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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Sokrates über das Inzesttabu (568 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 21.04.2012 um 17:24 Uhr (Zitieren)
Sokrates diskutiert mit Hippias:
[S.] Ist es nicht auch überall Gesetz, die Eltern zu ehren?
Auch dies, entgegnete jener [H.].
[S.] Und nicht auch, daß sich weder die Eltern mit den Kindern noch die Kinder mit den Eltern paaren dürfen?
Dies, Sokrates, erwiderte jener [H.], scheint mir kein göttliches Gesetz mehr zu sein.
Warum denn? So fragte er [S.].
Weil ich manche Menschen sehe, erwiderte jener [H.], die es übertreten.
Auch viele andere Gesetze übertreten die Menschen freilich, sagte er [S.] darauf; aber die, welche die von den Göttern erlassenen Gesetze übertreten, müssen gewiß dafür Strafe leiden, und es ist dem Menschen in keiner Weise möglich, ihr zu entrinnen, so wie etwa manche bei Verstößen gegen die von Menschen erlassenen Gesetze der Strafe entgehen, sei es daß sie unentdeckt bleiben, sei es daß sie Gewalt anwenden.
Und welcher Art von Strafe, Sokrates, fragte jener [H.], können Eltern nicht entgehen, wenn sie sich mit ihren Kindern, und Kinder, wenn sie sich mit ihren Eltern paaren?
[S.] Die schwerste Strafe, beim Zeus, war die Antwort. Denn welches größere Übel könnten wohl die Menschen erfahren, welche Kinder zeugen, als wenn sie schlechtgeratene Kinder zeugen?
Warum, entgegnete jener [H.], zeugen diese nun schlechtgeratene Kinder, die doch, wenn sie selbst gut sind, nichts hindert, sie mit guten Ehegatten zu zeugen?
[S.] Weil es, beim Zeus, so lautete die Antwort, nicht nur notwendig ist, daß gute Ehegatten miteinander Kinder zeugen, sondern auch, daß sie körperlich in der Blüte ihrer Kraft stehen. Oder scheint dir die Zeugungskraft die gleiche zu sein bei denen, die in der Blüte ihrer Kraft stehen, und bei denen, die entweder noch nicht in der Blüte ihrer Kraft stehen oder sie bereits überschritten haben?
[H.] Im Gegenteil, beim Zeus, lautete die Antwort, die ist natürlich keineswegs das gleiche.
Wessen Kraft, so fragte er [S.] nun weiter, ist nun die bessere?
[H.] Offenbar, so lautete die Antwort, die Kraft derer, die in voller Blüte stehen.
[S.] Und die Kraft derer, die nicht in voller Blüte stehen, wird natürlich nicht bedeutend sein?
[H.] Sicherlich nicht, beim Zeus, war die Antwort.
[S.] Soll man also in dieser Weise keine Kinder zeugen?
Allerdings nicht, erwiderte jener [H.].
[S.] Wer nun doch in dieser Weise Kinder zeugt, tut der dies denn nicht, wie es nicht sein soll?
So scheint es mir, gab jener [H.] zur Antwort.
Wer also sollte sonst, so fragte er [S.] weiter, schlechtgeratene Kinder zeugen, wenn nicht gerade diese?
Ich stimme dir auch darin bei, entgegnete jener [H.].

(Xenophon: Erinnerungen an Sokrates IV 4, 20-23)

Auffallen erscheint mir u.a., daß sich die Götter, die göttliche Ordnung, in den verhängnisvollen Folgen beim Verstoß gegen diese Ordnung manifestiert. Was naturgemäß schlimme Folgen hat, ist wider die göttliche Ordnung.
Anders bei Verstößen gegen menschliche Gesetze, die manchmal folgenlos bleiben.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
filix schrieb am 21.04.2012 um 19:02 Uhr (Zitieren)
Ist nicht eher auffällig, dass von den beiden kritischen Szenarien, die die Zwangsläufigkeit und Verlässlichkeit mit
der die 'Strafe' auf den Verstoß folgt, woraus die "göttliche Ordnung" ihre sozusagen übermenschliche Majestät gewinnt,
bedrohen, eines erst gar nicht diskutiert wird: dass nämlich aus dem Inzest Prachtexemplare von Kindern hervorgehen,
während das andere, i.e. das Eintreten einer Missbildung ohne strafwürdigen Verstoß, über eine condicio sine qua non (der göttlichen Ordnung gehorchen genügt nicht, wenn man nicht auch in der Blüte steht bei der Zeugung) neutralisiert wird?
Re: Sokrates über das Inzesttabu
filix schrieb am 21.04.2012 um 19:11 Uhr (Zitieren)
Außerdem dürfte der durchschnittlich empfindsame Mensch des 21. Jahrhunderts Anstoß daran nehmen, dass 'behinderte' Kinder, die dem von der Geschichte abgrundtief enttäuschten als letzter Fall von unschuldigem Leben auf diesem Planeten erscheinen, hier in ihrem Leiden als 'Strafe' für andere aufgehen.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
ανδρέας schrieb am 21.04.2012 um 19:23 Uhr (Zitieren)

