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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Das Leben - ein Geschenk? (667 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:07 Uhr (Zitieren)
Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am Tage liegt, daß Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehn und prüfen dürfen, sich dafür bedankt haben würde; wie denn auch Lessing den Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durchaus nicht in die Welt hineingewollt hätte, mit der Geburtszange gewaltsam hineingezogen werden mußte, kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Dagegen wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von einem Ende zum andern, auch nur eine Lektion seyn; worauf Jeder antworten könnte: "So wollte ich denn eben deshalb, daß man mich in der Ruhe des allgenugsamen Nichts gelassen hätte, als wo ich weder Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte." Würde nun aber gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder Stunde seines Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre er vielmehr berechtigt, selbst erst Rechenschaft zu fordern darüber, daß man ihn, aus jener Ruhe weg, in eine so mißliche, dunkele, geängstete und peinliche Lage versetzt hat.

(Arthur Schopenhauer: W II, S. 665)

Ich muß alle Gegner Schopenhauers um Entschuldigung & Nachsicht bitten, daß ich schon wieder mit ihm und seinem Pessimismus daherkomme. Aber ich schreibe gerade im Rahmen unseres Optimismus-Pessimismus-Projektes über Schopenhauer, und da kommen mir solche Lesefrüchte immer wieder unter: gegen den Strich der herrschenden Meinung, aber stilistisch eindrucksvoll.

Ich muß gestehen, daß mich der Gedanke, wir seien berechtigt, von Gott Rechenschaft zu verlangen, als ich ihn in meiner christlich geprägten Jugend zuerst gelesen habe, mächtig beeindruckt hat. Und dieses Denken gegen den Strich habe ich wohl als mir gemäß erkannt - lange bevor ich Sprichwörter wie "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom" oder "Si omnes patres sic, at ego non sic" kennengelernt habe.

Ich versichere an Eides Statt, daß ich demnächst, sobald wir bei einem anderen Kapitel angelangt sind, auch eindrucksvolle Optimisten zitieren werde.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 17:23 Uhr (Zitieren)
Entschuldigung und Nachsicht "granted" ;-)

Ich sage dazu nur soviel:
Den Lessingschen herzzerreißenden Schmerz und seine sich mühsamst abgerungene Beherrschung (man fühlt förmlich das Zittern in diesen Worten) als Kronzeugen für das eigene Mißbehagen am Leben zu nehmen, ist eine Ungeheuerlichkeit, eine inhumane Monstrosität.
Daneben verblassen die beiden anderen Äußerungen zu Sottisen.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:26 Uhr (Zitieren)
Weißt Du (und kannst Du mir angeben), wo Lessings Äußerung bzw. Reaktion überliefert ist?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 17:31 Uhr (Zitieren)
Ich schaue gerne in meiner Lessing-Ausgabe nach, dauert ein bißchen.

Soviel ich aus der Erinnerung sagen kann, steht die Stelle in einem Brief.
Im übrigen hat Lessing zugleich auch seine über alles geliebte Frau Eva bei dieser Geburt verloren.
Die Stelle beginnt, wieder aus der Erinnerung: "Und ich hatte es auch einmal so gut haben wollen wie andere Menschen."

