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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Falsches Latein? (866 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 09.03.2012 um 15:40 Uhr (Zitieren)
1.
sollemnitusque deo litat laudem et lubens.

2.
Mulier, quisquis es, te volumus.

3.
Pater noster, Saturni filie

4.
Mea puer, quid verbi ex tuo ore supra
fugit?

5.
partim errant, nequinot Graeciam redire

6.
sancta puer Saturni ... regina

7.
Topper facit homones ut prius fuerunt

Allesamt: Verse von Livius Andronicus aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert.

Ein Kollege (Latein- und Griechischlehrer) sagte mir, im Studium müsse jede deutsch-lateinische Übersetzung an Cicero, alllenfalls noch Caesar orientiert sein. Lasse sich ein Wort oder eine Konstruktion nicht bei Cicero (Caesar) nachweisen, werde ein Fehler angestrichen.
Das ist ja so, als ließen wir im Deutschen nichts gelten, was sich nicht bei Goethe oder allenfalls noch Schiller findet. Welch ein sprachlicher Purismus!
Re: Falsches Latein?
Φιλομαθής schrieb am 09.03.2012 um 16:07 Uhr (Zitieren)
Ja, aber dieser Purismus und diese Erstarrung sind ein genuiner Wesenszug der lateinischen Schriftsprache, sie sind nicht (nur) nachträgliches Konstrukt von Grammatikern. Rom ist politisch gesehen Zentralismus in seiner reinsten Form. Letztlich ist Rom immer ein Stadtstaat geblieben (nur mit einem stark ausgedehnten Umland). Und in dieser Stadt war es eine kleine Clique von Familien, die das politische Geschehen bestimmte (Syme hat das sehr anschaulich dargestellt). Die Sprache einer kleinen gesellschaftlichen Schicht einer einzigen Stadt wurde verbindlich für alles, was Schriftsteller und Dichter schrieben, die hier zu Anerkennung und Ruhm gelangen wollten. Und diese Schriften wurden verbindlich für alles, was in der Folge geschrieben wurde.
Dieser Aufsatz http://www.philologia.ch/Bulletin/Bulletin22008.php#sprache vermerkt für das Lateinische darum nur noch eine diaphasische Varianz.
Re: Falsches Latein?
Γραικίσκος schrieb am 09.03.2012 um 19:16 Uhr (Zitieren)
Ja, aber dieser Purismus und diese Erstarrung sind ein genuiner Wesenszug der lateinischen Schriftsprache, sie sind nicht (nur) nachträgliches Konstrukt von Grammatikern.

Nein, auch spätere Autoren höchsten sprachlichen Niveaus (Tacitus z.B.) werden anscheinend im heutigen Studium nicht akzeptiert.
Re: Falsches Latein?
διψαλέος schrieb am 09.03.2012 um 21:38 Uhr (Zitieren)
Livius Andronicus war kein muttersprachlicher Lateiner...
B-)
Re: Falsches Latein?
filix schrieb am 09.03.2012 um 22:20 Uhr (Zitieren)
Zu dem oben erwähnten Artikel - der Autor zieht aus der Diagnose der Dominanz diaphasischer Varianz nun folgende Konsequenzen für den Unterricht:
"Philologen beschweren sich, die Jugendlichen seien sprachlich unkultiviert. Angesichts dessen sehen sie ihre Aufgabe darin, das "Deutsch" der Schüler zu verbessern, damit diese - ohne Rücksicht auf die kommunikative Situation - eine möglichst gepflegte Standardsprache verwenden. Es geht jedoch um etwas anderes: Bei den Gymnasiasten soll erstens das Bewusstsein für die vier Varianzen - insbesondere für die diaphasische - geweckt und zweitens soll ihnen die Fähigkeit vermittelt werden, sich den jeweiligen situativen Anforderungen entsprechend auszudrücken. Es geht also nicht darum, den Jugendlichen die von ihnen bereits beherrschten nähesprachlichen Register auszutreiben und sie durch ein einheitliches distanzsprachliches zu ersetzen..... "
Anschließend will er das mit der Hauptaufgabe des Lateinunterrichts ("Wie kommt das Thema im Unterricht vor? Im Lateinunterricht ist das Übersetzen der Ort, und zwar schon bei den Lehrbuchtexten. Das Ziel besteht ja darin, dass die Schüler textgerecht übersetzen.") verknüpfen und bringt ein Beispiel, das seine Vorstellung der aus diesen Einsichten geborenen Therapie wohl wiedergibt:
"Irgendwann ist es dann Zeit, in der nötigen Knappheit auch den sprachtheoretischen Hintergrund zu liefern. Hier ist die Absprache mit der Deutschlehrkraft der sinnvollste Weg. Davon werden auch die modernen Fremdsprachen profitieren.9 Später, im Lektüreunterricht, kann das Thema zentral werden. Und wenn dann in einer schriftlichen Arbeit zu Petron ein Schüler den Satz eines Freigelassenen abiit ad multos durch "er guckt die Radieschen von unten an" übersetzt (selbstverständlich mit grammatischer Kommentierung, so wie er es gelernt hat), dann hat sicher dieser Schüler das Unterrichtsziel erreicht. "

