α β γ δ ε ζ η θ ι κ λ μ ν ξ ο π ρ ς σ τ υ φ χ ψ ω Α Β Γ Δ Ε Ζ Η Θ Ι Κ Λ Μ Ν Ξ Ο Π Ρ C Σ Τ Υ Φ Χ Ψ Ω Ἷ Schließen Bewegen ?
Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Gibt es Wunder? Jedenfalls gibt es magische Szenen. (398 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 30.03.2012 um 19:50 Uhr (Zitieren)
Wolfgang Büscher, geboren 1951 bei Kassel, hat lange Zeit für die Magazine der „Süddeutschen Zeitung“, der „Zeit“, der „Neuen Zürcher Zeitung“ und für „Geo“ geschrieben. Heute leitet er das Ressort Reportage bei der „Welt“. 1998 erschien sein Buch „Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer“; 2002 wurde Büscher für seine Reportagen mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Im vorliegenden Buch schildert Büscher seine Erlebnisse auf einem Fußmarsch von Berlin nach Moskau. Unterwegs in Russland hört er von einer Einsiedelei, in der es Ikonen gebe, die sich auf wundersame Weise erneuerten – wie die Orthodoxe Kirche in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion. Büscher besucht diese Einsiedelei, trifft aber nicht den Einsiedler Igumen selbst an (von dem er lediglich erfährt, er befinde sich auf einem Erholungsurlaub), sondern nur eine Frau namens Ljuba, die den Einsiedler betreut.
[...] Nach dem Abendbrot zeigte mir Ljuba die mystischen Schätze der Einsiedelei. Wir gingen zur alten Kirche. Die Ikone über dem Eingang sah aus, als sei ein Restaurator, nachdem er halbe Arbeit geleistet hatte, mit dem Vorschuss durchgebrannt. Das Gesicht war hell und frisch, der Rest alt und dunkel, und so ging es drinnen weiter. Alle Ikonen waren in Arbeit, oder sollte ich sagen, sie waren in Veränderung begriffen, halb leuchteten sie, halb dunkelte der Schlaf der Jahrhunderte auf ihnen nach, und es gab nur die Wahl, entweder wie Ljuba an den göttlichen Restaurator zu glauben, der dieses Wunder wirkte, der machte, dass die alten Ikonen von Boris-Gleb neu wurden und ihre Farben wieder hell und stark – oder an eine grandiose Scharlatanerie. Ich näherte mich diesen Dingen, indem ich vorderhand Ljuba glaubte, dass sie glaubte, was sie mir darüber sagte. Anders gesagt, ich glaubte nicht an ihre Fähigkeit, mir und allen anderen, die herkamen, ein Theater vorzuspielen und heimlich nachts an den Ikonen zu arbeiten. An einer rann Mira herab, der mystische Saft, so reichlich, als ob sie schmelzen wolle. Es sei die, mit der das Ikonenwunder begonnen habe, sagte Ljuba.
