Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:07 Uhr (Zitieren)
(Arthur Schopenhauer: W II, S. 665)
Ich muß alle Gegner Schopenhauers um Entschuldigung & Nachsicht bitten, daß ich schon wieder mit ihm und seinem Pessimismus daherkomme. Aber ich schreibe gerade im Rahmen unseres Optimismus-Pessimismus-Projektes über Schopenhauer, und da kommen mir solche Lesefrüchte immer wieder unter: gegen den Strich der herrschenden Meinung, aber stilistisch eindrucksvoll.
Ich muß gestehen, daß mich der Gedanke, wir seien berechtigt, von Gott Rechenschaft zu verlangen, als ich ihn in meiner christlich geprägten Jugend zuerst gelesen habe, mächtig beeindruckt hat. Und dieses Denken gegen den Strich habe ich wohl als mir gemäß erkannt - lange bevor ich Sprichwörter wie "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom" oder "Si omnes patres sic, at ego non sic" kennengelernt habe.
Ich versichere an Eides Statt, daß ich demnächst, sobald wir bei einem anderen Kapitel angelangt sind, auch eindrucksvolle Optimisten zitieren werde.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 17:23 Uhr (Zitieren)
Entschuldigung und Nachsicht "granted" ;-)
Ich sage dazu nur soviel:
Den Lessingschen herzzerreißenden Schmerz und seine sich mühsamst abgerungene Beherrschung (man fühlt förmlich das Zittern in diesen Worten) als Kronzeugen für das eigene Mißbehagen am Leben zu nehmen, ist eine Ungeheuerlichkeit, eine inhumane Monstrosität.
Daneben verblassen die beiden anderen Äußerungen zu Sottisen.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:26 Uhr (Zitieren)
Weißt Du (und kannst Du mir angeben), wo Lessings Äußerung bzw. Reaktion überliefert ist?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 17:31 Uhr (Zitieren)
Ich schaue gerne in meiner Lessing-Ausgabe nach, dauert ein bißchen.
Soviel ich aus der Erinnerung sagen kann, steht die Stelle in einem Brief.
Im übrigen hat Lessing zugleich auch seine über alles geliebte Frau Eva bei dieser Geburt verloren.
Die Stelle beginnt, wieder aus der Erinnerung: "Und ich hatte es auch einmal so gut haben wollen wie andere Menschen."
Wenn ich dann diese infame Schopenhauersche Selbstbespiegelung lese, packt mich die Wut ...
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 17:36 Uhr (Zitieren)
Das ist sehr freundlich von Dir; meine Lessing-Ausgabe enthält keine Briefe.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 18:17 Uhr (Zitieren)
Während Du Lessing nachspürst, habe ich einmal Thomas Mann nachgeschlagen, wg. Deines Vorwurfs der Inhumanität:
(Thomas Mann: Schopenhauer, in fine)
Auch Max Horkheimer (ich erinnere mich: Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft) rechnet ihn unter die Humanisten.
Ist es nicht seltsam, wie ein und dasselbe Phänomen derart gegensätzliche Eindrücke und Reaktionen hervorrufen kann?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 18:24 Uhr (Zitieren)
Um die merkwürdige Situation weiter zu komplzieren:
Adolf Hitlers Lieblingsphilosoph, geradezu der Philosoph für ihn, auf den er sich häufig bezieht und dessen sämtliche Werke er den ganzen (I.) Weltkrieg in seinem Tornister getragen zu haben behauptet, war ... nein, nicht Friedrich Nietzsche, sondern Arthur Schopenhauer.
Ein Rätsel für sich.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Φιλομαθής schrieb am 27.07.2012 um 18:44 Uhr (Zitieren)
Spielte nicht das Mitleid eine zentrale Rolle in Schopenhauers Philosophie?
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 27.07.2012 um 19:24 Uhr (Zitieren)
Ja, natürlich.
Ich bin diesem Rätsel einmal nachgegangen:
Re: Das Leben - ein Geschenk?
