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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
El memorioso (989 Aufrufe)
Φιλομαθής schrieb am 28.09.2013 um 11:27 Uhr (Zitieren)
Eine der Borgesschen Fiktionen handelt von dem Jungen Funes. Seit einem Sturz vom Pferd ist er gelähmt und besitzt die Gabe, nichts mehr zu vergessen. Die Folge davon: jede seiner Wahrnehmungen lässt eine Unmenge an Details in seinem Kopf zurück, die der Durchschnittsmensch noch im selben Augenblick vergessen hätte. Die Welt wird ihm zu einer ungegliederten Aneinanderreihung von Einzelerinnerungen. Er begreift nicht einmal, worin der Sinn eines Systems von Begriffen, etwa unseres dekadischen Zahlensystems, besteht und erfindet sein eigenes Zahlen"system", in dem jede Zahl ihren eigenen Namen erhält.
Re: El memorioso
Φιλομαθής schrieb am 28.09.2013 um 11:30 Uhr (Zitieren)
Man kann man aus der Schilderung der Innenwelt des Funes schließen, dass es die Vergesslichkeit ist, die den Menschen zur Bildung von Begriffen und ihrer Zusammenfassung zu Oberbegriffen zwingt, ja synthetische Gedankentätigkeit überhaupt erst ermöglicht, dass also das Vergessen auch eine Gabe ist.
Re: El memorioso
Φιλομαθής schrieb am 28.09.2013 um 11:31 Uhr (Zitieren)
In der Erzählung spielt ein Band der Naturalis historia des Plinius eine Rolle, in dem an einer Stelle verschiedene Menschen mit außergewöhnlichem Gedächtnis aufgezählt werden. Nicht erwähnt wird dort aber ein berühmter Athener, der offenbar unter einem dem des Funes nahekommenden Gedächtnis "litt", dass er sich wünschte, es gäbe eine erlernbare Kunst des Vergessens. Wen meine ich?
Re: El memorioso
Γραικίσκος schrieb am 01.10.2013 um 17:48 Uhr (Zitieren)
Diese Frage hat eigentlich eine Antwort verdient, aber ich vermag nicht, sie zu geben.
Re: El memorioso
filix schrieb am 01.10.2013 um 19:28 Uhr (Zitieren)
Themistokles ist der Gesuchte, nehme ich an. Apropos Mnemopathie und Begriffsbildung - in dem eben auf Dt. erschienenen Petite Poucette fragt Michel Serres nach den Folgen der Informationsverarbeitung für die Abstraktion:

"Die Abstraktion [...] Brauchen wir sie noch? Unsere Maschinen laufen mit einer solchen Geschwindigkeit, daß sie das Besondere unbegrenzt aufzählen und bei der Originalität innehalten können. [...] Die Suchmaschine kann, zuweilen, die Abstraktion ersetzen. Wie das Subjekt, von dem weiter oben die Rede war, so hat auch das Objekt der Kognition sich gewandelt. Wir haben keinen zwingenden Begriffbedarf. Wir können so lang wie nötig bei den Erzählungen, bei den Beispielen und Singularitäten, bei den Sachen selbst verweilen. Praktisch wie theoretisch ist diese Neuerung die Ehrenrettung derjenigen Weisen des Wissens, die der Beschreibung und dem Individuellen verpflichtet sind." (S.44)

So gesehen war es Funes Misere, mit einem menschlichen Gehirn die Arbeit erledigen zu müssen, die Serverfarmen und Suchmaschinen besser zu bewältigen vermögen, anstatt sich vorwiegend mit erfinderischer Intelligenz ihrer zu bedienen.
Re: El memorioso
Φιλομαθής schrieb am 02.10.2013 um 12:29 Uhr (Zitieren)
Zitat von filix am 1.10.13, 19:28Themistokles ist der Gesuchte, nehme ich an.

So ist es. Soweit ich sehe, ist Cicero der einzige, der von Themistokles' Gedächtnisleistung berichtet. Dafür aber mehrfach:
Cic. fin. II, 104: Themistocles quidem, cum ei Simonides an quis alius artem memoriae polliceretur, 'Oblivionis', inquit, 'mallem. Nam memini etiam quae nolo, oblivisci non possum quae volo.