Nun, für dieses Beispiel gilt in meinen Augen: knapp daneben ist auch vorbei. Nicht nur heißt es korrekt "tamen abiit ad plures" bei Petronius, sondern m.E. verkennt der Autor, der gerade dabei ist die Bedeutung der situationsbezogenen
Differenzierungen sprachlicher Ausdrucksweisen in den Blickpunkt zu rücken, die Funktion der Phrase im Text. Das von ihm zur Erreichung des Klassenziels vorgeschlagene dt. "er guckt die Radieschen von unten an" ist ein in sich korrekter
salopper, umgangssprachlicher Ausdruck, "ad plures (ab)ire" jedoch weder salopp, noch volkstümlich, noch bloß
euphemistische Redensart sondern vielmehr das, was im Englischen "genteelism" definiert als "word or turn of phrase that a speaker thinks is more refined than the usual word or phrase" heißt. Genau dies geschieht in der Vorlage: Seleucus, dessen Zunge der Alkohol gelöst hat, bedient sich zwischen seinen Interjektionen, Kraftausdrücken und vor Wiederholungen strotzenden kurzen Sätzen einer gewollt gehoben wirken wollenden Ausdrucksweise, aus der zusätzlich Komik erwächst.
Klischee sabotiert Klischee. Ungeachtet der Tatsache, dass "ad plures abire", das sich in der Prosa sonst so gut wie nicht findet, später eine Karriere gemacht hat, im Verlaufe derer es zu einem Ausdruck aufgestiegen ist, der den Vollbesitz humanistischer Bildung suggeriert (cf. der Header zum Ableben Friedrich Kittlers in diesem Forum), ist es wohl bei Petronius nicht nur ein gehobener Ausdruck sondern regelrecht eine vermutl. nach griechischem Vorbild erzeugte Missbildung, die das Gesuchte per se verfehlt nicht nur situativ unangemessen wirkt. Der einzige dem nahe kommende Ausdruck "ad plures penetrare" findet sich denn auch bei Plautus als wehleidiger Ausruf in einer altväterlich-pathetischen Standpauke eines Vaters, die dem drohenden sittlichen Verderben des Sohnes gilt und als Parodie des Lobs auf mos maiorum gelesen worden ist. In derselben Passage der cena Trimalchionis taucht wenige Zeilen zuvor ein ganz ähnlicher Ausdruck in derselben Funktion auf: "Chrysanthus animam ebulliit" Auch das ein missglückter genteelism, bei dem klar zu sehen ist, dass das klassische "animam edere" anvisiert und in komischer Weise verpasst wird, wobei sich das Vokabular aus der Thematisierung des Bades davor speist. Kurzum, einem
raffinierten literarischen Text, der seine sprachliche Komik aus genauer sozialer Beobachtung gewinnt, sollte man
mit ebenso raffinierten Mitteln begegnen, ehe man andere über die (Binnen)differenzen diaphasischer Varianz
und dgl. belehren will, wobei vermutlich die Analyse von guten Fernsehserien schneller mehr abwirft als zwanghaft saloppe
Übersetzung im Lateinunterricht.
Re: Falsches Latein?
Φιλομαθής schrieb am 09.03.2012 um 22:37 Uhr (Zitieren)
Ich hänge das jetzt mal einfach an, ohne den Beitrag von filix gelesen zu haben.

