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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Heraklit weitergedacht (1831 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 14.02.2013 um 18:12 Uhr (Zitieren)
Eine absolute Metapher


Mit Recht wird als tiefe Weisheit bewundert, was als Fragment des Heraklit überliefert ist: man könne nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Es ist eine absolute Metapher und darin eine der frühesten Errungenschaften der Philosophie, daß man die Wirklichkeit nicht festhalten könne, weil sie nicht das ist, als was sie uns erscheint. Die bloße Vermutung, der Fluß könne immer derselbe sein, wann man auch in ihn steige, beruht auf dem Anblick, den er dem Zuschauer als ein Stück Landschaft bietet.
Merkwürdig aber ist, daß dieser Spruch niemals weitergedacht worden ist. Tut man es, stößt man auf eine andere Unselbstverständlichkeit, die in der Metapher verborgen ist. Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, aber man kehrt an dasselbe Ufer zurück, und dies sogar dann, wenn man sich im Fluß, um mit ihm als demselben wenigstens für eine Zeit eins zu bleiben, hat treiben lassen. Ist man an das Ufer zurückgekehrt, ist es dasselbe, an welcher seiner Stellen auch immer. Da schert es einen nicht mehr, daß es nicht mehr derselbe Fluß ist, in den man ein weiteres Mal steigen würde.

[Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Ffm. 2002. S. 12]
Re: Heraklit weitergedacht
arbiter schrieb am 14.02.2013 um 18:25 Uhr (Zitieren)
das ist von Blumenberg - den ich schätze - zwar weiter, aber dennoch zu kurz gedacht. Selbstverständlich verändert sich auch das Ufer (wenn auch in kurzer Zeit i.d.R. nicht wahrnehmbar), und - was eigentlich bedeutsamer ist - auch der Badende ist, wenn er herauskommt, nicht mehr derselbe, und sein zweiter Badegang wäre schon insofern vom ersten verschieden
Re: Heraklit weitergedacht
arbiter schrieb am 14.02.2013 um 18:36 Uhr (Zitieren)
In diesem Zshang kommt mir wieder das ungelöste (?) Rätsel der Ich-Wahrnehmung in den Sinn; wir erleben uns ein Leben lang als ein und dieselbe Person, wiewohl das, betrachtet man nur die eigenen Photos im Zeitablauf, eine realitätsblinde Vorstellung ist. Dazu kommt der Komplettaustausch der Körperzellen, es muss wohl an den Nervenzellen liegen.
Re: Heraklit weitergedacht
Φιλομαθής schrieb am 14.02.2013 um 18:58 Uhr (Zitieren)
Ich denke dahin zielen Blumenbergs Ausführungen. Wieso können wir überhaupt ein solches (in der Metapher unveränderliches) Ufer annehmen, also einen Bezugsort, an dem wir den Wandel messen, wenn sowohl das, was als Objektivität angenommen wird, wie auch das Subjekt sich in beständigem Wandel befindet?
Re: Heraklit weitergedacht
Φιλομαθής schrieb am 14.02.2013 um 19:17 Uhr (Zitieren)
... in beständigem Wandel befinden?

(Dass der Badende sich ebenfalls wandelt, steht - auch wenn Blumenberg das hier nicht ausspricht - in dem Heraklit zugeschriebenen Spruch selbst: In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht. [Frg. B 49a DK])
Re: Heraklit weitergedacht
Hylebates schrieb am 14.02.2013 um 19:44 Uhr (Zitieren)
Zitat von arbiter am 14.2.13, 18:36In diesem Zshang kommt mir wieder das ungelöste (?) Rätsel der Ich-Wahrnehmung in den Sinn; wir erleben uns ein Leben lang als ein und dieselbe Person, wiewohl das, betrachtet man nur die eigenen Photos im Zeitablauf, eine realitätsblinde Vorstellung ist. Dazu kommt der Komplettaustausch der Körperzellen, es muss wohl an den Nervenzellen liegen.