"Themistokles zum Beispiel sagte, als ihm Simonides oder jemand anderes eine Kunst des Gedächtnisses (Mnemotechnik) versprach: 'Eine des Vergessens wäre mir lieber. Denn erinnern kann ich mich sogar an das, was ich nicht will, vergessen kann ich nicht, was ich will.'"

Was in der pointierten Formulierung dieses und des folgenden Zitats wie der Wunsch nach einer Möglichkeit der Gewissenspflege anmutet, ...
Cic. de or. II, 299: Ita apud Graecos fertur incredibili quadam magnitudine consilii atque ingenii Atheniensis ille fuisse Themistocles; ad quem quidam doctus homo atque in primis eruditus accessisse dicitur eique artem memoriae, quae tum primum proferebatur, pollicitus esse se traditurum; cum ille quaesisset quidnam illa ars efficere posset, dixisse illum doctorem, ut omnia meminisset; [et] ei Themistoclem respondisse gratius sibi illum esse facturum, si se oblivisci quae vellet quam si meminisse docuisset.

"So erzählt man sich bei den Griechen, dass der berühmte Themistokles von Athen ein geradezu unglaubliches Maß an Klugheit und Geisteskraft gezeigt habe. Es heißt, an ihn sei ein gelehrter und hochgebildeter Mann herangetreten und habe ihm versprochen, dass er ihm die Gedächtniskunst, die damals ihre erste Verbreitung erfuhr, vermitteln wolle. Als jener fragte, was den diese Kunst vollbringen könne, habe dieser Gelehrte gesagt: dass er sich an alles erinnere. Und Themistokles habe geantwortet, dass er ihm einen größeren Gefallen täte, wenn er ihn lehrte zu vergessen, was er wollte, als wenn er ihn lehrte sich zu erinnern."

Cic. de or. II, 351: Sed ut ad rem redeam, non sum tanto ego, inquit, ingenio, quanto Themistocles fuit, ut oblivionis artem quam memoriae malim; gratiamque habeo Simonidi illi Cio, quem primum ferunt artem memoriae protulisse.

"'Aber, um zur Sache zurückzukehren: Ich', sagte er, 'besitze nicht solche Geisteskräfte wie Themistokles besaß, so dass ich eine Kunst des Vergessens eher wünschte als eine des Gedächtnisses. Und ich bin dem berühmten Simonides von Keos, von dem es heißt, er habe die Kunst des Gedächtnisses entwickelt, dankbar.'"

... erfährt im Lucullus eine Auslegung als Hinweis auf eine mögliche Hypermnesie des Themistokles:
Cic. ac. II, 1, 2: Habuit enim divinam quandam memoriam rerum, verborum maiorem Hortensius, sed quo plus in negotiis gerendis res quam verba prosunt, hoc erat memoria illa praestantior, quam fuisse in Themistocle, quem facile Graeciae principem ponimus, singularem ferunt: qui quidem etiam pollicenti cuidam se artem ei memoriae, quae tum primum proferebatur, traditurum respondisse dicitur oblivisci se malle discere, credo, quod haerebant in memoria quaecumque audierat et viderat.

"Denn er [Lucullus] besaß ein geradezu übernatürliches Gedächtnis für Fakten, Hortensius ein größeres für Worte, aber in dem Maße, in dem für die Erledigung von Geschäften Fakten mehr nützen als Worte, war ein solches Gedächtnis umso vorteilhafter. Es wird berichtet, dass Themistokles, den ich gern als den ersten Kopf von Griechenland bezeichne, ein solch außerordentliches Gedächtnis hatte. Zum Beispiel habe er, wie man erzählt, sogar jemandem, der ihm anbot, dass er ihm die Kunst des Gedächtnisses, die damals ihre erste Verbreitung erfuhr, vermitteln wolle, geantwortet, dass er lieber lernen wolle zu vergessen, ich glaube, weil in seinem Gedächtnis alles, was er gehört und gesehen hatte, verhaftet blieb."