Wenn ich dann diese infame Schopenhauersche Selbstbespiegelung lese, packt mich die Wut ...
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:36 Uhr (Zitieren)
Das ist sehr freundlich von Dir; meine Lessing-Ausgabe enthält keine Briefe.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 18:17 Uhr (Zitieren)
Während Du Lessing nachspürst, habe ich einmal Thomas Mann nachgeschlagen, wg. Deines Vorwurfs der Inhumanität:
[...] Aber auch die Anti-Humanität unserer Tage [1938 geschrieben] ist zuletzt ein humanes Experiment, eine einseitige Beantwortung der ewig sich stellenden Frage nach dem Wesen und Schicksal des Menschen. Fühlbar bedarf sie einer das Gleichgewicht herstellenden Korrektur, und ich meine, daß die hier erinnerte Philosophie dabei gute Dienste leisten kann. Ich nannte Schopenhauer 'modern' - ich hätte ihn zukünftig nennen sollen. Die Elemente seiner Persönlichkeit, ihr hell-dunkler Zusammenklang, die Mischung von Voltaire und Jakob Böhme, das Paradox seiner klassisch-klaren Prosa, die vom Untersten, Nächtigsten kündet, seine stolze Misanthropie, die nie die Ehrfurcht vor der Idee des Menschen verleugnet, kurz, was ich seine pessimistische Humanität nannte, erscheint mir voll von Zukunftsstimmung und verheißt seinem Gedankenwerk nach modischem Ruhm und halber Vergessenheit vielleicht noch eine tiefe und fruchtbare menschliche Wirkung. Seine geistige Sinnlichkeit, seine Lehre, sein Leben war, daß Erkenntnis, Denken, Philosophie nicht nur Sache des Kopfes, sondern des ganzen Menschen mit Herz und Sinn, mit Leib und Seele sind - sein Künstlertum, mit einem Wort, gehört einer Menschlichkeit jenseits von Vernunftdürre und Instinktvergottung an und mag behilflich sein, sie hervorzubringen. Denn die Kunst, den Menschen begleitend auf seinem mühsamen Wege zu sich selbst, war immer schon am Ziel.

(Thomas Mann: Schopenhauer, in fine)

Auch Max Horkheimer (ich erinnere mich: Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft) rechnet ihn unter die Humanisten.

Ist es nicht seltsam, wie ein und dasselbe Phänomen derart gegensätzliche Eindrücke und Reaktionen hervorrufen kann?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 18:24 Uhr (Zitieren)
Um die merkwürdige Situation weiter zu komplzieren:
Adolf Hitlers Lieblingsphilosoph, geradezu der Philosoph für ihn, auf den er sich häufig bezieht und dessen sämtliche Werke er den ganzen (I.) Weltkrieg in seinem Tornister getragen zu haben behauptet, war ... nein, nicht Friedrich Nietzsche, sondern Arthur Schopenhauer.
Ein Rätsel für sich.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Φιλομαθής schrieb am 27.07.2012 um 18:44 Uhr (Zitieren)
Spielte nicht das Mitleid eine zentrale Rolle in Schopenhauers Philosophie?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 19:24 Uhr (Zitieren)
Ja, natürlich.
Ich bin diesem Rätsel einmal nachgegangen:
Der Philosoph und der Diktator. Arthur Schopenhauer und Adolf Hitler; in: 84. Schopenhauer-Jahrbuch (2003). Würzburg 2003, S. 157-167
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 19:36 Uhr (Zitieren)
So ..., ... also ...

In meiner fünfbändigen Ausgabe sind die Briefe tatsächlich nicht zu finden. Wie ich anhand einer schnellen Guhgelei ermittelt habe, sind die betreffenden Briefe abgedruckt in
Kurt Wölfel (Hrsg.): Lessings Leben und Werk in Daten; Insel: 1967
Dieses Buch, so mußte ich dann feststellen, habe ich offenbar verliehen ...

Hier aber sind die entsprechenden Passagen zu finden (1777 / 1778)
http://lessing-portal.hab.de/index.php?id=84

Ich möchte auch keinen falschen Eindruck erwecken: Nicht Schopenhauer oder die Ausrichtung seiner Philosophie habe ich inhuman genannt (dazu kenne ich sie zu wenig), sondern einen Abschnitt der Passage, die oben zitiert wurde.
Dazu allerdings stehe ich.
Muß ich betonen, daß dieser einzelne (nach meinem Empfinden) inhumane Satz nichts mit der nazistischen Inhumanität zu tun hat? Selbst wenn Herr Hitler sich in seinem rabulistischen Gedankengefängnis auch aus dem SChopenhauerschen Werk herausgelesen haben mag, was ihm für seine verblasen-menschenverachtende "Weltanschauung" (ich habe gerade mal wieder in Klemperers LTI gelesen, sehr heilsam!) gerade recht kam.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
ανδρέας schrieb am 27.07.2012 um 19:56 Uhr (Zitieren)
Adolf Hitlers Lieblingsphilosoph, ... war ... nein, nicht Friedrich Nietzsche, sondern Arthur Schopenhauer.
Ein Rätsel für sich


M.W. war Nitzsche kein Antisemit.
siehe auch:
http://www.friedrichnietzsche.de/?REM_sessid=&action=21&start=42

Schopenhauer dagegen war antisemitisch eingestellt. In "Mein Kampf" bezieht sich Hitler auf Schopenhauer, der, behauptet habe, Juden seien "Meister im Lügen" (S. 335).
Da liegt die Affinität zu Schopenhauer nahe.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 11:37 Uhr (Zitieren)
Darauf bezieht Hitler sich. Häufiger noch als in "Mein Kampf" äußert er sich in den Tischgesprächen, die während des II. Weltkriegs protokolliert worden sind, über Schopenhauer.

