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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei? (651 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 24.07.2012 um 15:30 Uhr (Zitieren)
Epiktet: Diatriben 4, 1
[...] Jeder Sklave hat sofort den Wunsch, freigelassen zu werden. Warum? Glaubt ihr, daß er das will, weil er den Steuerpächtern die Fünf-Prozent-Steuer bezahlen möchte? Sicher nicht, sondern weil er sich einbildet, daß er solange behindert ist und im Unglück steckt, bis er seine Freiheit bekommen hat. „Wenn ich freikomme“, sagt er, „dann bedeutet dies mein Glück, dann brauche ich mich um niemanden zu kümmern, spreche ich mit allen auf derselben Ebene, reise, wohin ich will, gehe fort, von wo ich will und wohin ich will.“ Wenn er dann wirklich freigelassen worden ist, dann passiert es ihm sofort, daß er nicht weiß, wo er essen soll, und jemanden sucht, an den er sich heranmachen und bei dem er seine Mahlzeit einnehmen kann. Dann erwirbt er seinen Lebensunterhalt durch Prostitution und läßt die schlimmsten Dinge über sich ergehen, und wenn er irgendeine Futterkrippe ergattert, gerät er in eine noch viele elendere Knechtschaft als vorher. Oder er findet wirklich eine befriedigende Existenz, da verliebt er sich in seiner Dummheit in ein junges Mädchen, wird aber abgewiesen, und nun jammert er und sehnt sich nach seinem früheren Sklavendasein zurück. „Was fehlte mir denn? Ein anderer kleidete mich, ein anderer sorgte für meine Schuhe, ein anderer ernährte mich, ein anderer sorgte für mich, und ich brauchte nur wenig für ihn zu tun. Und jetzt? Welch elendes Leben habe ich Unglücksmensch. Für einen Herrn habe ich mehrere eingetauscht. Doch wenn ich erst einmal die goldenen Ringe [sc. des Ritterstandes] bekommen habe, dann werde ich das schönste und glücklichste Leben haben.“ Damit er sie bekommt, muß er zuvor erdulden, was er verdient. Dann kriegt er sie, und es ist wieder dasselbe. Dann sagt er: „Wenn ich in den Krieg zöge, wäre ich von allem Elend erlöst.“ Er zieht in den Krieg; er nimmt alles auf sich, was ein Gefangener erleidet, und trotzdem verlangt er nach einem zweiten und dritten Feldzug . Wenn er dann den Gipfel erreicht hat und Senator geworden ist, dann wird er zum Sklaven, sobald er in den Senat geht, und nimmt die schönste und glänzendste Knechtschaft auf sich. [...]

[Quelle: Rainer Nickel (Hrsg.), Epiktet, Teles und Musonius – Wege zum Glück. Zürich/München 1987, S. 135 f.]
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Φιλομαθής schrieb am 24.07.2012 um 22:28 Uhr (Zitieren)
Jedenfalls kann man nicht behaupten, Epiktet hätte nicht gewusst, wovon er redet. Schließlich war er, Sohn einer Sklavin, selbst Sklave und wahrscheinlich als Knabe von seinem Herrn zum Krüppel geschlagen worden.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 25.07.2012 um 00:26 Uhr (Zitieren)
Vielleicht ist mir ja allgemeines Unvermögen zu bescheinigen, aber ich kann dem Text nichts entnehmen, was auf eine Verbrämung der (tatsächlichen) Sklaverei hinausliefe.

Epiktets Sicht ist (nach meinem Dafürhalten):
Auf welcher gesellschaftlichen Stufe jemand auch steht, er ist ein Gefangener seiner selbst, vor allem aber der Umstände, die ihn nicht frei agieren lassen. Es ändern sich lediglich die Beschränkungen, Lasten, aber auch die Belohnungen. In Epiktets Augen verhindern diese Umstände, ob beim Senator oder beim "echten" Sklaven, in gleicher Weise die innere wie die äußere Freiheit des Individuums (avant la lettre), die es nur dadurch (anfangen zu) gewinnen kann, daß ihm dieses Gefangensein bewußt wird.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Φιλομαθής schrieb am 25.07.2012 um 08:26 Uhr (Zitieren)
Immerhin enthält eine solche Darstellung, nach der das (äußere) Los des Menschen, ob Eques, ob Sklave, gleichermaßen elend ist, doch eine Relativierung des Schicksals der Sklaven und diente gewiss nicht der Beseitigung der damals herrschenden Verhältnisse.

