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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Ein guter Historiker muss Phantasie haben (808 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 15.07.2012 um 11:38 Uhr (Zitieren)
Es ist bekannt, dass den Reden, die von den antiken Historikern überliefert werden, kein dokumentarischer Wert zukommt. Wie anders ihre Einstellung war im Verhältnis zu unserer, die möglichst große Nähe zum Original fordert, zeigt sich bei Polybios, wenn er den Historiker Timaios dafür kritisiert, wie schlecht er die Rede, die Hermokrates vor den versammelten Sizilianern während der Friedensverhandlungen 424 hielt, ausgedacht und konstruiert habe:
Nachdem die Abgeordneten erschienen und die Beratung eröffnet war, läßt er Hermokrates etwa folgendermaßen sprechen. Nach anerkennenden Worten für die Einwohner von Gela und Kamarina, erstens dafür, daß sie den Waffenstillstand geschlossen, zweitens, daß sie die Friedensverhandlungen angeregt, drittens, daß sie Vorsorge getroffen hätten, daß nicht die Menge über den Frieden beriete, sondern die leitenden Männer in den einzelnen Staaten, die genau wüßten, wieviel besser der Friede sei als der Krieg, und nach zwei oder drei weiteren allgemeinen Reflexionen fährt er fort, sie sollten aufmerken und einsehen lernen, wieviel besser der Friede sei als der Krieg – obwohl er doch schon unmittelbar vorher gesagt hat, eben aus diesem Grund wisse er den Einwohnern von Gela Dank, daß nicht vor der Volksmenge, sondern in einer Delegiertenversammlung verhandelt werde, die genau wisse, was Krieg bedeute. Man sieht also, daß Timaios nicht nur die durch praktische Erfahrung zu gewinnende Befähigung zum Historiker abgeht, sondern daß er auch weit unter dem Niveau von Anfängerreden in der Schule bleibt. Denn jeder fordert doch Beweise nur für das, was den Zuhörern unbekannt oder zweifelhaft ist, hält es dagegen für vollkommen müßig, ja für kindisch, sich Argumente auszudenken für etwas, was allgemein bekannt ist. Abgesehen aber auch von dem Hauptfehler, daß er die längste Zeit über Dinge reden läßt, über die es nicht lohnt, ein Wort zu verlieren, legt er Hermokrates auch Sätze in den Mund, die er unmöglich hätte sprechen können, der Mann, der auf seiten der Spartaner in der Schlacht von Aigospotamoi mitgekämpft und der das ganze athenische Heer in Sizilien mitsamt den Feldherren in seine Gewalt gebracht hat. Nicht einmal ein Schuljunge hätte sich eine solche Geschmacklosigkeit geleistet.
26. Erstens hält er es für nötig, die Abgeordneten daran zu erinnern, daß die Schlafenden des Morgens im Krieg von der Trompete, im Frieden durch den Hahnenschrei geweckt wer-den. Dann sagt er, Herakles habe die Olympischen Spiele gestiftet und Waffenruhe während dieser Zeit angeordnet zum Beweis seiner Gesinnung, und allen, mit denen er Krieg geführt hätte, habe er nur gezwungen und auf höheren Befehl Schaden zugefügt, aus freiem Willen keinem etwas Böses angetan. Daran schließt sich die Bemerkung, bei Homer äußere Zeus seinen Abscheu vor Ares mit den Worten [Ilias 5, 890]:

Denn du bist mir verhaßt vor allen olympischen Göttern.
Zwietracht hast du ja immer geliebt und Kriege und Schlachten.

und ähnlich der Verständigste unter den Helden [Ilias 9, 453]:

Friedlos sei, ohn’ Sippe und Recht noch Gemeinschaft
des Herdes, Wer am blutigen Krieg sich erfreut, wenn cr wütet im Volke.

Der gleichen Ansicht gebe auch Euripides in den Versen [frg. 453 N.] Ausdruck:

Friede, Bringer des Segens,
Schönster der himmlischen Götter,
Sehnsucht verzehrt mich; ach, warum säumst du?
Fürcht’ ich doch, daß der Tod mich ereilt,
Eh ich schaue dein liebliches Antlitz,
Höre die Lieder jubelnder Reigen,
Kranzgeschmückte heilige Züge.

