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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Gedankenkarrieren (640 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 10:46 Uhr (Zitieren)
Impliziert denn Sophokles' Gedanke, dass die ganze verfickte Welt scheiße ist und wir schon schäbig in der Hölle leben? Mein Gefühl sagt: Nein. Aber ich kann nicht sagen, warum.

Nein, das nehme auch ich nicht an, daß Sophokles derartige Gedanken in einer derartigen Sprache hatte. Schon sein ganzes Werk auf diesen einen Gedanken "Man sollte besser nicht geboren sein" zu fokussieren, ist ja eine extreme Verkürzung.
Aber es gibt halt bei Sophokles diesen bemerkenswerten Gedanken - der bei ihm ja weder zum ersten noch zum letzten Mal auftaucht. D.h. dieser Gedanke hat eine Karriere, von der Faldbakkens Roman nun eine neue Etappe ist. Nennen wir den Gedanken "Pessimismus" oder den des "mundus pessimus".

Gedanken entstehen und vergehen nicht einfach, sie haben ein Leben, sie entwickeln und modifizieren sich. So weit wie Platon und Frege möchte ich wohl nicht gehen - zu sagen, sie seien überzeitlich.

Hier hat Nietzsche einmal die Karriere eines anderen berühmten, natürlich (!) auch aus dem Griechischen stammenden Gedankens verfolgt: die Annahme der Existenz einer anderen, wahren Welt neben bzw. hinter bzw. über der sinnlich wahrnehmbaren:
Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde

Geschichte eines Irrtums

1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.
(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, bin die Wahrheit“.)

2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften („für den Sünder, der Buße tut“).
(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher, - sie wird Weib, sie wird christlich ...)

3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch .)

4. Die wahre Welt - unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? ...
(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus .)

5. Die „wahre“ Welt - eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.)

6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA .)


[Quelle: Karl Schlechta (Hrsg.), Nietzsches Werke in drei Bänden. München 1966; Band II, S. 963]

Das steht in der "Götzen-Dämmerung" und ist - wie bei Nietzsche nicht anders zu erwarten - natürlich ein durch & durch tendenziöses Werk der Gedankenkarrierengeschichtsschreibung.

"königsbergisch": Anspielung auf Kant. (Oder hätte ich das nicht erwähnen müssen?)
Re: Gedankenkarrieren
Ὑληβάτης schrieb am 16.07.2009 um 11:13 Uhr (Zitieren)
Kann man die einzelnen Stufen benennen? Nietzsche scheint ja die, ich sage mal, Wörterbuchbezeichnungen auszulassen. Ist das:
Platonismus Christentum Idealismus Positivismus ... aber dann?
Re: Gedankenkarrieren
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 13:17 Uhr (Zitieren)
Das sind die gemeinten Phasen von Entstehung und Zerfall des Gedankens einer anderen, wahreren, höheren Welt:
1. Platon
2. Christentum
3. Kant
4. Positivismus, also Auguste Comte & al.
5. der frühe Nietzsche ("Morgenröte", "Fröhliche Wissenschaft")
6. der Nietzsche der "Zarathustra"-Zeit

Natürlich ist der Gedanke dadurch nicht tot, und noch Karl Popper hat sogar eine Drei-Welten-Theorie konzipiert:
a. die objektiv-physische Welt der Physik
b. die subjektiv-psychische Welt der Psychologie
c. die objektiv-geistige Welt der Mathematik
Re: Gedankenkarrieren
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2009 um 13:48 Uhr (Zitieren)
Das Fiese an Nietzsches Art der Darstellung liegt darin, daß er sich auf Platons Argumente gar nicht erst einläßt - dabei sind diese Argumente so gut, daß sie später noch Frege und Popper überzeugt haben, und selbst heute gibt es Mathematiker, welche den Gegenständen der Mathematik eine objektive und doch geistige Existenz zusprechen.
Deshalb, so denke ich, sind Fortschritte in der Mathematik auch Entdeckungen und nicht Erfindungen.
 
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