„Habt ihr bei euch im Westen so etwas auch?“
„Protestanten nicht. Aber die Katholiken haben blutende Heiligenstatuen und Heilige.“
„Ja, das gibt es bei uns auch. Ikonen, die bluten.“
Wir gingen zum Fluss, wo ein Boot lag, das als Fähre diente. An einem hinübergespannten Drahtseil konnte sich, wer wollte, ans andere Ufer ziehen. Nach kurzem Weg durch hohes Gras, durch Beifußstauden und riesige Disteln und Büsche kamen wir an einen Brunnen, über den ein windschiefes Holzdach gebaut war. Ich musste mir das Hemd ausziehen und Ljuba schöpfte mehrere Eimerchen eiskalten Wassers und schüttete sie mir über den Kopf. Natürlich war es ein heiliger Brunnen. Ljuba sah sich um. „Ist es nicht schön, unser Russland? Wie Jessenin sagte. Ich muss immer an Jessenin denken, wenn ich das sehe, diese wunderbare Natur, an den armen Dichter Jessenin.“
Seit dem Brand teilten sie und ihr Mann ihr Haus mit dem Einsiedler. Es war das einzige alte Haus auf der Lichtung, sie begnügten sich mit dem vorderen Raum, dem Igumen hatten sie den anderen abgetreten. Sein Priestergewand hing an der verschlossenen Tür, das weiße Hemd und der schwarze Umhang. Er musste ein zierlicher Mann sein. Ljuba wies auf die Vase unter der Ikone. „Ihre Farben waren ganz blass geworden mit der Zeit, die Vase hatte lange in der Sonne gestanden, und sehen Sie, nun strahlen sie wieder.“ In der Tat, die ineinander verlaufenden grünen und roten Schlieren der großen Glasvase waren frisch und klar. „Und sehen Sie seine Kleider. Er trägt sie schon lange, und sie sind wieder wie neu.“ Nun ja, das Gewand des Igumen sah alt, aber nicht schäbig aus. „Und es wirkt sogar, wenn man bloß hier war, man nimmt es mit. Meine alten Kleider daheim in der Stadtwohnung sind wieder wie neu. Und nun sehen Sie sich die Ikone genau an.“
Nach einem Gebet, das von vielen Verneigungen begleitet war, näherten wir uns dem Christusbild in der Ecke des Zimmers. Es war eine eigenartige Darstellung, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Christus als Autor der Welt. Eine Weltkugel war zu sehen, und er trug eine feine, in einen langen Stiel auslaufende Feder, genau dort aber, wo er sie auf den Globus setzte, ging ein Riss durch ihn und durch die ganze Ikone, die Federspitze stach die Welt entzwei, und sie barst wie eine Schale. Die Feder war das eigentliche Geheimnis des Bildes. Sie wirkte zierlich und gefährlich zugleich, wie der ziselierte metallische Stachel eines Insektenwesens von einem anderen Stern. Und Christus hielt sie nicht, er berührte sie eher mit seiner Linken und führte sie leicht, aber sie schwebte aus eigener Kraft und stand auf der Welt, und die Weltkugel war leer. Ein unbeschriebenes Blatt, wie am ersten Tag oder am letzten. Doch das war es immer noch nicht, was Ljuba meinte. „Sehen Sie die Krone?“
Richtig, über dem Christuskopf schimmerte im dunklen Grund eine Krone, nicht sofort sichtbar, aber deutlich, wenn man näher trat, wie das Relikt eines übermalten älteren Bildes. „Nachdem wir an Ostern hier an diesem Tisch über das Wiedererscheinen des Christus gesprochen hatten, erschien sie. Sehen Sie, es ist die Zarenkrone mit dem Kreuz darin. Christus wird kommen als der Zar der Welt.“ Dann sagte sie noch: „Die Ikone ist so alt wie das Haus, hundertfünfzig Jahre etwa. Sie war ganz dunkel. Jetzt kommen die Farben wieder, sehen Sie das leuchtende Rot des Gewandes. Und die Strahlen von der Krone aus.“
Sie sagte es nicht eifernd, eher erstaunt, ohne es selbst recht fassen zu können. Ein alter heiliger Ort lud sich neu auf, und sie sah zu. Sie war von Wundern umgeben wie andere von Möbeln oder Terminen. Wie von ihren Sommerbeeren und eingemachten Gurken und Kohlvorräten. Dann sagte sie, dass ich hier schlafen könne, ihr Mann sei in die Stadt gefahren, und sie selbst übernachte, wenn Besuch da sei, in der älteren Kirche. Sie versorgte das kleine rote Öllicht unter der Ikone, das über Nacht brannte, wies mich an, die Tür von innen zu verriegeln und nur ihr zu öffnen, falls sie riefe, sonst keinem. Von den sieben Hauskatzen des Igumen waren die meisten ausgesperrt über Nacht, nur zwei waren drinnen, die weiße und die schwarze. Dämon und Pantherchen.
