Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 10:46 Uhr (Zitieren)
Nein, das nehme auch ich nicht an, daß Sophokles derartige Gedanken in einer derartigen Sprache hatte. Schon sein ganzes Werk auf diesen einen Gedanken "Man sollte besser nicht geboren sein" zu fokussieren, ist ja eine extreme Verkürzung.
Aber es gibt halt bei Sophokles diesen bemerkenswerten Gedanken - der bei ihm ja weder zum ersten noch zum letzten Mal auftaucht. D.h. dieser Gedanke hat eine Karriere, von der Faldbakkens Roman nun eine neue Etappe ist. Nennen wir den Gedanken "Pessimismus" oder den des "mundus pessimus".
Gedanken entstehen und vergehen nicht einfach, sie haben ein Leben, sie entwickeln und modifizieren sich. So weit wie Platon und Frege möchte ich wohl nicht gehen - zu sagen, sie seien überzeitlich.
Hier hat Nietzsche einmal die Karriere eines anderen berühmten, natürlich (!) auch aus dem Griechischen stammenden Gedankens verfolgt: die Annahme der Existenz einer anderen, wahren Welt neben bzw. hinter bzw. über der sinnlich wahrnehmbaren:
[Quelle: Karl Schlechta (Hrsg.), Nietzsches Werke in drei Bänden. München 1966; Band II, S. 963]
Das steht in der "Götzen-Dämmerung" und ist - wie bei Nietzsche nicht anders zu erwarten - natürlich ein durch & durch tendenziöses Werk der Gedankenkarrierengeschichtsschreibung.
"königsbergisch": Anspielung auf Kant. (Oder hätte ich das nicht erwähnen müssen?)
Re: Gedankenkarrieren
Ὑληβάτης schrieb am 16.07.2009 um 11:13 Uhr (Zitieren)
Kann man die einzelnen Stufen benennen? Nietzsche scheint ja die, ich sage mal, Wörterbuchbezeichnungen auszulassen. Ist das:
Platonismus Christentum Idealismus Positivismus ... aber dann?
Re: Gedankenkarrieren
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 13:17 Uhr (Zitieren)
Das sind die gemeinten Phasen von Entstehung und Zerfall des Gedankens einer anderen, wahreren, höheren Welt:
1. Platon
2. Christentum
3. Kant
4. Positivismus, also Auguste Comte & al.
5. der frühe Nietzsche ("Morgenröte", "Fröhliche Wissenschaft")
6. der Nietzsche der "Zarathustra"-Zeit
Natürlich ist der Gedanke dadurch nicht tot, und noch Karl Popper hat sogar eine Drei-Welten-Theorie konzipiert:
a. die objektiv-physische Welt der Physik
b. die subjektiv-psychische Welt der Psychologie
c. die objektiv-geistige Welt der Mathematik
Re: Gedankenkarrieren
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 13:48 Uhr (Zitieren)
Das Fiese an Nietzsches Art der Darstellung liegt darin, daß er sich auf Platons Argumente gar nicht erst einläßt - dabei sind diese Argumente so gut, daß sie später noch Frege und Popper überzeugt haben, und selbst heute gibt es Mathematiker, welche den Gegenständen der Mathematik eine objektive und doch geistige Existenz zusprechen.
Deshalb, so denke ich, sind Fortschritte in der Mathematik auch Entdeckungen und nicht Erfindungen.