Zu dem oben erwähnten Artikel - der Autor zieht aus der Diagnose der Dominanz diaphasischer Varianz nun folgende Konsequenzen für den Unterricht:
"Philologen beschweren sich, die Jugendlichen seien sprachlich unkultiviert. Angesichts dessen sehen sie ihre Aufgabe darin, das "Deutsch" der Schüler zu verbessern, damit diese - ohne Rücksicht auf die kommunikative Situation - eine möglichst gepflegte Standardsprache verwenden. Es geht jedoch um etwas anderes: Bei den Gymnasiasten soll erstens das Bewusstsein für die vier Varianzen - insbesondere für die diaphasische - geweckt und zweitens soll ihnen die Fähigkeit vermittelt werden, sich den jeweiligen situativen Anforderungen entsprechend auszudrücken. Es geht also nicht darum, den Jugendlichen die von ihnen bereits beherrschten nähesprachlichen Register auszutreiben und sie durch ein einheitliches distanzsprachliches zu ersetzen..... "
Anschließend will er das mit der Hauptaufgabe des Lateinunterrichts ("Wie kommt das Thema im Unterricht vor? Im Lateinunterricht ist das Übersetzen der Ort, und zwar schon bei den Lehrbuchtexten. Das Ziel besteht ja darin, dass die Schüler textgerecht übersetzen.") verknüpfen und bringt ein Beispiel, das seine Vorstellung der aus diesen Einsichten geborenen Therapie wohl wiedergibt:
"Irgendwann ist es dann Zeit, in der nötigen Knappheit auch den sprachtheoretischen Hintergrund zu liefern. Hier ist die Absprache mit der Deutschlehrkraft der sinnvollste Weg. Davon werden auch die modernen Fremdsprachen
profitieren.9 Später, im Lektüreunterricht, kann das Thema zentral werden. Und wenn dann in einer schriftlichen Arbeit zu Petron ein Schüler den Satz eines Freigelassenen abiit ad multos durch "er guckt die Radieschen von unten an" übersetzt (selbstverständlich mit grammatischer Kommentierung, so wie er es gelernt hat), dann hat sicher dieser Schüler das Unterrichtsziel erreicht. "
Nun, für dieses Beispiel gilt in meinen Augen: knapp daneben ist auch vorbei. Nicht nur heißt es korrekt "tamen abiit ad plures" bei Petronius, sondern m.E. verkennt der Autor, der gerade dabei ist die Bedeutung der situationsbezogenen
Differenzierungen sprachlicher Ausdrucksweisen in den Blickpunkt zu rücken, die Funktion der Phrase im Text. Das von ihm zur Erreichung des Klassenziels vorgeschlagene dt. "er guckt die Radieschen von unten an" ist ein in sich korrekter
salopper, umgangssprachlicher Ausdruck, "ad plures (ab)ire" jedoch weder salopp, noch volkstümlich, noch bloß
euphemistische Redensart sondern vielmehr das, was im Englischen "genteelism" definiert als "word or turn of phrase that a speaker thinks is more refined than the usual word or phrase" heißt. Genau dies geschieht in der Vorlage: Seleucus, dessen Zunge der Alkohol gelöst hat, bedient sich zwischen seinen Interjektionen, Kraftausdrücken und vor Wiederholungen strotzenden kurzen Sätzen einer gewollt gehoben wirken wollenden Ausdrucksweise, aus der zusätzlich Komik erwächst.
Klischee sabotiert Klischee. Ungeachtet der Tatsache, dass "ad plures abire", das sich in der Prosa sonst so gut wie nicht findet, später eine Karriere gemacht hat, im Verlaufe derer es zu einem Ausdruck aufgestiegen ist, der den Vollbesitz humanistischer Bildung suggeriert (cf. der Header zum Ableben Friedrich Kittlers in diesem Forum), ist es wohl bei Petronius nicht nur ein gehobener Ausdruck sondern regelrecht eine vermutl. nach griechischem Vorbild erzeugte Missbildung, die das Gesuchte per se verfehlt nicht nur situativ unangemessen wirkt. Der einzige dem nahe kommende Ausdruck "ad plures penetrare" findet sich denn auch bei Plautus als wehleidiger Ausruf in einer altväterlich-pathetischen Standpauke eines Vaters, die dem drohenden sittlichen Verderben des Sohnes gilt und als Parodie des Lobs auf mos maiorum gelesen worden ist. In derselben Passage der cena Trimalchionis taucht wenige Zeilen zuvor ein ganz ähnlicher Ausdruck in derselben Funktion auf: "Chrysanthus animam ebulliit" Auch das ein missglückter genteelism, bei dem klar zu sehen ist, dass das klassische "animam edere" anvisiert und in komischer Weise verpasst wird, wobei sich das Vokabular aus der Thematisierung des Bades davor speist. Kurzum, einem
raffinierten literarischen Text, der seine sprachliche Komik aus genauer sozialer Beobachtung gewinnt, sollte man
mit ebenso raffinierten Mitteln begegnen, ehe man andere über die (Binnen)differenzen diaphasischer Varianz
und dgl. belehren will, wobei vermutlich die Analyse von guten Fernsehserien schneller mehr abwirft als zwanghaft saloppe
Übersetzung im Lateinunterricht.