Ein guter Historiker muss Phantasie haben (808 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 15.07.2012 um 11:38 Uhr (Zitieren)
Es ist bekannt, dass den Reden, die von den antiken Historikern überliefert werden, kein dokumentarischer Wert zukommt. Wie anders ihre Einstellung war im Verhältnis zu unserer, die möglichst große Nähe zum Original fordert, zeigt sich bei Polybios, wenn er den Historiker Timaios dafür kritisiert, wie schlecht er die Rede, die Hermokrates vor den versammelten Sizilianern während der Friedensverhandlungen 424 hielt, ausgedacht und konstruiert habe:
Polybios XII, 25k–26. (Übers. Hans Drexler)
Dieselbe Friedensrede des Hermokrates hat auch Thukydides, freilich in ganz anderer Gestalt. Hier werden die Argumente für den Friedensschluss nicht wie bei Timaios in dem Gemeinplatz, dass das Kriegführen χαλεπόν τι sei, gesucht, sondern darin, dass Athen eine Gefahr für alle Sizilianer darstelle, der nur in Einigkeit und durch Überwindung der Bindung an die verschiedenen Mutterstämme begegnet werden könne.
Thukydides IV, 59–64 (Übers. Georg Peter Landmann)
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 11:14 Uhr (Zitieren)
Wenn ich Polybios recht verstehe, formuliert er keine explizite Forderung, der Historiker müsse sich eine schöne Rede ausdenken, ganz unabhängig davon, was der Redner wirklich gesagt habe:
Vielmehr soll der Historiker die Rede so wiedergeben, daß sie zum Redner paßt - anscheinend unabhängig davon, wie der Wortlaut dieser Rede überliefert ist.
Kann das nicht auch eine Skepsis gegenüber der Überlieferung ausdrücken? "Was da steht, das kann Hermokrates unmöglich gesagt haben."
In der Praxis wird das darauf hinauslaufen, daß eine Rede so formuliert wird, wie sie einem Bild entspricht, das wir von dem Redner haben.
Das entspricht gewiß nicht dem Standard, von dem die neuzeitliche professionelle Geschichtsschreibung ausgeht, ist aber auch nicht dasselbe wie ein Bekenntnis zur freien Phantasie.
Ich vermute, daß es hier um ein anderes Verständnis von Wirklichkeit geht.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 15:56 Uhr (Zitieren)
Die Unmöglichkeit der von Timaios dem Hermokrates in den Mund gelegten Sätze in der zitierten Stelle, bezieht sich m. E. nicht auf ein überliefertes Charakterbild des Hermokrates, sondern auf die im folgenden Satz ausgeführte Tatsache, dass Hermokrates ein kriegserfahrener Mann war und die Rede eines Pazifisten aus seinem Mund wenig Glaubwürdigkeit besessen hätte.
Es fällt auf, dass Timaios ausschließlich für das niedrige Niveau im Aufbau seiner Argumentation kritisiert wird, dass die inhaltliche Diskrepanz zur Rede wie Thukydides sie "überliefert" jedoch mit keinem Wort erwähnt wird.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 16:22 Uhr (Zitieren)
Sowas meinte ich wohl mit 'überliefertes Charakterbild'.
Die mangelnde Bereitschaft, ein solches in eine Rede gekleidetes Vor-Urteil mit den Vorstellungen anderer Historiker zu vergleichen, ist hier auffällig, ist aber kein grundsätzliches Element antiker Geschichtsschreibung, oder? Da werden ja öfters andere Autoren erwähnt bzw. deren Aussagen übernommen.
Re: Ein guter Historiker muss Phantasie haben
ανδρέας schrieb am 16.07.2012 um 19:58 Uhr (Zitieren)
Bleibt Geschichte nicht immer etwas unscharf? Niemand war selber dabei, meist kann man auch die Autoren der Quellen nicht kennen und muss erschließen, mit welcher Intention und mit welchen Quellen der Überlieferer selbst gearbeitet hat. Einiges muss offen bleiben und das macht es auch so spannend. Da braucht es wirklich Phantasie, aber auck eine gesunde Portion wissenschaftliche Skepsis.
Die Wahrheit hat viele Aspekte.