Muss es nicht heißen: "Jemand erlebt sich in jedem Moment als ein und diesselbe Person"?
Dass Du "wir" "uns" "ein Leben lang" schreibst, scheint nicht zur Radikalität Deines Gedankens zu passen. Dass diese Jemands in dem einen Augenblick ein altes Photo als ein altes Abbild Ihrer selbst empfinden ... müsste doch das Rätsel sein, oder?
Re: Heraklit weitergedacht
filix schrieb am 15.02.2013 um 00:00 Uhr (Zitieren)
In bewusstseinsphilosophischer Perspektive besteht das Rätsel doch zunächst in dem, was die Zeitsynthesen gewährleistet, die Vorbedingungen der Möglichkeit der hier angesprochenen Vergleiche, Unterscheidungen und Identifikationsakte sind, Erinnerung inklusive, bzw. im Wesen der Dauer zwischen Ent-, Bestehen und Vergehen des lebendig Existierenden - anders gesagt: das Problem Bergsons.

Faszinierend ist jedenfalls die Dichte der Reflexion:

"Es ist eine absolute Metapher und darin eine der frühesten Errungenschaften der Philosophie, daß man die Wirklichkeit nicht festhalten könne, weil sie nicht das ist, als was sie uns erscheint."
So beginnt nun eigentlich eine philosophiegeschichtliche tour de force, d.h. eine die die fundamentalen Weichenstellungen des Denkens zu umreißen sucht, eine fast mit Nietzsche gefasste Genese des Platonismus: die Ursache der Flüchtigkeit der Wirklichkeit ist nicht ihr Wesen, sondern verdankt sich (weil!) ihrer Scheinhaftigkeit, einem Defekt.
Ein Satz weiter wird diese ontologische Dimension ums Subjekt ergänzt, d.h. wir befinden uns jählings im Reich der Bewusstseinphilosophie, wo das Anschauende, im Text "der Zuschauer", dessen Blick auf den Fluss in der Landschaft gerichtet ist, zum eigentlichen Ort dieses Defekts wird.
Die das Strömende außer Acht lassende abstrahierende Sicht, die auf das sich durch das Gebiet schlängelnde Band, den Ister beispielsweise oder dann einen Fluß überhaupt bezieht, lässt in dieser von der Anschauung zum Begriff fortschreitenden Entfremdung die Wirklichkeit gewissermaßen hinter sich - das Bewusstsein in seinen charakteristischen Operationen verleiht darin Beständigkeit dem, was an sich keine hat.
Was wird nun aber aus der Wirklichkeit, wenn der Schein als Form des Für-es-seins, nicht als schlechte Täuschung in das Subjekt einzieht? Darüber schweigt sich der Text aus: aber es ist klar, dass eine geschichtsträchtige Antwort Kants Ding an sich war, mit allen Konsequenzen, die Nietzsche im 3. Punkt seiner Aufstellung "Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde" persifliert: "3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch .)" Dass es stärke Position einer Synthese dieser Dimensionen, wie sie der dt. Idealismus darstellt, gegeben hat, sei einmal außen vor.
An diesem Punkt kehrt Blumenberg zu den Metaphern Heraklits zurück und kommt auf das Ufer zu sprechen: und hier denken letztlich auch die Kommentare ganz zeitgenössisch weiter, sie lassen, bildlich gesprochen, den Fluss über die Ufer steigen und tilgen jeden Rückzugsort: weder wahre Welt noch das Bewusstsein des Subjekts können dieses Refugium der Beständigkeit gewährleisten. Der Horror des Realen.
Re: Heraklit weitergedacht
arbiter schrieb am 15.02.2013 um 00:30 Uhr (Zitieren)
das Bewusstsein in seinen charakteristischen Operationen verleiht darin Beständigkeit dem, was an sich keine hat
