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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Was ist mein Ich? (570 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 17:05 Uhr (Zitieren)
Die Abneigung, sich (sein Ich) mit dem Körper, spez. dem Gehirn zu identifizieren, ist weit verbreitet - auch bei mir.

Aber was macht mein Ich aus, wenn es nicht (mein) Gehirn ist?

G.E.M. Anscombe ("Die erste Person", 1974) hat einen bemerkenswerten Aufsatz dazu geschrieben, in dem sie zu folgenden Ergebnissen kommt:
1. Descartes' unbezweifelbar gewisses Ich kann nicht René Descartes (oder welche Person auch immer) sein, weil "Ich bin René Descartes" keine unbezweifelbare, logische Wahrheit, sondern ein empirischer Satz ist, der u.U. (Kindsvertauschung o.ä.) falsch sein kann.
2. "Ich" fungiert sprachlich ähnlich wie ein Eigenname, kann aber keiner sein, weil wir dann ja alle den selben Eigennamen hätte. Letztlich, so Frau Anscombe, gehört "ich" nicht zu den designierenden Termen, d.h. zu denen, die auf einen Gegenstand verweisen.
3. Im Sprachgebrauch identifizieren wir jemanden, der "ich" sagt ("Wer ist da?" - "Ich!"), durch seinen Körper - nicht anders.

Für Leute, die in ihrem Bestreben, das Ich nicht mit dem Körper zu identifizieren, 3. bezweifeln, habe ich mir einmal die folgende Geschichte ausgedacht:
Frau Hartmann hatte eine Oma, die sie während ihrer Kindheit betreut hat, da ihre Eltern beide berufstätig waren. Frau Hartmann liebte ihre Oma, und die Oma liebte sie. Durch die Unachtsamkeit der Oma ist es allerdings einmal zu einer sehr kritischen Situation in Frau Hartmanns Kindheit gekommen: Weil die Oma einen Augenblick lang unaufmerksam war, ist das kleine Mädchen auf die Straße gelaufen und wäre um ein Haar von einem Auto überfahren worden. Das war für die Oma eine so schreckliche Erfahrung und sie hatte ein so starkes Schuldgefühl, daß sie ihrer Enkelin gesagt hat: „Es tut mir so leid, mein Kind. Und es soll auch nicht mehr vorkommen. Bitte laß uns deinen Eltern nichts davon sagen. Sie würden sich Sorgen machen, und ich müßte mich noch mehr schämen. Am besten erzählen wir überhaupt niemandem etwas davon.“ Das Kind war damit einverstanden, und so hat nie jemand etwas von diesem Ereignis erfahren – außer Frau Hartmann und ihrer Oma.
Die Oma ist inzwischen gestorben, und Frau Hartmann hat sie in guter, liebevoller Erinnerung behalten.

Eines Tages begibt sich ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit esoterischen Neigungen in eine Reinkarnationstherapie. Der Therapeut führt den jungen Mann in ‚seine früheren Existenzen’ zurück und enthüllt ihm so, daß er eine Reinkarnation von Frau Hartmanns Oma ist. Das erscheint dem jungen Mann so bemerkenswert, daß er zu Frau Hartmann, die mit ihm Philosophie studiert, geht und ihr sagt: „Du, das klingt jetzt vielleicht ein bißchen komisch, aber ich bin deine Oma.“
Natürlich glaubt ihm Frau Hartmann kein Wort und erwidert ihm: „Hör’ mal, Typ, das ist ja wohl die blödeste Anmache, von der ich jemals gehört habe. Troll’ dich!“ Aber dann fügt der junge Mann hinzu: „Und daß ich damals so unaufmerksam war, so daß du beinahe von einem Auto überfahren worden wärest, dafür schäme ich mich noch heute.“
Da ist Frau Hartmann nun völlig verblüfft. Kann sie ihre Oma in diesem Mann, der ja einen völlig anderen Körper hat als ihre Oma, durch sein Wissen identifizieren?