Ferner sagt er, der Krieg sei wie eine Krankheit, der Friede der Gesundheit vergleichbar, denn dieser heile auch die Kranken, jener bringe auch den Gesunden den Tod. Und im Frieden würden die Alten von den Jungen begraben, wie es naturgemäß sei, im Krieg umgekehrt. Vor allem aber, im Krieg gebe es Sicherheit nicht einmal bis zum Ring der Mauern, im Frieden bis zu den Grenzen des Landes, und anderes dergleichen mehr. Ich möchte wirklich wissen, was ein Knabe, der eben in die Schule eingetreten ist, fleißig seine Fibeln studiert hat und nun eine Mahnrede anfertigen will, passend zu dem Charakter der Person, der sie in den Mund gelegt wird, sonst für Worte und Gedanken vorbringen sollte. Mir scheint, [keine anderen], sondern eben die, die Timaios den Hermokrates äußern läßt.

Polybios XII, 25k–26. (Übers. Hans Drexler)

Dieselbe Friedensrede des Hermokrates hat auch Thukydides, freilich in ganz anderer Gestalt. Hier werden die Argumente für den Friedensschluss nicht wie bei Timaios in dem Gemeinplatz, dass das Kriegführen χαλεπόν τι sei, gesucht, sondern darin, dass Athen eine Gefahr für alle Sizilianer darstelle, der nur in Einigkeit und durch Überwindung der Bindung an die verschiedenen Mutterstämme begegnet werden könne.
[59] Nicht daß meine Stadt [Syrakus] gar so schwach wäre, Sizilier, nicht daß sie unter dem Krieg besonders litte; sondern für uns alle will ich in meiner Rede zeigen, was mir der beste Gedanke scheint für Sizilien als Ganzes. Zwar darüber, daß jeder Krieg eine Last ist, was hilft’s, alles, was darin liegt, auszusprechen und Reden zu dehnen vor Erfahrenen? Niemand wird ja durch Unkenntnis ihn zu führen gezwungen, niemand durch Furcht, wenn er sich dabei Vorteil verspricht, abgehalten. Sondern so ist es: diesen dünkt der Gewinn größer als das Schrecknis, jener entschließt sich, lieber die Gefahren zu wagen, statt einen Verlust so einfach hinzunehmen. Aber eben dies können die beiden auch einmal zur Unzeit tun, und dann sind Friedensmahnungen von Nutzen.
Das könnte auch uns, wie die Dinge liegen, einzusehen höchst wertvoll werden. Denn jeder auf seinen eignen Vorteil bedacht, haben wir zuerst Krieg begonnen, suchen wir jetzt durch Wechselreden miteinander eine Verständigung und werden wir, wenn es vielleicht nicht gelingt und nicht jeder seinen gerechten Teil mit heimnimmt, abermals Krieg führen.
[60] Und doch müßten wir erkennen, daß es in dieser Versammlung jedem von uns nicht um sich selbst allein, wenn wir einsichtig sind, gehn darf, sondern ob wir unser ganzes Sizilien vor dem drohenden Zugriff Athens, wie ich es sehe, noch werden retten können, und müßten als Friedensstifter in unsren Dingen, und von noch zwingenderer Kraft als meine Worte, Athen ansehn, das, die bedeutendste Macht in Hellas, mit ein paar Schiffen hier ist, unsre Fehler zu belauern und unter dem künstlichen Namen Bündnis seine natürlichen Feinde mit schönem Schein zu seinen Helfern macht. Denn wenn wir Krieg beginnen und die Athener ins Land bitten, ein Volk, das auch von selbst und ungeladen gern zu Felde zieht, wenn wir uns selbst und auf eigne Kosten schädigen und, damit ihrer Herrschaft den Weg bahnen, so müssen sie uns nur recht abgemattet sehn, und sie kommen einmal mit stärkerer Flotte und versuchen, unser ganzes Land unter sich zu bringen. ...
[64] ... Es ist ja keine Schande, wenn Freunde sich ihren Freunden fügen, ein Dorier einem Dorier, ein Chalkidier den Verwandten, die wir insgesamt Nachbarn sind, Mitbewohner desselben meerumströmten Landes, und mit dem gleichen Namen Sizilier heißen, die wir uns vermutlich bekriegen werden, wenn der Fall eintritt, und uns auch wiederum einigen unter uns selbst in gemeinsamen Besprechungen; die Fremdstämmigen aber wollen wir, wenn sie angreifen, immer vereint, so wir klug sind, zurückschlagen, so wahr wir, einzeln geschwächt, gemeinsam in Gefahr sind, und als Verbündete sie künftig nie wieder ins Land rufen, auch nicht als Vermittler. So müssen wir tun, damit wir für den Augenblick unser Sizilien nicht doppelten Glückes berauben, die Athener loszuwerden und innern Krieg, und in Zukunft es für uns selbst bewohnen als ein freies Land, von fremder Begehrlichkeit unangefochten.