Das Serres-Zitat passt wunderbar zum Thema. Aber ich glaube, dass genau solche Assoziationen sich mittels Suchmaschine nicht finden lassen.

Gerade den Begriff, den wir uns von einem gelesenen Buch oder einem gehörten Vortrag bilden, dieses Kondensat des Textes, das sich wie mit der Eichendorffschen Wünschelrute berührt, auf mannigfache Weise wieder zu entfalten vermag, kann, wie ich meine, das automatisierte Gedächtnis nicht ersetzen.

Wenn wir Denken und Erinnern, metaphorisch, als das Verfassen eines fortlaufenden Gedankentextes ansehen, dann dient hierbei die aus dem Vergessen gewonnene Begriffsbildung als Strategie zur Überwindung der Linearität dieses Textes. (Funes etwa benötigt, wenn er einen Tag im Gedächtnis rekonstruiert, einen Tag.)

Dagegen ist die Überwindung der Linearität des Textes, die der Hypertext anbietet, nur eine scheinbare: er erzeugt nur eine sehr große Zahl von Textvariationen. Die Wahl, die der begriffslose Leser trifft, folgt der Suggestivität der angebotenen Vorschläge. D. h. er glaubt nur, lesend seinen individuellen Text zu erschaffen. Und er wird von der Suchmaschine ja keineswegs zu den Sachen selbst geführt, sondern bleibt beim bloßen Wort.
Re: El memorioso
filix schrieb am 02.10.2013 um 14:45 Uhr (Zitieren)
Danke für das Zusammentragen der Quellen - ich las darüber vor Jahren in H. Weinrichs Buch "Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens" und ... erinnerte mich daran.
Das ist das heute in Ablösung begriffene Ideal des Buchzeitalters, was die Funktion der Gedächtnisleistung im Feld des Wissens angeht - wohingegen die Vorstellung, dass jemand z.B. den "ganzen Cicero" auswendig kann und auf Anhieb die drei gebrachten Stellen nempe latine wiederzugeben weiß, doch eigentlich ein absurdes Echo der Epoche der Oralität bzw. der schwer verfügbaren Manuskripte ist, die schon das gedruckte Buch der Neuzeit sukzessive pulverisierte, nicht erst Google. Der gewiss verstümmelte Eros der Kombination von individueller, zerebraler Speicher- und Abrufleistung speist heute Unterhaltungsshows im Fernsehen - die Million gibt es immer noch für den, der z.B. auf Anhieb zu sagen vermag, "auf welchen Namen Schillers "Glocke" am Ende des Gedichtes getauft wird", nicht für den, der das mittels einer Suchmaschine möglichst schnell herauszufinden weiß, selbst wenn er keine Ahnung hat, wer dieser Schiller war - aber er bildet keineswegs die mnemonisch-memetische Dimension gegenwärtiger Wissensproduktion ab.

Was das Kondensat eines gelesenen Textes, eines Vortrags angeht - würdest du dasselbe wirklich einen Begriff nennen? Welchen Begriff von Begriff oder besser gesagt, welches Verständnis von Begriff legst du hier zugrunde? Deine Beschreibung scheint mir schon mit gewissen traditionellen ökonomischen Ideen der Begriffsbildung zu brechen:
das Eine, das die vielen (oder sogar alle Exemplare) erfasst und festsetzt wird hier zu einer Art magischer Container, der sich, nur richtig berührt, wieder in alles Mögliche entfalten lässt. Ist nicht die Magie dieser Berührung auch die Vernetzung, verändert nicht die virtuelle Extension über dein Gehirn hinaus, das nicht mehr die Grenze dieses Containers ist, die Sache erheblich?
D.h. anstatt die Sache im Begriff zu terminieren, handelt es sich doch eher darum zu verlinken und zu transformieren - kurz in schöpferischer Weise fortzuentwickeln: es geht nicht mehr zentral um die Beschwörung der ordnenden Kraft des Begriffs, die die wahre Architektur des Wirklichen im Allgemeinen enthüllt.
 
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