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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich! (732 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 08.06.2012 um 15:42 Uhr (Zitieren)
MEPHISTOPHELES.
Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!
FAUST, aufgeschreckt. Mütter!
MEPHISTOPHELES. Schaudert’s dich?
FAUST. Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
MEPHISTOPHELES.
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen ...

Goethe: Faust (II), 6212–19

Als Anregung zu dem rätselhaften, mythischen Entwurf der „Mütter“ diente Goethe eine Anekdote in Plutarchs Marcellus-Biografie, worin von einem lokalen Kult auf Sizilien berichtet wird und davon wie Nikias ihn nutzte, um sich der Verfolgung durch seine Mitbürger zu entziehen, nachdem er sich deren Feindschaft zugezogen hatte:

Es gibt in Sizilien eine Stadt Engyion, nicht groß, aber uralt und hochberühmt wegen des Wirkens der Göttinnen, die sie die Mütter nennen. Das Heiligtum soll eine Gründung der Kreter sein, und man zeigte Speere und eherne Helme, die die Aufschriften teils des Meriones, teils des Ulixes, das ist des Odysseus, trugen, welche sie den Göttinnen geweiht hatten. Diese Stadt, die den Karthagern treu ergeben war, wollte Nikias, einer der angesehensten Bürger, bewegen, zu den Römern überzutreten, legte das in den Volksversammlungen ganz offen dar und suchte seine Gegner von der Verkehrtheit ihrer Meinungen zu überzeugen. Aus Furcht vor seinem Einfluß und seinem Ansehen faßten diese den Plan, ihn zu ergreifen und den Phoinikern auszuliefern. Als nun Nikias bemerkte, daß er schon heimlich beobachtet wurde, führte er in der Öffentlichkeit unehrerbietige Reden über die Mütter und benahm sich vielfältig wie ein Mensch, der an ihr vermeintliches Walten nicht glaubte und sie mißachtete, so daß die Feinde sich schon freuten, daß er selber die stärkste Schuld an dem, was er erleiden sollte, auf sich lud. Als schon alle Vorbereitungen für seine Festnahme getroffen waren, fand eine Versammlung der Bürger statt. Da warf sich Nikias, mitten während einer Rede, die er zur Begründung eines Antrags hielt, plötzlich zur Erde, und nach kurzer Frist, während begreiflicherweise erschrockenes Schweigen herrschte, hob er den Kopf und drehte ihn hin und her, murmelnd mit bebender, dumpfer Stimme, die er allmählich immer stärker anschwellen ließ, bis er, als er das ganze Theater von stummem Grauen ergriffen sah, den Mantel abwarf, das Untergewand zerriß, halbnackt aufsprang und auf den Ausgang des Theaters zurannte mit dem Schrei, er werde von den Müttern gehetzt. Und da aus abergläubischer Angst niemand ihn anzurühren oder ihm entgegenzutreten wagte, sondern alles auswich, so rannte er hinaus zum Tor mit jeder Art von Schreien und Gebärden, wie sie einem Verrückten, von einem Dämon Besessenen anstanden. Seine Frau, die Bescheid wußte und alles mit ihrem Mann vorbesprochen hatte, warf sich zuerst mitsamt ihren Kindern um Gnade flehend im Heiligtum der Göttinnen auf die Knie, dann gab sie vor, sie wolle den Irren suchen, und kam, ohne daß jemand sie hinderte, sicher aus der Stadt heraus.

Plutarch, Marcellus Kap. 20, Übers. K. Ziegler.
Re: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
Φιλομαθής schrieb am 08.06.2012 um 18:18 Uhr (Zitieren)
Diese Geschichte bestätigt aber auch, was Jacob Burckhardt über den Zwang schreibt, den die Polis über ihre Bewohner ausübte:
Im Innern wird sie [die Polis] dem Einzelnen höchst furchtbar, sobald er nicht völlig in ihr aufgeht. Ihre Zwangsmittel, von denen sie ausgiebigen Gebrauch macht, sind Tod, Atimie und Exil. Und zwar gibt es, von dem besonderen Falle abgesehen, daß Athen die Prozesse seiner Hegemoniestädte vor seine Tribunale zog, keine Appellation an eine auswärtige Instanz mehr; sie ist völlig unentrinnbar, da ein Entrinnenwollen den Verzicht auf alle Sicherheit der Person in sich schließt. Mit der Staatsallmacht aber geht der Mangel an individueller Freiheit in jeder Beziehung Hand in Hand. Kultus, Festkalender, Mythen - Alles dies ist einheimisch; so ist der Staat zugleich eine mit dem Rechte Asebieklagen anzustrengen ausgestattete Kirche, und dieser vereinigten Macht erliegt der Einzelne vollständig. Mit Kriegsdienst gehört er der Polis leiblich in Rom bis zum sechsundvierzigsten Jahre, in Athen und Sparta lebenslang; mit seiner Habe hat sie ihn völlig in der Gewalt und kann auch schon für mancherlei Güter die Werte bestimmen. Kurz, gegenüber der Polis und ihren Interessen fehlt jede Garantie von Leben und Besitz. Und zwar besteht diese Staatsknechtschaft des Individuums unter allen Verfassungen, nur wird sie unter der Demokratie, als sich die verruchtesten Streber für die Polis und deren Interesse ausgeben, d. h. den Satz salus rei publicae suprema lex esto in ihrem Sinne interpretieren konnten, am drückendsten gewesen sein. Die Polis hat sich also das Wenige von Sicherheit, was sie gewährte, möglichst hoch zahlen lassen.

Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. 2. Abschn. (Bd. I, S. 77 in der dtv-Ausgabe).
Re: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
Φιλομαθής schrieb am 08.06.2012 um 18:32 Uhr (Zitieren)
Seltsam, dass ein Eidgenosse eine solch schlechte Meinung von der Demokratie hegte.
Re: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
ανδρέας schrieb am 10.06.2012 um 17:00 Uhr (Zitieren)
Mit der Staatsallmacht aber geht der Mangel an individueller Freiheit in jeder Beziehung Hand in Hand. Kultus, Festkalender, Mythen...


(Nicht nur) Die Schweizer legen genau darauf viel Wert. Der zu romantische Vergleich mit der attischen Demokratie sollte auch wirklich nicht übertrieben werden (meist wird auch vergessen, dass weder Frauen noch Sklaven daran beteiligt waren - Sklaven? ach ja)

Re: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
Φιλομαθής schrieb am 10.06.2012 um 20:37 Uhr (Zitieren)
Ich meinte den Satz ein Stück unterhalb:

Und zwar besteht diese Staatsknechtschaft des Individuums unter allen Verfassungen, nur wird sie unter der Demokratie, als sich die verruchtesten Streber für die Polis und deren Interesse ausgeben, d. h. den Satz salus rei publicae suprema lex esto in ihrem Sinne interpretieren konnten, am drückendsten gewesen sein.


Hierin werden ja nur antike Verfassungen miteinander ins Verhältnis gesetzt. Aber wenn von den "verruchtesten Strebern, die sich für die Polis und deren Interesse ausgeben" die Rede ist, scheint mir doch eine Bezugnahme auf den neuzeitlichen Parlamentarismus anzuklingen.
Re: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich!
ανδρέας schrieb am 10.06.2012 um 20:51 Uhr (Zitieren)

Ja, so könnte man es auch sehen. Allerdings sind es ja die Wähler, die sich von den verruchtesten Strebern entzücken lassen. "Politik: die Führung öffentlicher Angelegenheiten zum privaten Vorteil." (Ambrose Bierce)
 
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