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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
abstractus a rebus gerendis (965 Aufrufe)
Γραικἱσκος schrieb am 14.06.2017 um 14:53 Uhr (Zitieren)
"Amariorem enim me senectus facit; stomachor omnia. Sed mihi quidem βεβίωται; viderint iuvenes."

(Cicero: ad Atticum XIV 21,3)

Ah, dieses griechische Wort darin: knapp, hart und bitter! Da wird das Alter nicht versüßt.
Re: abstractus a rebus gerendis
Φιλομαθής schrieb am 15.06.2017 um 13:14 Uhr (Zitieren)
Nun ja, die knappe und harte Formulierung wäre wohl ein einfaches vixi gewesen. Stattdessen sehen wir hier ein zweifaches Ausweichen, in die andere Sprache und in den unpersönlichen Ausdruck (über den ein Apollonios Molon wahrscheinlich die Stirn krausgezogen hätte).
Re: abstractus a rebus gerendis
filix:p3trON schrieb am 15.06.2017 um 13:16 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικἱσκος am 14.6.17, 14:53Ah, dieses griechische Wort darin: knapp, hart und bitter! Da wird das Alter nicht versüßt.


Ist es das? Was macht es für dich als gr. Wort dazu? Nicht, dass ich behaupten wollte, Cicero besinge die Freuden des Alters in diesem Brief, aber wir hatten das Thema code-switching ja schon einige Male. Auch hier frage ich mich, welche Funktion dieser Sprachwechsel eigentlich hat.
Re: abstractus a rebus gerendis
Γραικίσκος schrieb am 15.06.2017 um 13:33 Uhr (Zitieren)
Nun ja, die knappe und harte Formulierung wäre wohl ein einfaches vixi gewesen.

Durch das Reduplikationsperfekt entsteht ein doppelter Lippensprenglaut; das empfinde ich als hart, wie wenn jemand etwas ihm Unangenehmes verächtlich wegschieben wollte. Gleichsam: Bäh!

Das damit verbundene "code-switching" (das übrigens selber ein code-switching ist, nicht wahr?) habe ich mir hier so erklärt, daß die griechische Sprache ihm diesen Klang (s.o.) zur Verfügung stellt.
Warum flechten wir allerorten englische Begriffe ein?
Möglicherweise dient auch der unpersönliche Ausdruck der Distanzierung von etwas Widerwärtigem.

"vixi" erweckt bei mir eine andere Assoziation ("Wer hat Angst vor Virginia Woolf?"), wofür aber weder die lateinische Sprache noch Cicero etwas kann.
Re: abstractus a rebus gerendis
filix schrieb am 15.06.2017 um 20:36 Uhr (Zitieren)
Es gibt in der Literatur noch ein Beispiel für die Verwendung dieses Ausdrucks, der etwas Formelhaftes hat und an all die Euphemismen erinnert, die Tod und Sterben nicht beim Namen nennen wollen, wie das lat. vixit für mortuus est.

Seneca schildert in einem Brief (XII), der anfangs gleichfalls um die Widrigkeiten des Alters (und seine wenigen Freuden, die vor allem im Nachlassen der Begierden gründen) kreist, dann aber in die übliche Aufforderung an alle Sterblichen, das endliche, vom Tode umstellte Leben zu intensivieren, das gleichsam im Tag als seiner kleinsten Einheit zwischen Anfang und Ende abgebildet wird, folgende Szene:

Itaque sic ordinandus est dies omnis tamquam cogat agmen et consummet atque expleat vitam. Pacuvius, qui Syriam usu suam fecit, cum vino et illis funebribus epulis sibi parentaverat, sic in cubiculum ferebatur a cena ut inter plausus exoletorum hoc ad symphoniam caneretur: βεβίωται, βεβίωται. Nullo non se die extulit. Hoc quod ille ex mala conscientia faciebat nos ex bona faciamus, et in somnum ituri laeti hilaresque dicamus: vixi et quem dederat cursum fortuna peregi.