- so ist es, aber warum ? ein Refugium der Stabilität scheinen wir (der Mensch) zu brauchen - die laufenden Veränderungen werden entweder ausgeblendet oder denunziert und bekämpft. Vielleicht hätten wir (unser Bewußtsein - ein diskussionswürdiger Begriff) es leichter, auf festen Stand im (konstruierten) Realen zu verzichten, wenn wir im Wasser geblieben wären
Re: Heraklit weitergedacht
arbiter schrieb am 15.02.2013 um 02:09 Uhr (Zitieren)
der Begriff Entfemdung in filixens Beitrag scheint mir unpassend zu sein. Unser Gehirn ist darauf angelegt, Ordnung zu schaffen (vgl. Maslow´s Prominenz des Sicherheitsbedurfnisses), durch vorbewusste Klassifikation (und Wahrnehmungsselektion) in gut - schlecht/böse bzw. durch Klassifikation überhaupt (ein Mensch ist ein Mensch, ein Affe ist es nicht.) D. h. gerade die nicht realitätskongruente Wahrnehmung und Begriffsbildung trägt eher zur Selbst-Vergewisserung bei. (Selektive Wahrnehmung zur Stabiliserung der Stereotyp-Konstanz, Adaption an vorhandene Deutungsmuster, Vermeidung von kognitiver Dissonanz).
Umgekehrt, nähme man die These beim Wort, würde doch implizit behauptet, es gäbe ein natürliches, quasi harmonisches Verhältnis zwischen Anschauung (dem Schauenden) und Welt
Re: Heraklit weitergedacht
filix schrieb am 15.02.2013 um 12:10 Uhr (Zitieren)
Es war doch, wenn man so will, ein side effect der neuzeitlichen Subjektsphilosophie, dass sie die Entscheidung über das Verhältnis von Bewusstsein und Welt letztlich in ersteres verlegt hat - bis hin zu Hegels 'Supersubjekt' (die Substanz, die immer schon Geist ist), das die Entfaltungsgeschichte des Verhältnisses in Natur- und Menschheitsgeschichte, in Wissenschaft, Kunst und Religion als sein Wesen denkt. Darin liegt vom Standpunkt einer Position, die der 'Welt' eine Irreduzibilität einräumt, sie als als unhintergehbares Außen/Anderes begreift, doch eine, so meinte ich es, Entfremdung vor - Entfremdung nicht von einer heimeligen Symbiose oder einer natürlichen Harmonie, sondern von eben dem Begriff eines Realen, das sich nicht dem Erkennenden fügt, gleichwohl mit ihm aber in ein Verhältnis als zu einem, das letztlich nicht von seinem Wesen ist, tritt. Seit der Dämmerung idealistischer Systemphilosophie ist diese Rückgewinnung dieses Bruchs doch ein bestimmendes setting des Denkens, aus dem die von dir ins Treffen geführte neurobiologische Sicht auf das erkennende Naturwesen Mensch nur ein Beispiel darstellt. Es hat dabei nicht an Kritik bzw. Rettungsversuchen gefehlt - z.B. von Seiten der Phänomenologie, die gewissen Konfigurationen dieses Verhältnisses (Lebenswelt, In-der-Welt-sein usf.) einen fundamentalen Vorrang einräumen wollte, welche Voraussetzung, Bedingungen der Möglichkeit (hierin gewissermaßen die Transzendentalphilosophie beerbend) für in dieser Perspektive als Abstraktionen, Reduktionen erscheinenden Betrachtungen neuropsychologischer usf. Natur darstellten.
Re: Heraklit weitergedacht
Ψ schrieb am 15.02.2013 um 13:37 Uhr (Zitieren)
Die Wirklichkeit ist nur scheinbar flüchtig, weil wir Menschen einen Defekt in der Optik/Wahrnehmung haben?
Darf ich das so laienhaft und flapsig formulieren?
Was bedeutet angesichts einer solchen Einsicht der Descartes-Spruch?
Re: Heraklit weitergedacht
Φιλομαθής schrieb am 15.02.2013 um 19:31 Uhr (Zitieren)
Noch einmal eine Bemerkung zu den mitternächtlichen Ausführungen