Du hast natürlich vollkommen recht. Eine solche Verengung auf den Sprachschatz zweier Personen kann nicht erreichen, dass eine Sprache in allen ihren Facetten begriffen wird. (Wer Deutsch ausschließlich aus Goethe-Phrasen lernte, könnte auf einen weit größeren Fundus, sowohl an reinem Wortmaterial als auch an Stilen zurückgreifen, als unsere Lateinschüler.) Es geht ja so weit, dass oft nicht einmal der Briefschreiber Cicero akzeptiert wird.
Ebensowahr ist, dass diese Fokussierung auf die allergüldenste Latinität eine recht neue Entwicklung ist. Meissners Phraseologie hatte neben Phrasen von Caesar und Cicero auch Wendungen aus Terenz, Livius, Sallust, Nepos, Quintillian, Seneca und weiteren. Die Überarbeitung von 2004 streicht alles, was nicht von Caesar und Cicero ist, Stellen aus Ciceros Briefen werden mit "Warnhinweis" versehen. Als Begründung heißt es lapidar, dass ein solches "Stilgemisch ... nicht Ziel einer guten lateinischen Übersetzung sein kann." Auch der Neue Menge beschränkt sich auf die Prosa der beiden.
Wie könnte man für diese Entwicklung argumentieren? Zum einen wohl mit der geringen Zeit, die für die aktive Erlernung des Lateinischen zur Verfügung steht. Im 19, Jh. verbrachte ein Gymnasiast 80 % der Unterrichtszeit mit den Alten Sprachen. Notwendigerweise muss man heute ein reduziertes Latein lehren. Denn wenn jemand verschiedene Stile verwenden soll, so muss man auch von ihm verlangen, dass er sie bewusst verwendet. Er müsste deutlich machen können, wann er archaisiert, wann er pathetisch-eloquent, wann er lakonisch-verkürzend schreibt.
Zum anderen schärft die genaue Kenntnis eines klassischen Stils (wie einheitlich der Stil Ciceros in seinen verschiedenen Reden ist, sei einmal dahingestellt) den Blick, der die Abweichungen bei Sallust oder Tacitus erkennen soll.
Re: Falsches Latein?
διψαλέος schrieb am 09.03.2012 um 22:47 Uhr (Zitieren)
Was heißt "falsches Latein"?
Was heißt "falsches Deutsch"?
Wir wissen nicht, wie die Mehrzahl der stadtrömischen Bevölkerung, soweit sie "Muttersprachler" gewesen sind, gesprochen haben.

Thomas Mann schrieb geschliffenes deutsch,
M.R.R., der Literatur-Kritiker-Papst,
Walter Jens,
Lew Sinowjewitsch Kopelew,
all diese leute sprachen/sprechen und schrieben/schreiben aber so was von deutsch...

Re: Falsches Latein?
διψαλέος schrieb am 09.03.2012 um 22:48 Uhr (Zitieren)
dabei sind/waren Marcel Reich-Ranicki und Lew Sinowjewitsch Kopelew
keine Deutschmuttersprachler.
;-)
Re: Falsches Latein?
διψαλέος schrieb am 09.03.2012 um 23:15 Uhr (Zitieren)
Das Latein, was nun seit fast 1.000 Jahren gelehrt und gelernt wird, ist gleichsam eine in formelhafte Gestalt gefasste Sprache, wie Mathematik.
Wenn wir uns auf Latein verständigen ist es so,
wie wenn ich mich mit einem z.B. chinesischen Kollegen über statische Probleme austausche:
a² + b² = c².
Egal, wie man diese Formel "ausspricht",
aber der Inhalt muß stimmen.
So ist es dem Latein ergangen:
Es ist in Formeln erstarrt.

Ich muß, um verständlich einem anderen "Lateiner" gegenüber zu bleiben, z.B. die Regeln der Präpositionen einhalten.

Re: Falsches Latein?
Γραικίσκος schrieb am 10.03.2012 um 11:14 Uhr (Zitieren)
Das 'Problem' bei "mea puer", "homones" &c. liegt doch nicht darin, daß man es nicht versteht, oder? Es sind Abweichungen, Varianten, wie sie in jeder lebenden Sprache vorkommen.
Das Problem beim Latein liegt m.E. darin, daß es im Rahmen des Studiums künstlich, sozusagen per decretum in einem extrem engen Sinne fixiert worden ist.

Zu dem, was eine lebendige Sprachec auszeichnet, habe ich jetzt von Schülern ein Beispiel erläutert bekommen: "Alter" ist nicht mehr maskulin, sondern geschlechtsneutral und wird nicht mehr dekliniert. Anscheinend (aber das habe ich nicht zweifelsfrei verstanden) darf ein Mädchen ein anderes Mädchen "Alter" nennen, jedoch kein Junge ein Mädchen.
Das betrifft dann wohl Diastratie und Diaphasie. Obwohl ich mir nicht sicher bin, wie lange es dauern wird, bis Jugendliche auch Lehrer als "Alter" ansprechen.
Re: Falsches Latein?
διψαλέος schrieb am 10.03.2012 um 13:43 Uhr (Zitieren)
ja, Jugendsprache - schweres Sprache
 
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