Du wirst aber Schwierigkeiten haben, die von Dir bzw. Hitler zitierte Stelle in den von Schopenhauer veröffentlichten Schriften zu finden - es gibt sie nicht.
Das ist mir bei meiner Arbeit an dem erwähnten Aufsatz fürs Schopenhauer-Jahrbuch aufgefallen.
1988 hat Ludger Lütkehaus Schopenhauers Werke gemäß den Ausgaben letzter Hand veröffentlicht; dort steht sie nicht, d.h. Schopenhauer hat sie nie veröffentlicht. Es handelt sich vielmehr um eine handschriftliche Randnotiz von ihm zu seiner Handausgabe der "Parerga und Paralipomena", Bd. 2. Die folgenden Herausgeber seiner Schriften - mit Ausnahme von Lütkehaus - haben sie und manches andere einfach in den gedruckten Text integriert, so als ob Schopenhauer selbst sie zum Druck freigegeben hätte.
Die uns bekannten Schriften Schopenhauers sind eine Kompilation seiner Herausgeber - oder man greift auf die Lütkehaus-Edition zurück.

Eine weitere mögliche Quelle für Hitlers Schopenhauer-Begeisterung, so habe ich damals vermutet, könnte Richard Wagner sein.

Was Hitler philosophisch gedacht hat, kann man natürlich den Hasen geben.
Mich erstaunt nur, daß ein Autor es schafft, Menschen wie Richard Wagner, Ludwig Wittgenstein, Thomas Mann, Adolf Hitler und Max Horkheimer zu faszinieren ... und andere Menschen extrem abzustoßen, z.B. Martin Heidegger.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 12:02 Uhr (Zitieren)
Das sind die Briefstellen bei Lessing:
Ich ergreiffe den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Antheil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! ? Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft, mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. ? War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrath merkte? ? War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? ? Freylich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! ? Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. ? Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.
Lessing
An Johann Joachim Eschenburg, 31. Dez. 1777


1778

Ich habe nun eben die traurigsten vierzehn Tage erlebt, die ich jemals hatte. Ich lief Gefahr, meine Frau zu verlieren, welcher Verlust mir den Rest meines Lebens sehr verbittert haben würde. Sie ward entbunden, und machte mich zum Vater eines recht hübschen Jungen, der gesund und munter war. Er blieb es aber nur vier und zwanzig Stunden, und ward hernach das Opfer der grausamen Art, mit welcher er auf die Welt gezogen werden mußte. Oder versprach er sich von dem Mahle nicht viel, zu welchem man ihn so gewaltsam einlud, und schlich sich von selbst wieder davon? Kurz, ich weiß kaum, daß ich Vater gewesen bin. Die Freude war so kurz, und der Betrübniß ward von der größten Besorgniß so überschrieen! Denn die Mutter lag ganzer neun bis zehn Tage ohne Verstand, und alle Tage, alle Nächte jagte man mich ein paarmal von ihrem Bette, mit dem Bedeuten, daß ich ihr den letzten Augenblick nur saurer mache. Denn mich kannte sie noch bey aller Abwesenheit des Geistes. Endlich hat sich die Krankheit auf einmal umgeschlagen, und seit drey Tage habe ich die zuverlässige Hoffnung, daß ich sie diesmal noch behalten werde, deren Umgang mir jede Stunde, auch in ihrer gegenwärtigen Lage, immer unentbehrlicher wird.
An Karl Lessing, 5. Jan. 1778
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 12:02 Uhr (Zitieren)
Herzlichen Dank für die Mühe!
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 13:56 Uhr (Zitieren)
Die hier diskutierte Stelle über Lessing hat Schopenhauer in der Tat so publiziert.
 
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