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 27.07.2012 um 19:36 Uhr (Zitieren)
So ..., ... also ...
In meiner fünfbändigen Ausgabe sind die Briefe tatsächlich nicht zu finden. Wie ich anhand einer schnellen Guhgelei ermittelt habe, sind die betreffenden Briefe abgedruckt in
Kurt Wölfel (Hrsg.): Lessings Leben und Werk in Daten; Insel: 1967
Dieses Buch, so mußte ich dann feststellen, habe ich offenbar verliehen ...
Ich möchte auch keinen falschen Eindruck erwecken: Nicht Schopenhauer oder die Ausrichtung seiner Philosophie habe ich inhuman genannt (dazu kenne ich sie zu wenig), sondern einen Abschnitt der Passage, die oben zitiert wurde.
Dazu allerdings stehe ich.
Muß ich betonen, daß dieser einzelne (nach meinem Empfinden) inhumane Satz nichts mit der nazistischen Inhumanität zu tun hat? Selbst wenn Herr Hitler sich in seinem rabulistischen Gedankengefängnis auch aus dem SChopenhauerschen Werk herausgelesen haben mag, was ihm für seine verblasen-menschenverachtende "Weltanschauung" (ich habe gerade mal wieder in Klemperers LTI gelesen, sehr heilsam!) gerade recht kam.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
ανδρέας schrieb am 27.07.2012 um 19:56 Uhr (Zitieren)
Schopenhauer dagegen war antisemitisch eingestellt. In "Mein Kampf" bezieht sich Hitler auf Schopenhauer, der, behauptet habe, Juden seien "Meister im Lügen" (S. 335).
Da liegt die Affinität zu Schopenhauer nahe.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 11:37 Uhr (Zitieren)
Darauf bezieht Hitler sich. Häufiger noch als in "Mein Kampf" äußert er sich in den Tischgesprächen, die während des II. Weltkriegs protokolliert worden sind, über Schopenhauer.
Du wirst aber Schwierigkeiten haben, die von Dir bzw. Hitler zitierte Stelle in den von Schopenhauer veröffentlichten Schriften zu finden - es gibt sie nicht.
Das ist mir bei meiner Arbeit an dem erwähnten Aufsatz fürs Schopenhauer-Jahrbuch aufgefallen.
1988 hat Ludger Lütkehaus Schopenhauers Werke gemäß den Ausgaben letzter Hand veröffentlicht; dort steht sie nicht, d.h. Schopenhauer hat sie nie veröffentlicht. Es handelt sich vielmehr um eine handschriftliche Randnotiz von ihm zu seiner Handausgabe der "Parerga und Paralipomena", Bd. 2. Die folgenden Herausgeber seiner Schriften - mit Ausnahme von Lütkehaus - haben sie und manches andere einfach in den gedruckten Text integriert, so als ob Schopenhauer selbst sie zum Druck freigegeben hätte.
Die uns bekannten Schriften Schopenhauers sind eine Kompilation seiner Herausgeber - oder man greift auf die Lütkehaus-Edition zurück.
Eine weitere mögliche Quelle für Hitlers Schopenhauer-Begeisterung, so habe ich damals vermutet, könnte Richard Wagner sein.
Was Hitler philosophisch gedacht hat, kann man natürlich den Hasen geben.
Mich erstaunt nur, daß ein Autor es schafft, Menschen wie Richard Wagner, Ludwig Wittgenstein, Thomas Mann, Adolf Hitler und Max Horkheimer zu faszinieren ... und andere Menschen extrem abzustoßen, z.B. Martin Heidegger.
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 12:02 Uhr (Zitieren)
Das sind die Briefstellen bei Lessing:
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 12:02 Uhr (Zitieren)
Herzlichen Dank für die Mühe!
Re: Das Leben - ein Geschenk?
Γραικίσκος schrieb am 28.07.2012 um 13:56 Uhr (Zitieren)
Die hier diskutierte Stelle über Lessing hat Schopenhauer in der Tat so publiziert.