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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Heraklit Fragment 99 (Sonne) (1025 Aufrufe)
EURAnalyst schrieb am 14.06.2013 um 20:25 Uhr (Zitieren)
εἰ μὴ ἥλιος ἦν, ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνη ἅν ἦν.

Diels übersetzt ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων mit "trotz der übrigen Gestirne".

Gibt es denn noch andere Belegstellen, in denen ἕνεκα die Bedeutung "trotz" hat?

In der Athenaeum Library of Philosophy findet man unter Heraclitus Ziffer 31 z. B. die englische Übersetzung

<<<
if there were no sun, as far as regards the other stars, we should have night, as Heraclitus says
>>>

was für mich allerdings auch nicht so recht einsichtig ist.

Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Βοηθὸς Ἕλληνικός schrieb am 14.06.2013 um 20:42 Uhr (Zitieren)
Pape schreibt unter ἕνεκα z.B.:
ἕνεκά γε τῶν ἡμετέρων ὀφϑαλμῶν, wenns auf unsere Augen ankäme, trotz unserer Augen, Xen. Mem. 4, 3, 3.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Φιλομαθής schrieb am 14.06.2013 um 22:37 Uhr (Zitieren)
Ob man ἕνεκά in diesen Fällen kausal oder konzessiv versteht, ist ja nur eine Frage des Gesichtspunkts unter dem ich den Gegenstand und seine Eigenschaften betrachte.

Ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων bezieht sich auf die geringe Leuchtkraft der Sterne: nur diese Eigenschaft wird hier mitgedacht, wenn von den Sternen die Rede ist, nicht ihre Bewegungen, ihre Anordnung o. ä. Wenn man dies in die Übersetzung einbringt, erkennt man, dass "trotz" und "wegen" hier nahezu gleichwertig sind:
"wegen [der geringen Leuchtkraft] der Sterne wäre Nacht" = "trotz [der geringen Leuchtkraft] der Sterne wäre Nacht"

Ähnlich bei der Xenophon-Stelle.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
EURAnalyst schrieb am 15.06.2013 um 20:05 Uhr (Zitieren)
Besten Dank, Ἕλληνικὸς und Φιλομαθής, für Eure Hinweise.

Dennoch will mir das "trotz" bei Diels nicht gefallen:

Mit εὐφρόνη ist doch je die Anwesenheit der ἄλλων ἄστρων gegeben. Mithin wäre die εὐφρόνη, die positive Form der Nacht gegenüber νύξ, lt. Heraklit auch bei völligem Verschwinden der Sonne unverändert gegenwärtig. Vielleicht fand der "σκοτεινός" in Gedanken die Welt ohne Sonne sogar reizvoll. Es ist auch offen, wie der Mond hier gesehen wird.

ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων hat m. E. einen ganz anderen Sinn als nur "wegen des schwachen Sternenlichts", welchen, hat Heraklit uns zum Nachdenken überlassen.

Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 15.06.2013 um 23:43 Uhr (Zitieren)
M. E. ist die Nacht gerade nicht positiv gesehen, ein Euphemismus (wie εὐφρόνη) bemäntelt ja immer ein eigentlich Schlechtes, Gefährliches, Erschreckendes usw.

Zum anderen hege ich die Vermutung, daß ἕνεκα hier mehr in die Richtung "in Rücksicht / im Hinblick auf" zu verstehen ist (vgl. ὑγιείας ἕνεκα = um der Gesundheit willen):

"Wenn die Sonne nicht wäre, so wäre es [auch] im Hinblick auf die anderen Gestirne [= selbst in Rücksicht auf diese] wohl dunkle Nacht."

Von dort zum Dielsschen 'trotz' ist es nicht weit (und ermöglicht ein wesentlich besseres Deutsch).
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Φιλομαθής schrieb am 16.06.2013 um 09:41 Uhr (Zitieren)
Zur Deutung des Fragments sei auf Plutarchs Περὶ τύχης, Mor. 98c, verwiesen (wo etwas abweichend von Mor. 957a zitiert wird):

Καὶ ὥσπερ ἡλίου μὴ ὄντος ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνην ἂν ἤγομεν, ὥς φησιν Ἡράκλειτος, οὕτως ἕνεκα* τῶν αἰσθήσεων, εἰ μὴ νοῦν μηδὲ λόγον ὁ ἄνθρωπος ἔσχεν, οὐδὲν ἂν διέφερε τῷ βίῳ τῶν θηρίων.

"Und wie wir, wenn die Sonne nicht wäre, in Nacht/Finsternis hinlebten, trotz der übrigen Gestirne, wie Heraklit sagt, so wäre trotz der [Fähigkeit zur] Wahrnehmung, wenn der Mensch weder Nous noch Logos hätte, [an seiner Lebensweise] in nichts ein Unterschied zur Lebensweise der Tiere."

