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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Die Wirklichkeit des Historikers (601 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 11:23 Uhr (Zitieren)
Was ist damit gemeint, wenn ein Historiker behauptet, daß ein Ereignis sich wirklich so zugetragen habe?

Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts (Rankes Postulat!) meint wohl: daß es so in den Quellen überliefert ist ... und - da die Quellen oft Widersprüchliches überliefern - wie es eine kritische Analyse dieser Quellen auf ihre interne und externe Plausibilität ergibt.

Das scheint mir nicht mehr der aktuelle Stand der Geschichtsschreibung zu sein, die heute den Ideologieverdacht auch gegenüber dem Historiker selbst verinnerlicht hat.
Dieser Ideologie (d.h. die leitenden Einstellungen des Historikers bei seiner Arbeit) stand die antike Geschichtsschreibung naiv (unreflektiert) gegenüber, während die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts glaubte, sie durch Fakten umgehen zu können.
Die Geschichtsschreibung verfügt aber nicht über Fakten wie ein Naturwissenschaftler, dem das Experiment zur Verfügung steht. Und selbst Naturwissenschaftlern dürfte es nicht gelingen, sich von Vor-Urteilen freizuhalten.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 16:10 Uhr (Zitieren)
Wohl wahr. Das Problem ist wohl, dass die im Geschichtswerk zusammengeführten Fakten stets eine Auswahl darstellen. Sei es dass diese die lückenhafte Überlieferung getroffen hat, sei es dass der Materialreichtum eine Auswahl durch den Historiker notwendig macht, sei es dass dem Blick durch "Vor-Urteile" verengten Blick manches entgeht.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
arbiter schrieb am 16.07.2012 um 19:45 Uhr (Zitieren)
Es gibt keine historischen Fakten, die per se solche sind - die Geschichte ist erzählte Vergangenheit, die ja vergangen, also nicht vorhanden ist, sondern in ihrer prätendierten Faktizität erst vom Historiker geschaffen wird (sehen wir mal von Spezialfällen wie oral history oder selbst Erlebten/Erinnertem ab, die letztlich aber auch unter der Definition zu subsumieren wären); erst dieser erhebt verleiht einem vergangenen Ereignis den Rang eines historischen Faktums, wobei naturgemäß seine Beurteilungsmaßstäbe ausschlaggebend sind. Will er ernstgenommen werden, müssen diese allerdings plausibel und konsensfähig sein
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
arbiter schrieb am 16.07.2012 um 19:46 Uhr (Zitieren)
erhebterhebt
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 16.07.2012 um 20:28 Uhr (Zitieren)
Es gibt keine historischen Fakten, die per se solche sind


Die _Faktizität_ eines Sterbedatums, einer Schenkungsurkunde, eines Friedensvertrags, eines Werkes (e.g. 'de revolutione orbium coelestium') wäre nur prätendiert, erst vom Historiker zu schaffen?

Das hieße, bei aller Berechtigung und Notwendigkeit der kritischen Würdigung der interpretierenden Rolle des Historikers bei Auswahl, Zusammenstellung und Bewertung vergangener Ereignisse kurz: der Schaffung eines historischen Zusammenhangs, aber doch das Kind mit dem Bade ausschütten.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 13:17 Uhr (Zitieren)
Die Urkunden, auf die Historiker rekurrieren, sind in Sprache verfaßt, und Sprache beinhaltet per se ein Deutungsproblem - beginnend bei der Definition zentraler Begriffe.
Wann hat eine Revolution, wann ein Krieg begonnen? Wann tritt der Tod ein? Was genau bedeuten die in der Urkunde verwendeten Begriffe im Rahmen unseres heutigen Denkens? All dies impliziert zwangsläufig Definitionen und Deutungen.