Daher soll man über den gesamten Tag so verfügen, als halte er gleichsam die Marschkolonne am Ende zusammen und erschöpfe und erfülle das Leben.
Pacuvius, der sein Syrien privat in Beschlag nahm, wurde, immer wenn er mit Wein und jenem wohlbekannten Leichenschmaus sich selbst das Totenopfer dargebracht hatte, so in sein Schlafgemach getragen, dass unter dem Geklatsche seiner Lustknaben bei Musikbegleitung gesungen wurde: βεβίωται, βεβίωται (Man hat gelebt). Kein Tag verging, an dem er sich nicht so bestatten ließ. Was jener aus schlechtem Gewissen tat, wollen wir guten Gewissens tun und, ehe wir zu Bett gehen, froh und heiter sagen: Ich habe gelebt und die Bahn, die Fortuna mir bestimmte, vollendet.



Für mich verstärkt das den Eindruck, dass es sich um (den Teil) eine(r) verbreiteten Formel aus der Sphäre der Todesanzeigen, die sich auf verschiedene Weise spielerisch kontextualisieren lässt, handelt, welche Cicero nutzt, nicht um die Bitterkeit über das abgelebte Leben in Worte zu fassen, sondern um auszudrücken, dass er mit all den im Brief zuvor behandelten Dingen (d.h. dem politischen Chaos nach Cäsars Tod) in gewisser Weise aus Altersgründen fertig ist ("Ich rege mich zu viel auf. Ich bin raus") und es jetzt an den Jungen ist, zu sehen, wie es weitergehen soll, und Verantwortung zu übernehmen. Überhaupt wirkt der Brief bisweilen wie ein, um die Sprache des Internets zu bemühen, altersmürrischer rant, launige Selbstermahnung mit Blick aufs eigene Werk inklusive.
Re: abstractus a rebus gerendis
filix schrieb am 15.06.2017 um 20:38 Uhr (Zitieren)
... aber in die übliche Aufforderung an alle Sterblichen mündet ...
Re: abstractus a rebus gerendis
filix schrieb am 16.06.2017 um 12:39 Uhr (Zitieren)
Wie ist eigentlich das mihi grammatisch einzuordnen ? Ergänzt es βεβίωται zum Pendant von βεβίωται εμοί über die Sprachgrenzen hinweg, oder soll man eher "mihi quidem (für mich gilt freilich): βεβίωται" lesen? (Loeb vortiert offensichtlich für erstere: "But I have had my time.", Tusculum für beide Möglichkeiten: "Aber was mich angeht - mein Leben liegt hinter mir.")
Re: abstractus a rebus gerendis
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2017 um 12:41 Uhr (Zitieren)
βεβίωται, so habe ich jetzt von einem Freund erfahren, war in der Antike eine von Epikur her geläufige Formel.
D.h. Cicero zitiert.

Ich muß das allerdings noch bei Epikur verifizieren.
Re: abstractus a rebus gerendis
filix schrieb am 16.06.2017 um 13:12 Uhr (Zitieren)
Apropos Zitat - Senecas Zusammenfassung der aus der Episode gewonnenen Maxime vixi et quem ... stammt aus Vergil Aen. 4, 653, wo sie ja eigentlich wenig erfreuter Ausdruck der Abfindung mit eigenen Schicksal ist, spricht sie doch die unglückliche Dido. Überdies muss es natürlich heißen:
Daher soll man über jeden den gesamten Tag so verfügen, ...

Re: abstractus a rebus gerendis
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2017 um 13:41 Uhr (Zitieren)
Danke für den Hinweis auf Seneca.
Der zitiert den genannten Vergil-Vers übrigens auch in "De vita beata" XIX.
Re: abstractus a rebus gerendis
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2017 um 14:55 Uhr (Zitieren)
In Att. XII 2,2 verwendet Cicero das βεβίωται in gleicher und damit nun eindeutiger Weise.
Re: abstractus a rebus gerendis
Φιλομαθής schrieb am 16.06.2017 um 15:09 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικίσκος am 16.6.17, 12:41βεβίωται, so habe ich jetzt von einem Freund erfahren, war in der Antike eine von Epikur her geläufige Formel. D.h. Cicero zitiert. Ich muß das allerdings noch bei Epikur verifizieren.