Hiervon ausgehend konstruiert Hermann Fränkel (Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, ³1969, S. 434) eine Analogie wie sie durch das Fragment von Heraklit vorgebildet sein könnte: "Wem das Licht des Logos nicht scheint, der lebt trotz der Sonne in Umnachtung wie ein Tier."


______

*) Noch eine Stelle, an der man ἕνεκα kaum anders als durch "trotz" übersetzen kann. Dazu drängt uns eine Sprachkonvention des Deutschen, die im Griechischen anscheinend nicht besteht: Stellt man einen Vorgang als von mehreren Ursachen beeinflusst dar, so müssen jene Ursachen, die der letztlich effektiven Ursache entgegenstehen durch konzessive Relatoren gekennzeichnet werden. Im Griechischen ist dies wohl nicht der Fall: Unabhängig von der Wirkrichtung kann auch die bloße (neutrale) Kausalität ausgewiesen werden.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
EURAnalyst schrieb am 16.06.2013 um 17:02 Uhr (Zitieren)
Danke, στρουθίον οἰκιακόν und Φιλομαθής, für die weiteren aufschlussreichen Beiträge. Diels' Übersetzung von ἕνεκα mit "trotz" scheint damit zumindest grammatisch gerechtfertigt.

Zu εὐφρόνη noch eine Frage:

Ist die euphemistische Verwendung dieses Wortes durch die Literatur belegt?

Schließlich noch eine Anmerkung:

In der 1. Auflage der Fragmente 1903 steht

εἰ μὴ ἥλιος ἦν, <ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων> εὐφρόνη <ἅν> ἦν.

in der 2. Auflage 1906

εἰ μὴ ἥλιος ἦν, ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνη ἅν ἦν.

Die spitzen Klammern deuten meines Wissen auf korrupte Stellen bzw. Konjekturen hin. Bis zur 2. Auflage scheint Diels also hier neue Quellen-Erkenntnisse gewonnen zu haben.



Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
EURAnalyst schrieb am 16.06.2013 um 17:07 Uhr (Zitieren)
Danke, στρουθίον οἰκιακόν und Φιλομαθής, für die weiteren aufschlussreichen Beiträge. Diels' Übersetzung von ἕνεκα mit "trotz" scheint damit zumindest grammatisch gerechtfertigt.

Zu εὐφρόνη eine Frage:

Ist die euphemistische Verwendung dieses Wortes durch die Literatur belegt?

Schließlich noch eine Anmerkung:

In der 1. Auflage der Fragmente 1903 steht

εἰ μὴ ἥλιος ἦν, <ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων> εὐφρόνη <ἅν> ἦν.

in der 2. Auflage 1906

εἰ μὴ ἥλιος ἦν, ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνη ἅν ἦν.

Die spitzen Klammern deuten vermutlich auf korrupte Stellen bzw. Konjekturen hin. Bis zur 2. Auflage scheint Diels also hier neue Quellen-Erkenntnisse gewonnen zu haben.



Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Φιλομαθής schrieb am 17.06.2013 um 13:45 Uhr (Zitieren)
Durch die < > hat Diels Ergänzungen kenntlich gemacht, die er am Wortlaut des aus Mor. 957a übernommen Textes durch Vergleich mit Mor. 98c vorgenommen hat. Warum Diels in der 2. Ausg. die Kennzeichnung fallengelassen hat, erklärt er vielleicht im Vorwort.

An Euphemismen, die ganz ähnlich funktionieren wie εὐφρόνη, fallen mir die Eumeniden oder der Pontos Euxeinos ein. Solche Euphemismen gehen natürlich über das bloß Verhüllende, wie wir es aus unserem Sprachgebrauch kennen (der Leibhaftige, Seniorenresidenz, Kollateralschäden etc.), hinaus und wenden die Vorstellung, die sich mit dem Bezeichneten verbindet, (beschwörend?) ins gerade Gegenteil.

Eine Stelle bei Euripides (Phoin. 727), in der εὐφρόνη in negativem Zusammenhang steht: ἐνδυστυχῆσαι δεινὸν εὐφρόνης κνέφας ("Im Unglück liegt die furchtbare Finsternis der Nacht."). Auch die polare Gegenüberstellung ἡμέρη - εὐφρόνη in Frg. 67 spricht dafür, dass der Begriff der εὐφρόνη bei Heraklit keine positive Wertung enthält.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 17.06.2013 um 14:15 Uhr (Zitieren)
Φιλομάθης,
danke für die Euripides-Stelle (darf ich fragen, wo Du solche Belege immer herzauberst?).