Eher im Bereich 'harter' (deutungsunabhängiger) Fakten liegen m.E. nichtsprachliche Funde. So habe ich jetzt z.B. gelesen, daß im 2. vorchristlichen Jahrhundert in Campanien ein Typ vollkommen standardisierter Keramik auftaucht, hergestellt in Manufakturen. Soweit gut. Dann begann der Autor aber mit seiner Deutung: über die Arbeitsbedingungen der dort beschäftigten Handwerker, teils Sklaven, teils freie Arbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen produzieren mußten. Dies habe die Produzenten zu Maschinen gemacht etc. pp.
Will sagen: Selbst die nichtsprachlichen Funde (Artefakte o.ä.)werden dann doch gedeutet.

Das factum brutum an sich hat keine Bedeutung.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 17.07.2012 um 19:06 Uhr (Zitieren)
Die Ermordung Kennedys, die Atombombe auf Hiroshima, die Kapitulation General Paulus' (Beispiele erweiterbar): facta bruta ohne Bedeutung? Ihre Faktizität prätendiert?

I beg to differ.

Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 19:41 Uhr (Zitieren)
Es hilft, sich verschiedene Geschichtsbücher, insbes. solche mit unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung, auf ein bestimmtes historisches Ereignis hin anzuschauen. Man sollte meinen, daß ihnen bestimmte Fakten doch gemeinsam sein müßten. Interessanterweise ist das öfters nicht der Fall.

Mein persönliches Saulus-Erlebnis in dieser Hinsicht war die 'Berlin-Blockade' 1948/49, in einem DDR-Geschichtsbuch nachgelesen. Es gab gar keine Blockade! Die Grenzen Westberlins waren nach Ostberlin und zur SBZ hin offen, die Wege zu den westlichen Besatzungszonen wurden lediglich 'verschärft kontrolliert' (mit Wiedergabe der entsprechenden Erlasse), die SMAD hatte die Versorgung Westberlins mit Lebensmitteln garantiert usw. Die ganze Luftbrücke (ein Faktum immerhin?) war eine auf die Weltöffentlichkeit berechnete Propagandaaktion usw.
Ich war bei der Lektüre zunächst völlig außerstande, zwischen wahr/faktisch und falsch/fiktional zu unterscheiden. Nach und nach konnte ich mir meine persönliche Meinung bilden; doch bis heute bin ich der Ansicht, daß es hierbei nicht, wie durch den Begriff 'Blockade' suggeriert wird, um eine Abschließung Westberlins nach allen Seiten hin ging.

Darüber kann man nun diskutieren ... aber damit hat man den Bereich zweifelsfreier Faktizität verlassen.

Die Ermordung Kennedys - gibt es irgendein Ereignisse der Zeitgeschichte, das umstrittener ist? Du wirst nun sagen: Aber das Faktum der Kennedy tötenden Schüsse ...
Ach, wenn es dazu nicht irgendeine Verschwörungs- und Doppelgängertheorie gibt.

Vielleicht gibt es einen kleinen Bereich völlig unumstrittener Fakten, vielleicht einen etwas größeren von nicht seriös zu bestreitenden Fakten, jedenfalls solange wir uns nicht in den Bereich philosophischer Traum-Argumente und SF-Einfälle begeben; aber sehr groß ist er nicht.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 19:43 Uhr (Zitieren)
Übrigens habe ich aus der Logik gelernt, daß die Wahrheit einer Aussage nicht aus einer Tatsache folgt, sondern nur aus einer anderen Aussage. Folgerung ist eine Beziehung zwischen Sätzen, nicht zwischen Tatsachen und Sätzen - ähnlich wie eine Übersetzung.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 19:56 Uhr (Zitieren)
Jetzt hast Du mir aber ein paar Flöhe ins Ohr gesetzt mit Deinen Beispielen!
Die Kapitulation des Generals Paulus in Stalingrad? Des Generalobersten Paulus? Des Generalfeldmarschalls Paulus? Für den Nordkessel? Für den Südkessel? Rechtsgültig gegen den ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten?
Und das schreibt Wikipedia s.v. Stalingrad dazu:
Die meisten verbliebenen Soldaten stellten Ende Januar/Anfang Februar 1943 die Kampfhandlungen ein und gingen in Gefangenschaft, ohne dass es jedoch eine offizielle Kapitulation gab.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
ανδρέας schrieb am 17.07.2012 um 20:20 Uhr (Zitieren)