In dieser Nacht hatte ich zwei Träume. Ein Gesicht ging auf über einer Stadt, mal anziehend, mal schrecklich. Es fraß alles, und als es mich fraß, schmeckte ich mich selbst. Ich war salzig wie das Meer. Der zweite war der Fußballtraum. Ich hatte lange geschlafen, viele Jahre, vielleicht war ich auch tot gewesen, nun sollte ich wieder spielen. Ich war Linksaußen gewesen, aber ich hatte alles vergessen und verlernt, und meine alten Stollenschuhe waren völlig aus der Mode; das Spiel wurde angepfiffen, ich lief ein. Dann sprang mich etwas an aus der Nacht. Ich schrak hoch, es fauchte und fetzte meine Decke. Es war Dämon. Die nächste halbe Stunde verging mit vergeblichen Versuchen, ihn vom Bett zu werfen. Ich stieß ihn weg, Sekunden später war er wieder da, es war ein zäher, russischer Dämon. Ich stand auf und ging herum, von Gegenstand zu Gegenstand, von Bild zu Bild, am schwarzweißen Igumengewand vorbei zu den dunklen Augen. Das rote Licht der Öllampe warf einen ungewissen Schein auf das ebenmäßige Gesicht, und ich versuchte in diesen Zügen zu lesen, in diesen großen dunklen Augen, aber je näher ich kam, desto mehr löste es sich auf, desto flächiger wurde es, desto unbestimmter und unbestimmbarer, und die dunklen Augen waren nur Farbfelder, dunkle Tore, nein, leichter, nur ein Vorhang aus Farbe; durch ihn tritt, wer es wirklich will, wer es wirklich kann, nein, leichter, wem es eben geschieht.
Dann stand ich vor dem Regal und nahm ein Buch nach dem andern in die Hand, bis ich an einem hängen blieb, einem Buch über Armageddon, über die Endzeit, über dunkle biblische Prophetien. Das Buch blieb nicht im Vagen. Es sagte, was demnächst geschehen würde. Ich las es ohne Schwierigkeiten, es war teils in russischer, teils in englischer Sprache geschrieben. Ich war nach Russland gelaufen, in den Wald, in die Nacht, in die tiefste Menschenleere, in das Haus eines Einsiedlers, zu dem die Leute von fernher kamen nur für ein Wort, für die Hand, die er ihnen auflegte, und fand ein dunkles Buch aus Amerika. Gog vom Lande Magog war der Irak, Israel war wieder hergestellt, ein Wunder nach zweitausend Jahren und eine jener alten Prophezeiungen, „and this allows the fulfillment of the remaining prophecies“, Gog von Magog griff an, und in diesem letzten Kampf werde ein Drittel der Menschheit untergehen.
Draußen war etwas. Etwas lief herum, an der Tür blieb es stehen, lief weiter, entfernte sich und kam wieder. Die Wölfe hier seien groß wie Schäferhunde, hatte Ljubas Mann gesagt, aber jetzt im Sommer blieben sie im Wald. Nun ja, der Sommer neigte sich, es wurde Herbst. Ich nahm einen Knüppel und ging hinaus in die wunderbare Nacht. Ich musste keine Angst haben, ich hätte es an den Katzen gesehen, wenn etwas gewesen wäre, und Dämon spielte vollkommen konzentriert mit meinem Stiefel. Ich schloss die Tür hinter mir, nun war alles schwarz, das Haus, der Garten, die beiden Kirchen, der Wald. Die Welt war wie gelöscht, nichts störte das Licht der Sterne. Es fiel nieder wie der zarteste Regen, es lief mir über den Rücken, über Kopf und Brust. Wäre es jetzt zu mir gekommen, das Ende der Welt, ich hätte es umarmt wie einen Bruder, wie einen Vater, wie eine Braut.

[Quelle: Wolfgang Büscher, Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Reinbek 7. Aufl. 2003, S. 209-213]
 
Antwort
Titel:
Name:
E-Mail:
Eintrag:
Spamschutz - klicken Sie auf folgendes Bild: Helm

Aktivieren Sie JavaScript, falls Sie kein Bild auswählen können.