Ein positives Ergebnis würde mich überraschen. Denn, wie oben bereits angedeutet, ist ein unpersönliches Passiv im Griechischen eine eher seltene Erscheinung. Ein echtes unpersönliches Passiv (also eines ohne Agens, wie in dem Seneca-Zitat) kommt lt. Bornemann-Risch (§ 205, 4) bei intransitiven Verben im Griechischen überhaupt nicht vor. Daher halte ich es auch für wahrscheinlicher, dass der Dativ im Cicero-Brief (ebenso Att. 12, 2, 2) ein dat. auctoris ist.
Re: abstractus a rebus gerendis
Γραικίσκος schrieb am 16.06.2017 um 15:44 Uhr (Zitieren)
Da maße ich mir kein Urteil an. Aber der LSJ schreibt s.v. βιόω:
impers., βεβίωται [μοι] I have lived, Lat. vixi, Cic. Att 12.2.2, 14.21.3

Wobei ich es seltsam finde, daß er es einerseits unpersönlich nennt und andererseits ein μοι ergänzt.
Daß es selten ist, bestreitet er damit natürlich keinesfalls.

Der von mir angesprochene Freund hat seine Angabe übrigens wieder zurückgezogen und damit Dich bestätigt.
Re: abstractus a rebus gerendis
filix schrieb am 16.06.2017 um 16:24 Uhr (Zitieren)
In Att. 12, 2 hat es den Sinn, in dem es Pacuvius, der in den Worten Ciceros auch als homo non recta sed voluntaria quaerens gelten kann, bei Seneca gebraucht. Es hieße in der Ausgangsstelle also auch in etwa "Ich hab's ausgekostet", mit deutlich positiverem Touch als ursprünglich vermutet.

Shackleton-Bailey ahmt das code-switching übrigens in seiner Übersetzung von Att. 12, 2 kurioserweise nach, indem er ins Lateinische wechselt: If one comes down to it, can't he say, as a man seeking pleasure not virtue, vixi?"
Womöglich wurde aber bei vixi der euphemisitische Charakter im Lat. stärker empfunden und es deshalb gemieden. Mit vixerunt soll Cicero ja den Vollzug der Hinrichtung der catilinarischen Verschwörer verkündet haben (übersetzt man die Schilderung von Plutarch zurück) und auch Dido meinte dann eigentlich weitaus passender zur Gefühlslage von Aen. 4, 653: "vixi" - "Ich bin tot/erledigt ...". (In Italien wird angeblich die 17 = XVII, das als Anagramm von VIXI aufgefasst werden kann, bis heute als Unglückszahl betrachtet)
Re: abstractus a rebus gerendis
Φιλομαθής schrieb am 16.06.2017 um 17:46 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικίσκος am 16.6.17, 15:44Aber der LSJ schreibt s.v. βιόω: impers., βεβίωται [μοι] I have lived, Lat. vixi, Cic. Att 12.2.2, 14.21.3

Es fällt auf, dass kein griechischer Autor angeführt wird, sondern nur die beiden Stellen aus den Atticus-Briefen.

Zitat von Γραικίσκος am 16.6.17, 15:44Wobei ich es seltsam finde, daß er es einerseits unpersönlich nennt und andererseits ein μοι ergänzt.

Rein syntaktisch betrachtet ist die Verwendung des Wortes hier unpersönlich, da das Subjekt fehlt.

Zitat von filix am 16.6.17, 16:24Womöglich wurde aber bei vixi der euphemisitische Charakter im Lat. stärker empfunden und es deshalb gemieden.

Allerdings nicht vollständig. Cicero etwa beschließt seine erste Philippica mit den Worten: Mihe fere satis est, quod vixi, vel ad aetatem vel ad gloriam.
Re: abstractus a rebus gerendis
Φιλομαθής schrieb am 16.06.2017 um 17:49 Uhr (Zitieren)
Mihe -> Mihi
 
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