in den Gesteinsspalten des Berghangs fest. Es ist tapfer und eigensinnig, wie alle Bäume des Nordens. Seine Empfindlichkeit ist ungewöhnlich.
Später Herbst, längst ist Zeit für Schnee, für den Winter. Am Rand des weißen Himmelsgewölbes ziehen viele Tage lang tiefe, bläuliche, wie blutunterlaufene Regenwolken hin. Heute früh aber wurde der herbstliche durchdringende Wind bedrohlich still. Liegt Schnee in der Luft? Nein. Es wird nicht schneien. Das Krummholz hat sich noch nicht gelegt. Und Tage um Tage vergehen, kein Schnee, die Wolken wandern irgendwo hinter den Bergkuppen, am hohen Himmel steht eine blasse kleine Sonne, alles ist wie im Herbst ...
Und das Krummholz beugt sich. Beugt sich immer tiefer, wie unter einer unermeßlichen, immer größer werdenden Last. Es kratzt mit seinem Wipfel am Fels, streckt die smaragdgrünen Äste aus und schmiegt sich an den Boden. Es breitet sich aus. Es gleicht einem grüngefiederten Kraken. Liegend wartet es einen Tag, einen zweiten, und schon rieselt vom weißen Himmel pulvriger Schnee, und das Krummholz sinkt in den Winterschlaf wie ein Bär. Auf dem weißen Berg buckeln sich riesige Schneebeulen - die Krummholzbüsche haben sich zum Überwintern gelegt.
Gegen Ende des Winters, wenn der Schnee die Erde noch drei Meter dick bedeckt, wenn die Schneestürme in den Bergschluchten einen kompakten Schnee zusammengepreßt haben, dem man nur mit dem Eisen beikommt, suchen die Menschen in der Natur vergeblich nach Zeichen des Frühlings, denn dem Kalender nach sollte der Frühling längst kommen. Doch der Tag ist von einem Wintertag nicht zu unterscheiden, die Luft ist dünn und trocken und unterscheidet sich in nichts von der Januarluft. Zum Glück sind die Empfindungen des Menschen zu grob, seine Wahrnehmungen zu simpel, und er hat auch wenige Sinne, bloß fünf - nicht genug für Prophezeiung und Intuition.
Die Natur hat feinere Empfindungen als der Mensch. Dies und das wissen wir darüber. Erinnern Sie sich an die Lachsfische, die ihren Laich nur im selben Fluß ablegen, wo das Laichkörnchen abgelegt wurde, aus dem dieser Fisch sich entwickelt hat? Erinnern Sie sich an die geheimnisvollen Routen der Vogelflüge? An Pflanzen- und Blumenbarometern sind uns etliche bekannt.
Und da erhebt sich auf einmal aus dem unendlichen Weiß des Schnees, aus völliger Hoffnungslosigkeit das Krummholz. Es schüttelt den Schnee ab, richtet sich zu voller Größe auf, hebt seine eisbedeckten, grün-rötlichen Zweige zum Himmel. Es hört den für uns kaum wahrnehmbaren Ruf des Frühlings, und im Glauben an ihn erhebt es sich, als erstes im Norden. Der Winter ist vorbei.
Doch auch so kann es sein: ein Lagerfeuer. Das Krummholz ist zu leichtgläubig. Es mag den Winter so wenig, daß es geneigt ist, der Wärme des Feuers zu glauben. Wenn man im Winter neben dem gebeugten, winterlich gekrümmten Krummholzbusch ein Lagerfeuer macht, steht das Krummholz auf. Erlischt das Feuer, dann beugt sich die enttäuschte Zirbel wieder, weinend vor Kränkung, und legt sich auf den alten Platz. Und der Schnee deckt sie zu.
Nein, es ist nicht nur ein Wetterprophet. Das Krummholz ist der Baum der Hoffnungen, der einzige immergrüne Baum des Hohen Nordens. Mitten im weißen Schneegeglitzer sprechen seine mattgrünen Nadeltatzen vom Süden, von der Wärme, vom Leben. Im Sommer ist es bescheiden und unscheinbar - ringsum blüht alles eilig, bemüht, den kurzen nördlichen Sommer über in Blüte zu stehen. Frühlings-, Sommer- und Herbstblüten wetteifern miteinander in hemmungslosem ungestümen Blühen. Doch der Herbst naht, und schon rieseln die gelben feinen Nadeln und entblößen die Lärchen, das strohgelbe Gras rollt sich ein und verdorrt, der Wald verödet, und dann sieht man von weitem, wie im blaßgelben Gras und grauen Moos inmitten des Waldes die riesigen grünen Fackeln des Krummholzes brennen.
Für mich war das Krummholz immer der poetischste russische Baum, schöner als die vielgerühmten Trauerweiden, Platanen und Zypressen. Und sein Holz gibt mehr Hitze.

[Quelle: Warlam Schalamow, Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I. Berlin 2007, S. 222-224]

Soeben ist der letzte, der 4. Band seiner "Erzählungen aus Kolyma" auf Deutsch erschienen.
 
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