Sind wir unter bestimmten Umständen tatsächlich bereit, jemanden anders als durch seinen Körper zu identifizieren?
Re: Was ist mein Ich?
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 17:09 Uhr (Zitieren)
Im Grunde, so fällt mir gerade auf, verfahren wir in diesem Forum ähnlich: Wir identifizieren einander (1) durch Namen, vor allem aber (2) durch Wissen, Stil etc. - nicht durch einen Körper.
Das macht die Kommunikation hier wohl so ... eigenartig.
Re: Was ist mein Ich?
ανδρέας schrieb am 16.07.2012 um 18:15 Uhr (Zitieren)

Nun ist die o.a. Geschichte aber rein hypothetisch und ohne jede Beweiskraft. Das "ich" wird aber gerade nicht als hypothetisch angenommen, sondern als Faktum, als einmalige und unterscheidbare Existenz. Eine Ehefrau dürfte es z.B. erkennen, wenn ihr Ehemann sich heimlich 1 Woche "Urlaub" nimmt und den eineiigen Zwillingsbruder die Lücke ausfüllen lässt. Es stimmt schon: Wissen, Stil, Charakter und andere Eigenheiten werden sie ihr aufzeigen, dass der identische Körper zwar die Hülle, aber nicht den geistigen Inhalt ihres Gatten birgt (vielleicht gefällt ihr der Bruder sogar besser - und sie behält ihn ...).
"Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar weg ist." (Mark Twain)
Vielleicht ist das "Ich" ja das, was übrig bleibt, wenn man die Maske (lat. Persona) wegnimmt.





Re: Was ist mein Ich?
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 18:26 Uhr (Zitieren)
Eine Ehefrau dürfte es z.B. erkennen, wenn ihr Ehemann sich heimlich 1 Woche "Urlaub" nimmt und den eineiigen Zwillingsbruder die Lücke ausfüllen lässt.

Das ist eines der Motive in dem Spielfilm Prestige.
Re: Was ist mein Ich?
Γραικίσκος schrieb am 16.07.2012 um 19:27 Uhr (Zitieren)
Das
Nun ist die o.a. Geschichte aber rein hypothetisch und ohne jede Beweiskraft.

ist ein verbreiteter Irrtum über Gedankenexperimente (die in den letzten Jahrzehnten in der Philosophie einen großen Aufschwung genommen haben).

Ein Gedankenexperiment testet die (widerspruchsfreie) Denkmöglichkeit von etwas Behauptetem. Gelingt es, dann ist damit bewiesen (!), daß das kontradiktorische Gegenteil dieser Behauptung (man erinnert sich: von zwei kontradiktorischen Aussagen muß die eine wahr, die andere falsch sein) nicht notwendig wahr sein kann.

Auf den vorliegenden Fall angewandt: Wenn es denkmöglich ist, einen Menschen unabhängig von seinem Körper, nur durch seinen Geist zu identifizieren, dann kann das Gegenteil (ein Mensch kann nur durch seinen Körper identifiziert werden) zwar kontingent, aber nicht notwendigerweise wahr sein - denn sein Gegenteil impliziert keinen Widerspruch, sondern ist möglich.

Insofern sind Gedankenexperimente echte wissenschaftliche Experimente. Nur daß sie keine Faktizität nachweisen, sondern eine Möglichkeit.

Es wäre, so scheint mir, schon viel gewonnen, wenn man auf diese Weise zeigen könnte, daß eine Alternative zum gängigen Gehirn-Materialismus logisch einwandfrei denkbar ist.

Im jetzigen Fall - das ist aber nur ein Einfall von mir - kann man sogar sagen, daß wir einander hier in der Tat über den Geist und nicht über den Körper identifizieren. Das wäre dann mehr als eine Denkbarkeit - es wäre ein Faktum.

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Ich gebe zu, daß es ein bißchen seltsam klingt, eine Möglichkeit nachzuweisen. Aber da manche Menschen eben behaupten, etwas sei nicht nur falsch, sondern könne unmöglich wahr sein, ist es so seltsam auch wieder nicht.
Re: Was ist mein Ich?
ανδρέας schrieb am 16.07.2012 um 19:52 Uhr (Zitieren)
Ich mag Gedankenexperimente. Nur hängt das Ergebnis ja immer von den Bedingungen ab, die man annimmt. Die Möglichkeit ist ja kein Beweis für ein Faktum. Eine Hypothese eben.
Im Grunde ist eine Religion auch ein Gedankenexperiment - das allerdings nicht verifizierbar ist. Nach dem Prinzip vom unzureichenden Grund kann ich auch annehmen, dass irgendwo in Alpha Centauri Zentauren wohnen.
Mal ein modernes Beispiel: ein Paar, das über einen Kontinent getrennt ist, würde auch merken, wenn sich ein Dritter einmischt und unter falscher Identität "mitmacht". Der geistige Austausch reicht also aus, jemanden zu identifizieren. Die physischen Sinne sind da alle ausgeblendet. Da kommt sozusagen nur das "Ich" rüber. Insofern muss man den Code kennen, hinter dem der andere steckt. Dann wäre das "Ich" das, was eindeutig einem Zugangs-Code zugeordnet werden kann. Ein paar Dateien dürften allerdings so versteckt sein, dass selbst das "Ich" sie nicht kennt ...
Re: Was ist mein Ich?
filix schrieb am 16.07.2012 um 21:09 Uhr (Zitieren)
Das Experiment endet mit einer Frage nach der Möglichkeit unter den entworfenen Bedingungen und hat so betrachtet weder ein Ergebnis noch denkt es diese Identifizierung zu Ende.