Aus derselben Haltung heraus konnte Seneca die grundsätzliche Gleichheit von Sklaven und Freien einsehen und lehren (v. a. Ep. 47) und dennoch Sklavenhalter bleiben.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Γραικίσκος schrieb am 25.07.2012 um 08:36 Uhr (Zitieren)
Das
„Was fehlte mir denn? Ein anderer kleidete mich, ein anderer sorgte für meine Schuhe, ein anderer ernährte mich, ein anderer sorgte für mich, und ich brauchte nur wenig für ihn zu tun. [...]"

erscheint mir als vergoldete Sicht.
Ich habe nicht den Eindruck, daß es die Realität der meisten Sklaven beschreibt - damals nicht, heute nicht. Es paßt auch nicht recht zum einleitenden:
Jeder Sklave hat sofort den Wunsch, freigelassen zu werden.


Etwas anderes wäre es, wenn Epiktet sagen wollte: Wir sind immer unzufrieden mit dem, was wir haben, und wir vergolden immer das, was wir nicht haben.
Ja, das will er wohl sagen - und dann ist der Rückblick des Ex-Sklaven ein vergoldener, kein realistischer.
Re: Eine leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Γραικίσκος schrieb am 25.07.2012 um 08:36 Uhr (Zitieren)
ein vergoldender ...
Re: Eine leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Γραικίσκος schrieb am 25.07.2012 um 09:03 Uhr (Zitieren)
Mich hat an dieser Textpassage einmal nicht die bekannte stoische Philosophie interessiert, sondern ich wollte ihn gegen den Strich lesen, nämlich auf die Frage hin, was er über die historische Institution der Sklaverei aussagt. Und da meine ich, daß Epiktet sie verharmlosend darstellt - entweder um gemäß seiner stoischen Intention die Unterschiede zum Senator zu nivellieren oder (s.o.) um auszudrücken, was Russen mit ihrem Sprichtwort meinen: "Gut ist es da, wo wir nicht sind".
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 25.07.2012 um 10:37 Uhr (Zitieren)
Φιλομαθής,
wer sagt denn, daß die Beseitigung der Sklaverei als (moralisches, gar politisches) Ziel überhaupt ins Auge gefaßt worden wäre? Wer das Epiktet, Seneca oder anderen ankreidet, mißt sie mit falscher Elle.
Und die verharmlosende, weil nur die Vorteile des Versorgtseins artikulierende Sichtweise der Sklaverei enthält nach meinem Verständnis genug Hinweise, die Passage als ironisch auffassen zu dürfen.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
filix schrieb am 25.07.2012 um 11:31 Uhr (Zitieren)
Marx hätte vermutlich der Darstellung der Freisetzung des Subjekts, das nur noch seine Arbeitskraft verkaufen kann und "jetzt viele Herren" hat, und der damit einhergehenden Transformation des psychischen Erwartungshorizonts, die ihn in dieser zwiespältigen Freiheit von einer Karriere träumen lässt, mit Abstrichen zugestimmt: ein antikes mehr oder minder Einzelschicksal, noch keine epochale Wende im Sinn der ursprünglichen Akkumulation.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
filix schrieb am 25.07.2012 um 11:34 Uhr (Zitieren)
die ihn es
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Γραικίσκος schrieb am 25.07.2012 um 12:54 Uhr (Zitieren)
Es fällt dem Geist offenbar leichter, eine Umkehrung der bestehenden Verhältnisse zu denken als eine ganz andersgeartete Struktur. Die Abschaffung der Sklaverei ist m.W. in der Antike überhaupt nicht faßbar - nicht einmal bei Spartacus. Auch wenn ein Autor berichtet, Spartacus habe bei seinen Anhängern auf Gütergleichheit Wert gelegt, so hat man doch gefangengenommene Römer als Gladiatoren gegeneinander kämpfen lassen.

(In meiner Studienzeit war das noch eine Kontroverse zwischen marxistischen und 'bürgerlichen' Historikern; doch das ist lange her.)
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Φιλομαθής schrieb am 25.07.2012 um 23:37 Uhr (Zitieren)
Der Widerspruch, der in der Einsicht, dass die Menschen gleich seien, und der Behandlung von Menschen als Besitz und beseeltes Werkzeug liegt, besitzt doch eine gewisse Evidenz. Tatsächlich ist es mir nicht möglich, eine gesellschaftliche Struktur zu denken, die diesen Widerspruch überdeckt.
Re: Ein leicht vergoldete Sicht auf die Sklaverei?
Γραικίσκος schrieb am 26.07.2012 um 12:20 Uhr (Zitieren)
Vielleicht hilft Kants zweite Formel für den kategorischen Imperativ?
Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.

Wir kommen nicht umhin, Menschen auch als Mittel zum Zweck zu behandeln ("Reich mir mal die Butter!"); es kommt darauf an, sie nie nur als Mittel zum Zweck zu behandeln.
 
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