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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Die Aussetzung von Kindern im antiken Griechenland (3204 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 03.03.2012 um 12:02 Uhr (Zitieren)
Giuseppe Cambiano

MENSCH WERDEN
(1991)

[...] Erste Voraussetzung dafür [fürs Erwachsenwerden] war natürlich, daß man überlebte, dem Tod entrann, der im alten Griechenland nicht selten aufgrund von Frühgeburten oder unsachgemäß durchgeführten Entbindungen eintrat. Sodann mußte man von Krankheiten verschont bleiben, welche unter anderem auf mangelhafte Ernährung und unhygienische Lebensbedingungen zurückzuführen waren. Hinzu kam, daß ein großer Teil der medizinischen Behandlungsmethoden jener Zeit wenig wirkungsvoll war. Welch großen Unterschied man zwischen einem Kind und einem Erwachsenen erblickte, zeigt sich zum Beispiel daran, daß in Eretria zwischen Ende des 8. und Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. Menschen, die vor ihrem sechzehnten Lebensjahr starben, begraben wurden, während man die Erwachsenen einäscherte und auf diese Weise zum Ausdruck brachte, daß sie den Schritt von der Natur zur Kultur vollzogen hatten.
Doch war die Natur nicht der einzige Faktor, der bestimmte, ob ein Neugeborenes überlebte oder nicht. Nur wer in guter körperlicher Verfassung geboren wurde, entging der Tötung, denn mißgebildete Kinder wurden von den Eltern wie von der gesamten Gemeinschaft als eine Art göttliche Strafe und schlechtes Omen gedeutet. In Sparta lag die Entscheidung darüber, ob ein Neugeborenes überleben durfte oder nicht, bei den ältesten Mitgliedern der Phyle des Vaters. Ein Neugeborenes, das mißgebildet oder schwächlich war, konnte im Taygetos ausgesetzt werden. In Athen und anderen Städten pflegte man das Neugeborene in einem Gefäß aus Ton oder einem anderen Behälter weit weg von zu Hause auszusetzen; oft ließ man es in einer einsamen, unerschlossenen Gegend außerhalb der Stadt, wo es Hungers starb oder von Raubtieren zerfleischt wurde, wenn niemand es auflas. Ausgesetzt wurden jedoch nicht nur mißgebildete Babys, sondern mitunter auch Neugeborene, die sich in guter körperlicher Verfassung befanden. In den griechischen Tragödien und in den Komödien des Menandros ist nicht selten von ausgesetzten und später wiedergefundenen Kindern die Rede. Auch Ödipus hatte dieses Schicksal erlitten. Aristoteles sollte zwar später zur Geburtenbeschränkung die Abtreibung der Aussetzung vorziehen, doch betonte er die Notwendigkeit eines Gesetzes, das es verbot, mißgebildete Kinder aufzuziehen. In Athen oblag dem Vater die Entscheidung über die Aussetzung des Kindes, während in der kretischen Stadt Gortyn vorgesehen war, daß eine freie Bürgerin, die nach einer Scheidung ein Kind gebar, dieses im Beisein von Zeugen zum Hause ihres ehemaligen Mannes bringen mußte; wenn dieser sich weigerte, es anzunehmen, hatte sie das Recht, darüber zu entscheiden, ob sie es aussetzen oder aufziehen wollte. In Athen hatte der Vater ursprünglich das Recht, seine Kinder zur Tilgung seiner Schulden zu verkaufen. Dies wurde später von Solon verboten; statt dessen wurde die Aussetzung zu einem vor allem von den Armen gebrauchten Mittel, sich der Kinder zu entledigen. In dem Stück Perikeiromene des Menandros erzählt ein Vater, er habe seinen Sohn und seine Tochter ausgesetzt, als seine Frau im Kindbett starb und er durch den Untergang eines Frachtschiffes in der Ägäis von einem Tag auf den anderen verarmte.
Obwohl hierüber keine genauen Angaben vorliegen, scheint es denkbar, daß es sich bei den Ausgesetzten überwiegend um unehelich geborene Kinder handelte und weniger um unerwünschte eheliche oder um Bastarde, die aus einer Verbindung zwischen Eheleuten unterschiedlicher Nationalität hervorgegangen oder außerhalb einer gesetzlichen Ehe geboren worden waren; besonders betroffen waren Kinder von Sklavinnen. Auch bei den Armen kam es so gut wie nie vor, daß der erste, ehelich geborene Sohn ausgesetzt wurde, während die Aussetzung bei neugeborenen Mädchen häufiger vorgenommen wurde. Schließlich mußten die Mädchen in Athen, wenn sie einen Mann finden wollten, eine Mitgift vorweisen. Anders war es bei Homer oder in den adligen Familien der archaischen Zeit : Hier war es der zukünftige Ehemann, der dem Vater der Braut Geschenke überreichte. Die Aussetzung war auch ein Mittel, um zu verhindern, daß die Zahl der unverheirateten Frauen, für deren Unterhalt der Vater aufzukommen hatte, zu groß wurde. Besonders im Zeitalter des Hellenismus, als die Geburtenrate stark zurückging (worauf Polybios den Niedergang Griechenlands zurückführte) und die Familien in der Regel nur noch ein Kind hatten, wurden kleine Mädchen sehr häufig ausgesetzt. Um 270 v. Chr. stellte der Dichter Poseidippos fest: „Ein Junge wird von jedem, auch dem Armen, großgezogen; ein Mädchen wird von jedem, auch dem Reichen, ausgesetzt.“
Das ausgesetzte Kind konnte von anderen aufgenommen werden, die darüber entscheiden konnten, ob sie es als einen freien Menschen oder als Sklaven behandeln wollten. Ersteres bedeutete allerdings nicht, daß man es als sein eigenes Kind adoptierte. [...]

[Quelle: Jean-Pierre Vernant (Hrsg.), Der Mensch der griechischen Antike. Frankfurt/Main 1996, S. 98-100]
 
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