Was das Element des Beschwörenden im Euphemismus angeht: ich denke, so weit muß man gar nicht gehen. Es ist m. E. eher ein Phylakterion, das (dem mythischen Sinn) hilft, über das Gemeinte so zu sprechen, daß dieses nicht Anstoß nimmt. Vgl. unser 'das kannst du aber laut sagen!' - von der übermächtigen Gewalt (der Nacht, des Meeres, der Rachegöttinnen etc.) kann man entweder nur ganz leise oder eben (viel sicherer, denn wer weiß schon, wie scharf die Ohren der Instanz sind?) den besänftigenden Namen, den Euphemismus, benutzend sprechen, damit sie nicht ergrimmt.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Φιλομαθής schrieb am 17.06.2013 um 21:16 Uhr (Zitieren)
Zitat von στρουθίον οἰκιακόν am 17.6.13, 14:15darf ich fragen, wo Du solche Belege immer herzauberst?

In diesem Falle liegt der ganze Zauber in einfachem Googeln nach "εὐφρόνη".
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
EURAnalyst schrieb am 17.06.2013 um 21:45 Uhr (Zitieren)
Danke, Φιλομαθής, für die Erklärung der spitzen Klammern in diesem Fragment und für den Euripides-Beleg zum euphemistischen Gebrauch von εὐφρόνη.

Zum Wegfall der spitzen Klammern enthält das Vorwort zur 2. Auflage nichts. Es sind aber in der 2. Auflage nicht alle spitzen Klammern weggelassen worden. Jedenfalls weiß ich durch Deinen Hinweis, dass nicht alles in spitze Klammern Gesetzte mit korrupten Stellen im Original oder mit Konjekturen in Zusammenhang steht.
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
filix schrieb am 19.06.2013 um 12:25 Uhr (Zitieren)
Akzeptiert ihr jetzt die Deutung Plutarchs (aus mehr als 500 Jahren Distanz), der als epistemologisches Gleichnis präsentiert, was für sich genommen als Naturbeobachtung schon der Antike allzu banal erscheint? Dazu könnte man m.E. wenigstens zwei Fragen stellen:

a) an Heideggers Vorstellung lose anknüpfend, dass schon in der 'Vorsokratik' (welcher Terminus auf das Dilemma der Einschätzung verweist) für die Geschichte des Denkens prägende Entscheidungen fallen, die es erst einmal freizulegen gilt, ließe sich erörtern, ob die hier vergebenen Positionen ("Sonne" = " Nous/ Logos", "das schwache Licht der Sterne" = "sinnliche Erkenntnis", "Nacht" = "Leben des erkenntnis-/weltarmen Tieres") und die Struktur der gleichnishaften Vertretung ideeller Konzepte durch Anschauliches selbst, nicht einfach nachträgliche Implantationen einer Erkenntnis- und Weltordnung darstellen, die nicht die Heraklits ist.
b) Ist es ausgeschlossen, dass selbst Plutarch nur einem Fragment gegenüberstand, von dem man nicht sicher sagen kann, dass es nicht aus einer naturphilosophischen Erörterung stammt, die nicht auf die simple Aussage, dass es ohne Sonne trotz der Sterne finster ist und bliebe, sich reduzieren lässt, gibt es doch auch (ich habe leider gerade keine Ausgabe zur Hand) mittelbar überlieferte Beispiele einer uns heute phantastisch erscheinenden Physik Heraklits im weitesten Sinne, die die Ursache des Lichts/Feuers, den Aufbau des Himmelsgewölbes, das Leben und Sterben der Gestirne usf. behandelt?
Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
EURAnalyst schrieb am 20.06.2013 um 17:51 Uhr (Zitieren)
Danke, filix, für diesen erfreulichen Beitrag. Für mich ist Heraklits denkerische Botschaft in diesem Fragment weiterhin ungeklärt wie z. B. auch die des zweiten Teils des Spruchs des Anaximander

{ἐξ ὧν δὲ ἡ γενεσίς ἐστιν τοῖς οῦσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών .}
διδόναι γὰρ αὑτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τοῦ χρόνου τάξιν.

Diels übersetzt das mal so eben mit

"Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der Zeit Ordnung."

Die Auslegung Heideggers im Band 78 der Gesamtausgabe mit Fug (δίκη) und Ruoch (τίσις) habe ich - noch - nicht verstanden.

Im Sinne des Absatzes a) Deines Beitrags schrieb Heidegger schon in "Sein und Zeit" §44 c) (GA Band 2 Seite 303-304):

"Die Behauptung >>ewiger Wahrheiten<<, ebenso wie die Vermengung der phänomenal gegründeten >>Idealität<< des Daseins mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik."

Wir sind hier allerdings nicht in einem philosophischen Forum, weshalb das m. E. auch nicht weiter vertieft werden sollte.

Re: Heraklit Fragment 99 (Sonne)
Stephan Weidauer schrieb am 14.04.2024 um 18:53 Uhr (Zitieren)
Daß hier manches ungeklärt bleiben muß, wußte schon Nietzsche:

"Wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnelläufer dunkel."

In: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

Vielleicht passt es so:

Wenn es keine Sonne gäbe,
wäre wohl im Hinblick auf die anderen Sterne
(heitere) Nacht.
 
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