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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Wie ein Wucherer die Welt sieht (362 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 29.06.2012 um 15:37 Uhr (Zitieren)
Der alte Wucherer Gobseck spricht zu einem jungen Mann, der für den Erwerb einer Anwaltskanzlei Geld von ihm leihen möchte.
[...] „Welches Dasein vermöchte so glänzend sein wie das meine?“ fuhr er fort, und sein Blick belebte sich. „Sie sind jung, Sie haben die Vorstellungen ihres Blutes, Sie sehen in Ihren Kaminscheiten Frauengesichter, ich gewahre in den meinen nur verkohltes Holz. Sie glauben an alles, ich glaube an nichts. Bewahren Sie sich Ihre Illusionen, wenn Sie können. Ich will Ihnen das Fazit des Lebens ziehen. Mögen Sie auf Reisen gehen oder an Ihrem Kamin und bei Ihrer Frau hocken bleiben: stets kommt eine Altersstufe, auf der das Leben nichts weiter ist als eine in einem gewissen Lieblingsmilieu ausgeübte Gewohnheit. Dann besteht das Glück in der Betätigung unserer dem Wirklichen angepaßten Fähigkeiten. Außer diesen beiden Regeln ist alles falsch. Meine Grundsätze haben sich geändert wie die des Menschen; mit jedem Breitengrad habe ich sie wandeln müssen. Was Europa bewundert, bestraft Asien. Was in Paris als ein Laster gilt, wird zu etwas Notwendigem, wenn man die Azoren hinter sich hat. Nichts hienieden ist unverbrüchlich; es gibt lediglich Konventionen, die entsprechend dem Klima wechseln. Für den, der sich gezwungenermaßen allen sozialen Gußformen hat einfügen müssen, sind die Konventionen und die Moralsysteme nur noch Phrasen ohne jeden Wert. Es verbleibt uns bloß das einzige wahre Gefühl, das die Natur unserem Innern verliehen hat: der Instinkt der Selbsterhaltung. In euren europäischen Gesellschaften führt dieser Instinkt die Bezeichnung ‚persönliches Interesse‘. Wenn Sie erst so lange gelebt haben wie ich, werden Sie wissen, daß es nur eine einzige Materie gibt, deren Wert verläßlich genug ist, daß ein Mensch sich damit befasse. Dieses Etwas ist ... DAS GOLD. Das Gold stellt alle menschlichen Kräfte dar. Ich bin gereist, ich habe gesehen, daß es überall Ebenen und Berge gibt: die Ebenen langweilen, die Berge machen müde; auf die Örtlichkeiten kommt es also nicht an.
Was nun die Sitten betrifft, so ist der Mensch überall der gleiche: überall herrscht der Kampf zwischen arm und reich, überall ist er unvermeidlich; also ist es besser, der Ausbeuter als der Ausgebeutete zu sein; überall gibt es Muskelmenschen, die arbeiten, und Lymphatische, die sich abquälen; die Liebesfreuden sind überall dieselben, denn überall erschlaffen die Sinne, und nur ein einziges Gefühl überlebt sie: die Eitelkeit! Die Eitelkeit ist immer das Ich. Unsere Launen verlangen Zeit, materielle Mittel oder Pflege. Na, das Gold erhält all das im Keim und spendet all das als etwas Wirkliches.
Nur Narren oder Kranke können ein Glück darin erblicken, allabendlich Karten zu spielen, um es zu erleben, daß sie ein paar Sous gewinnen. Nur Schwachköpfe können ihre Zeit damit hinbringen, daß sie überlegen, was geschieht, ob Madame Soundso allein auf ihrem Kanapee liegt oder in Gesellschaft, ob sie mehr Blut als Lymphe hat, mehr Temperament als Tugend. Nur Tröpfe können glauben, sie seien ihresgleichen dadurch nützlich, daß sie sich mit der Aufstellung von politischen Grundsätzen befassen, um die Herren von Geschehnissen zu sein, die stets unvorhergesehen sind. Nur Nullen können sich darin gefallen, wie Schauspieler einherzureden und in einem fort zu wiederholen, was sie schon einmal gesagt haben; jeden Tag, nur in einem weiteren Bereich, den Spaziergang zu unternehmen, den ein Tier in seinem Käfig macht; sich für die anderen gut anzuziehen, für die anderen zu speisen; mit einem Pferd oder einem Wagen großzutun, den der liebe Nächste erst drei Tage nach ihm haben kann. Ist das nicht das Leben von euch Parisern, in ein paar kurze Sätze übertragen?
Wir wollen das Dasein von etwas höherer Warte ansehen als sie. Das Glück besteht entweder in starken Gemütsbewegungen, die das Leben abnützen, oder in geregelten Betätigungen, und die machen daraus eine englische Maschine, die glatt funktioniert. Oberhalb dieser beiden Glücke gibt es dann noch eine vorgeblich edle Neugier, die nämlich, die Geheimnisse der Natur kennenzulernen oder zu einer gewissen Nachahmung ihrer Wirkungen zu gelangen. Sind das nicht, in zwei Worte gebannt, Kunst oder Wissenschaft, Leidenschaft oder Ruhe? Also: alle durch das Spiel eurer sozialen Interessen vergrößerten menschlichen Leidenschaften paradieren vor mir, der ich in der Ruhe lebe. Eure wissenschaftliche Neugier, eine Art Ringen, bei dem der Mensch stets unterliegt, die ersetze ich dadurch, daß ich alle Triebfedern zu begreifen suche, die die Menschheit in Bewegung setzen. Mit einem Wort: ich besitze ohne Beschwer die Welt, und die Welt hat nicht die mindeste Gewalt über mich. [...]“

[Quelle: Honoré de Balzac, Gobseck; in: Die menschliche Komödie. Herausgegeben von Ernst Sander. 12 Bde. Berlin/Darmstadt/Wien 1980; Bd. 3, S. 16-18]
Re: Wie ein Wucherer die Welt sieht
Γραικίσκος schrieb am 30.06.2012 um 09:58 Uhr (Zitieren)
Wegen seiner durch Spott demaskierenden Tendenz möchte ich Gobseck einen Zyniker nennen. Ein Freund (Romanist) meinte gestern abend, er sei ein Realist.
 
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