Bei den Ptolemäerkönigen, also griechischstämmigen Pharaonen, war Inzest offenbar akzeptiet. Ptolemaios II. z.B. war mit seiner Schwester Arsinoe II. verheiratet. Sein Beiname war also treffend: Philadelphos.
In Ägypten war dies nicht nur bei den Pharaonen verbreitet.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
Γραικίσκος schrieb am 21.04.2012 um 21:37 Uhr (Zitieren)
Außerdem dürfte der durchschnittlich empfindsame Mensch des 21. Jahrhunderts Anstoß daran nehmen, dass 'behinderte' Kinder, die dem von der Geschichte abgrundtief enttäuschten als letzter Fall von unschuldigem Leben auf diesem Planeten erscheinen, hier in ihrem Leiden als 'Strafe' für andere aufgehen.

Was soll man denn in dem Falle sagen, daß eine Mutter während der Schwangerschaft exzessiv trinkt und das Kind deshalb mit einer Behinderung (oder einer 'Behinderung') geboren wird?
Nach unserer Kenntnis vergrößert beides, der Inzest wie der Alkoholkonsum, die Wahrscheinlichkeit für 'Mißbildungen'. Es gibt mithin einen naturgesetzlichen Zusammenhang, den man verantwortungsbewußt bedenken sollte.
Niemand wird auf den Gedanken kommen, dafür die Kinder verantwortlich zu machen - niemand, auch Sokrates nicht.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
ανδρέας schrieb am 21.04.2012 um 21:51 Uhr (Zitieren)

Das Inzesttabu ist sinnvoll und in den allermeisten Kulturen verankert. Im Grund gibt es ja nun auch genügend Menschen außerhalb der eigenen Familie mit denen man anbändeln kann. Ich kann nicht verstehen, wieso manche schon beim berühmten Klapps, der gegen ein exzessiv trotzig quengelndes Kind angewendet wird, den Staatsanwalt einschalten, aber bei einem Verhalten, das Kinder lebenslang schädigt, tolerant sind. Manche Leute muss man vor sich selbst schützen und ihre potenziellen Kinder auch.
In manchen Fällen sollte man Sokrates berühmtestes Zitat abändern: ich weiß, dass du nichts weißt - und deshalb tu oder lass, was man dir sagt.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
filix schrieb am 21.04.2012 um 23:04 Uhr (Zitieren)
@ Graeculus: Jemandem zu vermitteln, dass er unter den Folgen der Verantwortungslosigkeit eines anderen leidet (und er nicht selbst daran Schuld trägt), und jemandem, mit einer Behinderung zudem, erklären, sein Zustand sei nicht nur mittelbar Folge eines bewusst eingegangen, erhöhten natürlichen Risikos, sondern Ausdruck und Strafe für den Verstoß eines anderen gegen eine göttliche (!) Ordnung, ist zweierlei. In der von dir zitierten Argumentation dreht sich alles um die Wirkung des missgebildeten Kindes auf seine Verursacher einerseits als inkarnierte Schuld, Mahnung für die Umgebung und um die Funktion, durch anschaulichen und unentrinnbaren Schrecken die göttliche Majestät solcher Gesetzgebung, die von menschlicher sich unterscheidet, zu manifestieren, andererseits. Die argumentative Problematik wiederholt sich unter veränderten Vorzeichen in deinem Scheineinwand: du schwankst zwischen "erhöhter Wahrscheinlichkeit" und striktem "naturgesetzlichem Zusammenhang": wie Sokrates bei Xenophon hättest du es offensichtlich lieber, es träte die Folge mit der Notwendigkeit eines strengen Naturgesetzs ein, wobei eine konsequente Wirkung zeitigende Ursache durch ein verantwortungsloses Verhalten als ermöglichende Bedingung (denn den genetischen Vorgang selbst verursacht das Verhalten ja nicht per se) eingeleitet wird, mit dem Unterschied, dass dir diese Unentrinnbarkeit nicht mehr Ausdruck einer göttlichen Gesetzgebung ist, sondern der von dir mit Liebe gepflegten Kasuistik entsprechend, ein Drama des moralischen Subjekts. Tatsächlich aber bist du mit einem diffusen, von kulturellen und psychischen Bestimmungen überlagerten empirischen Befund über die erhöhte Wahrscheinlichkeit solcher Folgen konfrontiert, der dich auf Folgenabschätzung als moralisches Verhalten verweist. Die entscheidenden Frage im modernen bürgerlichen Rechtsstaat, der im Übrigen in D. ja nur den einvernehmlichen, inzestuösen vaginalen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellt, nicht jede sexuelle Handlung ( dass dies oft mit Erstaunen quittiert wird , kann als Indiz dafür gelten, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung mindestens so sehr um eine Sexualmoral geht, die Sorge um das möglicherweise genetisch beeinträchtige Leben als Folge nur vorschiebt, in Wahrheit aber individuelles Sexualverhalten gesetzlich geregelt sehen will), sind damit noch gar nicht berührt: z.B. ob es überhaupt Aufgabe des Staates ist, die genetischen Startbedingungen künftiger Staatsbürger vorgreifend durch Strafgesetzgebung zu schützen; ob nicht bei einer Kollision von Rechten gewisse Persönlichkeitsrechte höher zu bewerten sind usf. Dass den Teilnehmern bekannte genetische Risken der Fortpflanzung trotz nicht bestehender Blutsverwandtschaft nicht geregelt werden und Folgen nicht sanktioniert werden, dass Folgen von Eingriffen der Reproduktionsmedizin in die genetische Dimension der Zeugung, Folgen der neonatologischen Aufrüstung, die 'Frühchen' immer früher 'rettet' usf. keine auch nur annähernd so großen Regelungsbegehrlichkeiten im Namen der Gesundheit des kommenden Lebens auf den Plan rufen, sondern in den Bereich des persönlichen Risikos fallen, obwohl anzunehmen ist, dass solche Folgen die einvernehmlicher, inzestuöser Fortpflanzung wenn schon nicht längst übersteigen so doch bald übersteigen werden, macht vollends deutlich, dass in dieser Diskussion es vorrangig um etwas Anderes geht.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
Γραικίσκος schrieb am 22.04.2012 um 12:51 Uhr (Zitieren)
Nun wird der Gedankengang für mich fast unübersichtlich, und ich möchte mir einmal die verschiedenen Aspekte klarmachen:

Das Inzesttabu kann in Verbindung gebracht werden mit
- einer göttlichen Naturordnung,
- einem (biologischen) Naturgesetz,
- einer statistischen Erwartung über Erbschäden sowie
- (davon war wohl noch nicht die Rede) einer sozialen bzw. moralischen Normierung von Familienverhältnissen zum Zwecke der Vermeidung von Konflikten im Rahmen von Lebensgemeinschaften.

Das Inzesttabu ist (so Lévi-Strauss: "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft") das einzige Tabu, welches sich in allen Gesellschaften findet, wenn auch nicht immer auf die gleichen Verwanftschaftsbeziehungen gerichtet.

Der hier vorgelegten Argumentation des Sokrates kann man sich heute nicht mehr anschließen. Sie trifft zudem nicht sexuelle Beziehungen unter Geschwistern.
Soweit ich weiß, wurde spätestens seit Euripides der Gedanke einer moralisch-rechtlichen Naturordnung göttlichen Ursprungs in Frage gestellt.

Die Aufmerksamkeit, welche das Inzesttabu findet, ist sicherlich nicht nur durch Überlegungen zu (häufiger auftretenden) genetischen Schädigungen der Nachkommenschaft motiviert.
Re: Sokrates über das Inzesttabu
ανδρέας schrieb am 22.04.2012 um 13:46 Uhr (Zitieren)

Wie frei ist die Entscheidung der jüngeren Schwester oder der Tochter gegenüber dem Begehren des anderen? Aber danach fragt das Gesetz nicht.
Allerdings sollte man sich fragen, ob man die Wahrscheinlichkeit genetischer Schädigungen in diesem Falle unberücksichtigt lassen sollte, weil man es in anderen Fällen nicht tut. Dann kann man auch sagen: weil man nicht alle Kriminellen schnappt, ist es ja ungerecht, die ungeschickten Verbrecher, die man erwischt, zu bestrafen. Das wäre dann Gleichbehandlung im Unrecht. Damit wäre alles erlaubt, weil man nichts mehr verbieten könnte. Also ist m.E. das Argument, Inzest zu betrafen, nicht mit dem Verweis auf anderes Fehlverhalten (z.B. Alkoholexzesse während der Schwangerschaft), das ungestraft bleibt, zu widerlegen.
 
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