Paulus war zum Feldmarschall befördert worden, weil er sich umbringen oder bis zur letzten Patrone kämpfen sollte, denn noch nie war ein dt. FM vor ihm in Gefangenschaft gegangen . Im Februar 43 gab es keine Munition, keine Verpflegung und keine Kraft mehr. Da braucht man keine Kapitulationserklärung. Von den über 100.000 Soldatenkehrten kaum 6.000 wieder lebend nach Dtschld. zurück. Eine Tragödie und völlig sinnlos.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 20:32 Uhr (Zitieren)
Bezieht sich Dein Beitrag auf das Thema, ob es eindeutige, unbezweifelbare historische Fakten gibt? Also Fakten jenseits experimenteller Überprüfbarkeit?
Meinst Du, daß es sich bei Deinen Ausführungen um solche Fakten handle?
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
ανδρέας schrieb am 17.07.2012 um 21:15 Uhr (Zitieren)

Dieses Ereignis liegt ja nicht weit zurück. Es gibt viele Quellen, die verknüpft werden können. Je weniger davon zu finden sind, desto spekulativer ist die Interpretation. Auch ohne Kapitulationsurkunde weiß man, wann und wie die Schlacht endete. Geschichte ist auch Zufall! Was wäre gewesen, wenn Zar Peter III. nicht den 7-jährigen Krieg beendet hätte, weil er den Alten Fritz so bewunderte? Preußen wäre wohl untergegangen. Wäre das vor 3000 Jahren passiert und man hätte wenige Quellen, könnte man eine Vielzahl von Vermutungen anstellen und wüßte doch nichts. Es hängt viel von der Qualität der Quellen ab und die Qualität der Historiker besteht darin, diese zu finden und sachlich zu verknüpfen, denke ich.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
arbiter schrieb am 17.07.2012 um 21:33 Uhr (Zitieren)
ich wollte natürlich nicht bestreiten, dass wir gesicherte Kenntnis von Ereignissen haben, die in der Vergangenheit stattgefunden haben.
Aber diese Fakten gibt es nicht, sie sind nicht per se da und vorhanden.
Ein historisches Faktum wird erst und nur von den Historikern geschaffen (genauso wie es Götter nur "gibt", weil manche davon erzählen - mit dem Unterschied, dass es für historische Fakten Anhaltspunkte gibt). Ein rostiges Stück Eisen in einem Acker bei Kalkriese ist stumm, erst dann ein historisches Faktum, wenn ein Historiker daraus (eine) Geschichte macht.
Die Frage der Deutung, der Fehlinterpretation, der Fälschung etc. ist hier noch gar nicht berührt.
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
arbiter schrieb am 17.07.2012 um 21:35 Uhr (Zitieren)
der britische Historiker Carr meint, wer an den Zufall glaube, sei nur zu faul, nach den Ursachen zu suchen
Re: Die Wirklichkeit des Historikers
ανδρέας schrieb am 17.07.2012 um 21:49 Uhr (Zitieren)

Kunsthistoriker wissen bis heute nicht, wer Mona Lisa war und daher auch nicht, warum da Vinci sie gemalt hat. Sie kennen den Maler, die Zeit und die Maltechnik. Es bleibt spannend. manches werden wir nie wissen. Ich finde auch, dass Geschichte erst durch die Interpretation der Fakten entsteht, also die Verknüfung mit anderen Informationen. Man irrt der Wahrheit entgegen. Lange glaubte man Marco Polo sei in China gewesen. Heute bezweifelt man es. Die Chinesische Mauer hat er nie erwähnt. Das gibt zu denken. Ein Puzzlespiel mit weißen Flecken ist die Historie.
 
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