Thukydides IV, 59–64 (Übers. Georg Peter Landmann)
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 11:14 Uhr (Zitieren)
Wenn ich Polybios recht verstehe, formuliert er keine explizite Forderung, der Historiker müsse sich eine schöne Rede ausdenken, ganz unabhängig davon, was der Redner wirklich gesagt habe:
Abgesehen aber auch von dem Hauptfehler, daß er die längste Zeit über Dinge reden läßt, über die es nicht lohnt, ein Wort zu verlieren, legt er Hermokrates auch Sätze in den Mund, die er unmöglich hätte sprechen können [...]

Vielmehr soll der Historiker die Rede so wiedergeben, daß sie zum Redner paßt - anscheinend unabhängig davon, wie der Wortlaut dieser Rede überliefert ist.
Kann das nicht auch eine Skepsis gegenüber der Überlieferung ausdrücken? "Was da steht, das kann Hermokrates unmöglich gesagt haben."
In der Praxis wird das darauf hinauslaufen, daß eine Rede so formuliert wird, wie sie einem Bild entspricht, das wir von dem Redner haben.
Das entspricht gewiß nicht dem Standard, von dem die neuzeitliche professionelle Geschichtsschreibung ausgeht, ist aber auch nicht dasselbe wie ein Bekenntnis zur freien Phantasie.
Ich vermute, daß es hier um ein anderes Verständnis von Wirklichkeit geht.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 15:56 Uhr (Zitieren)
Die Unmöglichkeit der von Timaios dem Hermokrates in den Mund gelegten Sätze in der zitierten Stelle, bezieht sich m. E. nicht auf ein überliefertes Charakterbild des Hermokrates, sondern auf die im folgenden Satz ausgeführte Tatsache, dass Hermokrates ein kriegserfahrener Mann war und die Rede eines Pazifisten aus seinem Mund wenig Glaubwürdigkeit besessen hätte.

Es fällt auf, dass Timaios ausschließlich für das niedrige Niveau im Aufbau seiner Argumentation kritisiert wird, dass die inhaltliche Diskrepanz zur Rede wie Thukydides sie "überliefert" jedoch mit keinem Wort erwähnt wird.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 16:22 Uhr (Zitieren)
sondern auf die im folgenden Satz ausgeführte Tatsache, dass Hermokrates ein kriegserfahrener Mann war und die Rede eines Pazifisten aus seinem Mund wenig Glaubwürdigkeit besessen hätte.

Sowas meinte ich wohl mit 'überliefertes Charakterbild'.

Die mangelnde Bereitschaft, ein solches in eine Rede gekleidetes Vor-Urteil mit den Vorstellungen anderer Historiker zu vergleichen, ist hier auffällig, ist aber kein grundsätzliches Element antiker Geschichtsschreibung, oder? Da werden ja öfters andere Autoren erwähnt bzw. deren Aussagen übernommen.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
ανδρέας schrieb am 16.07.2012 um 19:58 Uhr (Zitieren)

Bleibt Geschichte nicht immer etwas unscharf? Niemand war selber dabei, meist kann man auch die Autoren der Quellen nicht kennen und muss erschließen, mit welcher Intention und mit welchen Quellen der Überlieferer selbst gearbeitet hat. Einiges muss offen bleiben und das macht es auch so spannend. Da braucht es wirklich Phantasie, aber auck eine gesunde Portion wissenschaftliche Skepsis.
Die Wahrheit hat viele Aspekte.
 
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