Auch scheint mir der vorausgehende Satz "Ich bin deine Oma", der ja offensichtlich die Annahme von Erinnerungen aus einem andere Leben als Teil der gegenwärtigen Identität und/oder die Identifizierung mit einem anderen Körper impliziert, der rätselhaftere: wer identifiziert sich dabei eigentlich mit wem: Oma Hartmann mit ihrem neuen Körper? Der namenlose junge Mann mit Oma Hartmann? Ein davon unterschiedener Ich-Sagender mit beiden und einem davon unterschiedenen Körper?

Dessen ungeachtet frappiert, dass sich allenthalben erotische Vertauschungs- und Verdopplungsphantasien einschleichen; schon Graeculus' Vorgabe legt die Identifikation in erster Reaktion als 'Anmache' aus, die Zwillingsbrüder landen in den Leben und Betten der Ehefrauen, der Fremde taucht als Dritter in der Fernbeziehung auf. Die Antwort auf die Gretchenfrage: "Würden sie im Zweifelsfall lieber mit ihrem Partner in einem anderen Körper oder mit einer anderen Person im Körper ihres Partners ins Bett gehen?" behält man wohl in jedem Fall besser für sich.

Es wäre vielleicht durchaus amüsant, hier einen Maskenball (neben dem Doppelgänger sicher eine der großen literarischen Phantasien zu diesem Thema) zu veranstalten, d.h. ein Experiment zu starten, bei welchem man versucht in einem eigens abgestellten Thread andere zu geben und unter falschem Nickname aus dem auf Basis der hier abrufbaren Proben vermuteten Geist, Wesen und Stil geschöpfte Beiträge zu verfassen - bis zu Mitternacht die Masken fallen, ohne dass allerdings in
diesem Fall Körper die Wahrheit besiegelten.
Re: Was ist mein Ich?
filix schrieb am 16.07.2012 um 21:10 Uhr (Zitieren)
anderen
Re: Was ist mein Ich?
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 21:22 Uhr (Zitieren)
Es ist schon so amüsant genug. Aber dein Vorschlag sät Misstrauen. Bist du's wirklich, filix?
Re: Was ist mein Ich?
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 21:23 Uhr (Zitieren)
Sehr witzig, filix.
Re: Was ist mein Ich?
ανδρέας schrieb am 16.07.2012 um 21:49 Uhr (Zitieren)

Da sind wir wenigstens wieder bei Griechisch: Schizophrenie, klarer Fall.
Hatte ich auch mal. Aber jetzt sind wir geheilt!
Re: Was ist mein Ich?
filix schrieb am 16.07.2012 um 21:50 Uhr (Zitieren)
zu 21:23) Ich dachte eher an längere Beiträge, die mehr Chance auf Verrat bergen.
zu 21:22) sagen wir so, in diesem Fall ich will es hinterher gewesen sein.
Re: Was ist mein Ich?
Φιλομαθής schrieb am 16.07.2012 um 21:51 Uhr (Zitieren)
Stell dir vor, du willst deinen Arm heben, und der Mensch neben dir tut es!
Re: Was ist mein Ich?
filix schrieb am 16.07.2012 um 22:08 Uhr (Zitieren)
Ich kann aus eigener Erfahrung anbieten: "Ich bin schon wach, aber mein Körper schläft noch und ignoriert jeden Versuch, sich mit ihm zu identifzieren." (schrecklich) und "Ich sitze, die Arme gesenkt, eigentlich schwebe ich aber im Raum und spüre jeden Schlag meiner Schwingen." (wundervoll).
Re: Was ist mein Ich?
Γραικίσκος schrieb am 17.07.2012 um 12:10 Uhr (Zitieren)
Einen Versuch in Stilfälschung habe ich hier schon einmal unternommen:
http://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=1819#4

Es hat zumindest in diesem Falle funktioniert; die Auflösung sowie die Diskussion der Frage, ob man jemanden an seinem Stil identifizieren könne, falls er sich um Fälschung bemüht, haben dann an anderer Stelle in der Nachbarschaft dieses Threads stattgefunden.
 
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