Ich weiß nicht, ob man im zitierten Satz solchen Nachdruck auf die verwendete Konjunktion ("weil") legen sollte, ob Blumenberg tatsächlich eine Ursachenfindung einer Wesensbestimmung entgegenstellt. Auch scheint mir - gerade, was Blumenberg betrifft - die Verwerfung des phänomenologischen Ansatzes einer Revision wert.

Nehmen wir einmal an, es wurde mit Bedacht vom Erscheinen der Wirklichkeit gesprochen - nicht ihre Scheinhaftigkeit, sondern ihr Erscheinungscharakter ins Auge gefasst. Dann hätten es wir hier nicht mit einem summarischen Referat über die Geschichte des Zwei-Welten-Modells zu tun, sondern mit der Aufdeckung des Problems, dass auch wer sich von der natürlichen Einstellung zu lösen versucht, wer also den Gang in den Fluss antritt (im Gegensatz zum Zuschauer in der Landschaft, der sein Urteil auf die bloße Vermutung gründet), eine unbefragte Selbstverständlichkeit mitnimmt, nämlich die Gewissheit, an einen geistigen Ort zurückzukehren, der die Veränderung als Erkenntnis dokumentierbar macht.
Re: Heraklit weitergedacht
filix schrieb am 15.02.2013 um 20:53 Uhr (Zitieren)
Für mich ist in dem diskutierten Satz doch eine philosophiegeschichtliche Betrachtungsweise am Werk, wenn B. von einer fundamentalen Errungenschaft spricht, die ja nicht in der bloßen Feststellung, dass der Fluss unaufhaltsam fließt und fließt und fließt, dass keine Momentaufnahme und sei es durchs Bad der anderen gleicht, besteht, sondern darin, dass diese Metapher ein geschichtsträchtiges Modell, die Wirklichkeit überhaupt zu erfassen (und nicht nur das Wesen des Flusses), in sich birgt, und die Frage aufgeworfen wird, woran dieses Fließende alles Erscheinenden liegt.
In der knappen Formulierung "weil sie nicht das ist, als was sie uns erscheint", ist a) die Begründung anvisiert b) nicht vom bloßen Erscheinen, sondern vom "als etwas erscheinen" die Rede, das noch dazu ex negativo gegen das abgesetzt wird, was sie (jenseits dessen) ist.
Wenn etwas als etwas erscheint, das es nicht ist, haben wir es zweifelsohne mit einer Art Täuschung zu tun.
Hier den Charakter des grundsätzlich Trügerischen der Endlichkeit, ihre Zweitrangigkeit, Abkünftigkeit, ihr geborgtes Sein usf. zugunsten einer Theorie des Erscheinungscharakters alles Seienden zu eliminieren, wird in meinen Augen weder der Passage noch der philosophiegeschichtlichen Entwicklung gerecht.

Was die Sache mit der Phänomenologie angeht, war das weniger Versuch einer Blumenbergeisegese, mehr der knappe Hinweis darauf, dass es auch nach dem Niedergang idealistischer System- und Erkenntnistheorie nicht daran gefehlt hat, Theorien der Beziehung von endlichem Menschenwesen und Welt zu entwickeln, die eine aller naturwissenschaftlichen Durchdringung vorausgehende, diese erst ermöglichende und durch diese nicht hintergehbare ontologische Basis proklamieren.

Noch einmal zum Schluss:
Das Ufer ist Ort des Aufbruchs und der Rückkehr gleichermaßen und hat für Blumenberg darin eine Selbigkeit, Persistenz, gegen die die Lehre des Flusses gleichsam verblasst, es ist das Verlassen und Ankommen auf jeweils festem Boden - die Behauptung, niemand habe da weitergedacht, ist eigentlich kokett: wenn Sturz oder Gang ins Wasser vom und Rückkehr aus der fließenden Welt ans Ufer das dramaturgische Modell der verlorenen und wiedergefundenen wahren Welt abgibt, wie der unaufhaltsame Fluss das Bild für das Wesen der Endlichkeit, dann ist dies ebenso eine fundamentale Konfiguration der wenigstens abendländischen Philosophie, keineswegs ihr Versäumnis.
Re: Heraklit weitergedacht
arbiter schrieb am 23.02.2013 um 18:37 Uhr (Zitieren)
eine philosophiegeschichtliche Betrachtungsweise
- für den Fachgelehrten von akademischem Interesse, für mich irritierend, wenn man aktuell relevanten* Fragestellungen (pp: unter Beachtung des bislang Dazugelernten) nachgehen will...
vgl:
"Was uns an Stelle der Weisen blieb, sind ihre Schriften in ihrem rauhen Glanz und ihrer wachsenden Dunkelheit; (...) noch immer könnten sie gelesen werden, wenn man nur wüßte, warum man sie noch lesen sollte." (Sloterdijk)

*welche Art Relevanz könnte der Ontologie (die von Andersgläubigen in toto als Geschwurbel klassifiziert wird) zugebilligt werden, fragt ein philosopischer Laie
Re: Heraklit weitergedacht
edu schrieb am 05.01.2014 um 15:14 Uhr (Zitieren)
hi Leute, super interessant diese Forum. Endlich interessiert sich jemand außer mir für Philosophie, Wahrnehmung, kosmos usw. danke für die Unterhaltung. Eigentlich möchte ich dazu nur sagen, dass man in der philosophie zwar diskutieren, aber nicht streiten sollte.Jedes Individuum nimmt seine Umwelt anders wahr und darf sie dementsprechend auf eigene weise definieren.
mehr zum thema heraklit findet ihr hier: http://heraklit.org/die-kosmologie-was-der-blick-ins-weltall-bringt/
 
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